Verdun.
Von Jakob Altmaier. (A. Wochenbl. d. „F. Z.".)
Metz sind wir im Auto über Mars-la-Tour und Gravelotte gefahren. Vorbei an kleinen Militärfriedhöfen und verwitterten alten Kreuzen; an saftig grünen Wiesen, auf denen das Vieh weidet, über Mulden und Höhen, die so aussehen, als hätte sie die Natur eigens zu Exerzierplätzen und Kavalleriefechtböden geschaffen. 1870 liegt weit zurück. Das kleine Dorfmuseum mit seinen Uniformen, Fahnen und vergilbten Blättern ist eine stickige, muffige Kriegsspielschachtel. Im Weiterfahren stellt man Vergleiche an zwischen Einst und Jetzt, zwischen Zündnadelgewehr und Gasgranaten. Ehe man noch zu Ende ist zeigen sich neugewalzte Landstraßen, junge Häuser, neugedeckte Dächer, blanke Wände: Verdun! Da liegt es, neu und sauber. Von beiden Seiten drängen die Häuser dicht an den Fluß und sehen ihm zu, wie er sich elegant durchschlängelt. Hie und da ist noch ein leeres Loch in den Straßenfronten. Es wird noch gebaut. Drüben ist eine Kalkgrube. Maurer und Zimmerleute turnen in leeren Fensterhöhlen. Alles ist neu: die Balken, die Ziegel, die Türme, die Tore, die Schaufenster, die Auslagen; Sand- und Steinhaufen säumen die Bürgersteige. Neue Hotels, neue Restaurants, wie in einem erst jüngst entdeckten, mit viel Kapital ausgepumpten Badeort. Es riecht nach frischen Aktien und guter Butter.
Der Weg zu den Festungswällen. Auf dem Fahrdamm hat der Regen die ausgefüllten Granatlöcher neu ausgehöhlt. Die grauen Mauern tragen weiße Zementplomben. Teils kleine, teils sehr große. Verwischte Geschoßeinschläge. In den Kasematten führt uns ein Soldat die wassertropfenden Wände entlang. Erklärt, zeigt die Einrichtungen dieser unterirdischen Kriegsstadt, die ehemaligen Ilnterkunftsräume der Regimenter, die Offiziersmesse mit den Fahnen der Alliierten, die Kapelle, vor deren Altar die acht Särge standen und aus deren Mitte der unbekannte Soldat zur Reise nach Paris gewählt wurde.
Kurz hinter Verdun beginnen die Schlachtfelder. Es ist Frühling. Die Natur deckt die Erde mit einem grünen Tuch. Priemeln schießen saftig in die Höhe und wackeln im Winde. Diese Schlüsselblumen sind viel voller und größer denn anderswo. Sie haben guten Boden. Nimmer kann jedoch dieser Grasteppich die Wüste verhüllen. So weit das Auge blickt, über Täler und Höhen, wohin wir auch kommen: ein Granatloch neben dem andern. Die weite Erde gleicht einem Schwamm, in dem Pore an Pore sitzt. Loch an Loch; vom kleinen Granateinschlag bis zum Minentrichter von sechzig Meter Durchmesser und dreißig Meter Tiefe. In jedem Loch steht Wasser und aus jedem Wasser ragt Schilf. Die Erde ist um- und umgepflügt. Wievielmal? Millionen von Granatlöchern. Nirgends eine Bergspitze, nirgends ein scharfer Kamm. Die sind abgeschossen. Die ganze Industrie Europas, von Amerika, von Asien, von Australien hat monate- und monatelang für dieses Zerstörungswerk gearbeitet. Hier sind die Kriegsanleihen verpulvert und verschossen, hier ist der Reichtum von Nationen in die Erde gemahlen worden. Wo sind die Felsen, wo sind die Wälder? Wo sind die Felder, wo die Weiden, wo die Wiesen? Alles zerfetzt, verbrannt, begraben. Wir stehen auf dem schauerlichsten Friedhof der Welt. Hier ist die Sintflut. Wo ist das Dorf Fleurh, wo ist das Dorf Douau- mont, wo ist das Dort Vaux? Wo ist Avocourt, Moulainville, Samogneur, Bezonvaux, Ornes, Damloup, Eix, Bras, Beaumont, wo ist das Dorf Vaux. Wo ist Avocourt, Moulainville, chen, ihre Straßen, ihre Häuser, ihre Scheunen, ihr Vieh, ihre Kinder, ihre Menschen? Wo sind die Gutshöfe, die Ernten?
Der Wind bläst darüber hin, als hätte er alles, alles -fort
geweht. Kein Grenzstein zeigt mehr eine Gemarkung. Kein Brunnen, keine Mauer, kein Balken, nichts als Sand, Sand!
Neue Landstraßen ziehen widerlich schöne Runen durch diese Wüste und erhöhen die Schauer und die Tiefe des Leids. Das kriecht wie Schlangen aus jedem Loch. Aus jeder Pore züngelt die grausame Verlassenheit dieser Stätten und ringelt in der Luft. Leere und Einsamkeit nebeln wie graues Glas, das sich wolkengleich auf- und abschaukelt. Es ist, als gäbe es keine Sonne, keinen Himmel, kein Blau. Grab ist alles; endloses, geöffnetes Grab.
Jede Handbreit Boden ist mit Eisen gedüngt. Rostiger Stacheldraht sät Fußangeln. Tausende von Blindgängern, teils mit Gift gefüllt, liegen versteckt, immer noch heimtückisch wartend, ob nicht eine unvorsichtige Pflugschar sie zum Leben erwecken möchte. Schwarzverkohlte Baumstümpfe markieren den Umriß ehemaliger Waldgebiete. Zwischen diesen Marterpfählen stolzer Forsten hüpft junges, wildgewachsenes Reis. Zähgrün schießen die Stämmchen in die Höhe und ahnen nicht ihr trauriges Dasein in der Wüste. Kein Korbmacher will sie schneiden, kein Kind will sich ein Rohr schnitzen oder eine Pfeife. Diese Baumreifer sind wie kleine munter tanzende Waisen. Sie wissen noch nichts von der Schwere ihres Geschickes, und nur dem Zuschauer wird.s traurig zumute.
Wir fahren zum Fort Douaumont hiauf. An Unterständen vorbei, die sich gehalten haben. Wie schwarze, stumme Löcher starren ihre Eingänge ins Freie, gleich leeren Augenhöhlen, in denen kein Licht mehr ist und keine Träne. Eingefallene Unterstände kommen. Leere Rachen, denen die Kehle ausgebohrt ist samt dem Schlund. Sie lassen sich in den Bauch sehen; doch es ist kein Eingeweide da. Das Herz ist ausgebrannt; keine Ader, und das Blut ist ausgedörrt. Oben auf Douaumont ist Betrieb. Besucher, Soldaten, Mönche. Maurer und Schreiner. Auch hier steht ein Denkmal wie soviele im Umkreis. Sie beleidigen keinen ehemaligen Gegner, doch sie stören die Ruhe des Grabes, sie verschandeln die Allmacht dieser Stätten und sind wie Inschriften, läppisch gekritzelt in das Jahrhundert eines Baumes. Drüben läßt ein Amerikaner eine gedeckte Säulenhalle bauen, mit einem großen schmiedeeisernen Tor und einer zementierten Zugangsstraße. Diese lange Halle überdacht den „Bajonettgraben". Bauern aus der Vendee und Fischer aus der Bretagne ruhen darunter. Im 137. französischen Linienregiment hatte man sie eingekleidet, bei Douaumont mußten sie einen Graben verteidigen. Mit aufgepflanztem Seitengewehr erwarteten sie den deutschen Sturmangriff, mitten im Regen der Granaten. Es gab kein Vorwärts und gab kein Zurück. Und also starben sie, die Bauern aus der Vendöe und die Fischer aus der Bretagne, lebendig zerrissen und verschüttet von den über sie gespienen Eisen- und Erdmassen. Nichts ist von diesen Menschen über der Erde geblieben als die Spitzen ihrer Bajonette. Die ragen heute noch. Eine lange, lange Reihe. An ihrer Stellung sind die letzten Sekunden der Verschütteten abzulesen. Bald ein einzelnes Bajonett, bald drei in gleichem Abstand; dort wieder drei und vier Seitengewehre dicht aneinandergeschmiegt, in der Angst, im Schrecken und in der Todesqual. Jetzt gießen die Maurer Zement und schaffen an der Straße. Kein Arbeiter spricht eine Silbe, kein Speiß- träger Pfeift ein Lied. Arme tote Bauern und Fischer, von einem amerikanischen Schatzgräber oder gar Kriegslieseranten gefangen und in Heldenfett gesetzt.
Uebers ^ahr wird vielleicht das Mausoleum auf Doumont fertig fein. Ein Riesenbau ist im Werden. In ganz Frankreich wird für ihn gesammelt. Vom Kreuzturm herab wird es eine Vogelschau über das weite Land geben, und allabendlich soll ein Totenlicht angezündet werden, leuchtend über die grausigen Täler und Höhen. Wahrlich, es muß eine große Totenlampe
sein -so groß, iene Nacht zu durchdringen und die hier, auf 30—40 Quadratkilometer Boden blühender Menschen unschuldig geschlachtet hat vierv»«^ send Franzosen, sechshunderttausend Deutsche-'ax,Ä^ttU rissen und begraben. Was wollen dagegen dw zewiE.Ä ^ Hofe mit ihren je zwanzig-, dreißig- oder gar vD.^ weißen Kreuzen, die von der Höhe aussehen als unten Massenübungen weißgekleideter Turner? «,-2 d«n die Notkapelle aus Brettern? Zwei Kanonen halten ^ ^
gang überflüssige Wacht. Drinnen ein schmaür
^?ni Eiii- zu«
Altar. Links und rechts aber, in Reihen aufeinander^' große weiße Sarge, imt weißen Tüchern bedeckt mit Goldbuchstaben: „Gesammelt im Sektor so und^^ ge>ammelt? Schädel und Knochen! Eine Million chen wieviel Särge? Blumen Haufen sich auf den Len Wanden Photographien von Gefallenen. AngehÄ!-^" sie dort befestigt. lM
Wie draußen, so auch in der Kapelle: Ruhe und - Das droht die Wände zu sprengen. Welches Recht zu leben und nicht mit ihnen zu liegen, in den w?An^'' Mit ihnen, die ebenso mpchuldig waren wie wir alle d,» - so gelitten haben und noch mehr, die nicht mehr heimkam-» , die doch ein gutes Stück von uns selbst bekommen und Ä haben? Wir schleichen hinaus. Wir sind nicht froh " ^
bläst und bläßt der Kirchhofswind und läßt die Gräser 5° über eine Million toter Söhne, Väter und Brüder S«?? so lebendig ist, daß man das Getöse der Schlacht hört N «chlachtens, das Krachen und Krachen, das Rattern uA len, das schreien der Verwundeten, das Sterben der MmL der Tiere, der Dörfer und der Wälder. „Am Toten Man^ werten wir einen Schützengraben und säuberten einige Ber Douaumont leichtes Vorpostengeplänkel. Fort Va,> einige Stunden in unserem Feuer..." ^ ^
Man sieht es jetzt noch. Es gab Tage, die einzelnen b->,- breiten stellen achttausend Granaten brachten. In den matten ist alles wieder in Ordnung. Ein Soldat führt m- hinem. Manchmal war die eine Hälfte der Gänge von 2 ,chen besetzt, die andere von Franzosen. Nur durch SanM voneinander getrennt, lagen sich tagelang die verschiede« Uniformen gegenüber und bombardierten sich mit Handgram ten- Alleen hungernd, verdurstend und abgeschnitten von di, Welt, denn draußen regnete es Feuer, Eisen und Gas , -Wir sind wieder in der Fumin-Schlucht. Wieder m Merk. Drüben rst der Waux-Teich. Dort ist der Chapit» Wald. Hier gab uns am Nachmittag vor dem Sturm Leut« Matzke, der Kompagnieführer, zum Abschied die Hand T« Tod war schon zwölf Stunden vorher auf seinem Gesicht« schrieben. Er wußte alles. Hier haben wir gestürmt Oi zerriß die Handgranate den Leutnant. Dort hat Las Mas» nengcwehr aus dem feindlichen Graben gemäht, hier sind äi Fünf aus der einen Korporalschaft gefallen, hier hat Lechml Link seinen Bauchschuß bekommen, hier... und hier und dort Wir sind wieder am Fort Vaux. Der Soldat meint: le- ^Ilemsncls ou les kftaneais, c'ötait toujoursla möme cliose!' Einer wie der andere. Ein Leid so groß wie das andere. Ai der Mauer des Forts hängen Bilder und Inschriften, wie in ki Grabkapelle. Es ist, als sei hier die Klagemauer Europas Eine Mutter hat einen schwarzgerahmten Spruch unter Glas angebracht:
^ mon kils!
Oepuis gue tes ^eux scmt kermes, les miens n'ont cesse cle pieures.
Meinem Sohn!
Seit Deine Augen sich geschlossen haben, haben die meinen nicht aufgehört zu weinen.
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