268
v. Pischek bei der Generaldebatte über den Etat in dieser Hinsicht erklärt, daß, solange unter den landwirtschaftlichen Bezirksvereinen Uneinigkeit herrsche und die Mehrheit derselben sich für die Beibehaltung des jetzigen Zustandes ausspreche, an die Schaffung von Kammern nicht gegangen werden könne. Heute betonte nun Haug als Berichterstatter die Notwendigkeit der Schaffung einer aus der Wahl der Landwirte hervorgegengenen auf breiterer Grundlage aufgebauten Vertretung für die Landwirtschaft. Ließ Haug so die Frage, ob eine Kammer sür das ganze Land oder 4 Kammern d. h. je eine für jeden Kreis geschaffen werden sollen, unentschieden, so zeigten sich doch alsbald bei den folgenden Rednern die weitgehenden Meinungsverschiedenheiten hierüber. Die einen, vertreten hauptsächlich durch den Abg. Bantleon (D. P.), traten für eine Kammer ein, die anderen, namentlich die Vertreter des Zentrums, darunter auch der Abg. Gröber, verlangten vier Kammern; eine weitere Gruppe sprach sich weder für eine noch für 4 Kammern aus und wünschte im Einvernehmen mit der Regierung nur eine Vermehrung des Beirats der Zentralstelle für die Landwirtschaft. Vogt und Hildenbrand endlich forderten zwar eine Vertretung der Landwirtschaft, legten aber auf die Art ihrer Organisation weniger Wert. Minister v. Pischek betonte heute, die Regierung habe gar kein Interesse daran, die Organisation der Landwirtschaft ans die lange Bank zu schieben; sie werde, sobald einige Aussicht auf Erfolg bestehe, einen Entwurf vorlegen. Bemerkenswert war auch das Verlangen, daß dem durch die große Zahl der Urglücksfälle hervorgerufenen stetigen Wachsen der Beiträge für landwirtschaftliche Unfallversicherung Einhalt getan werde. Es wurden hiefür mehrere Vorschläge gemacht, u. a. geringe Verletzungen weniger zu berücksichtigen, die Beiträge zu den Reservefonds aufhören zu lassen und in der Auszahlung von Renten vorsichtiger zu sein. In letzter Hinsicht erzählte Gebert unter schallender Heiterkeit des Hauses einen Fall, wo eine Witwe einem Bauern einen Hosenknopf angenäht, sich dabei gestochen und eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Gebert meinte, das Hosen- knopfanliähen gehöre doch nicht zur Landwirtschaft. Minister v. Pischek meinte, daß diesem Wachsen der Beiträge nur durch Abänderung der Reichsgesetze entgegengetreten werden könne, was aber nicht angängig sei. Vogt verlangt die Berücksichtigung der Vertreter der Landwirtschaft wie der anderen Berufsstände bei der Verfassungsrevifion und führte die ablehnende Haltung der landwirtschaftlichen Bezirksvereine gegen die Einführung einer oder mehrerer Landwirtschaftskammern auf den Einfluß des jeweiligen Vorsitzenden zurück. Gröber und Freiherr v. Gaisberg - Helfenberg traten dafür ein, bei der Vernehmung von Gerichtssachverständigen in Fällen von Weinfälschungen nicht nur die chemische Analyse, sondern auch die Zuugenprobe sachverständiger Leute gelten zu lassen. Nach längerer Debatte wurde schließlich auch noch ein Antrag des Abg.
Sommer angenommen, die kgl. Regierung zu ersuchen, Staatsbeiträge zu den Kosten des Aufkaufs von männlichem Zuchtvieh außerhalb Württembergs auch an einzelne landwirtschaftliche Vereine und Zuchtgenoffenschaften und zwar ohne Beschränkung bezüglich der Stückzahl zu gewähren. Morgen Fortsetzung. Schluß gegen 8 Uhr. Erwähnenswert ist noch, daß im Landtag der Entwurf eines Gesetzes betr. die Gewährung eines Darlehens an Binsdorf zugegangen ist.
Stuttgart, 11. April. Eine Schiller- feter großen Stils werden die gesamten evang. Volksschulen der Stadt am Vormittag des 9. Mai in der städt. Gewerbehalle halten. Auch ist eine Huldigung der Schüler vor dem Schillerdenkmal geplant.
Stuttgart, 11. April. In den letzten Tagen war der geschäftsführende Vorsitzende des Deutschen Flottenvereins, Generalmajor z. D. Menges von Berlin hier, um mit dem gcschäftsführenden Ausschuß des Württ. Flotten- vereins dos Programm für die Hauptversammlung des Deutschen Flottenvereins, die vom 26. bis 29. Mai in Stuttgart tagen wird, festzustellen. Am vergangenen Montag nachmittag fand unter Leitung des Fürsten Karl von Urach, dem Vorsitzenden des Württ. Landesverbands, eine gemeinschaftliche Sitzung im Palais Urach statt. Die Einzelheiten des Programms werden demnächst bekannt gegeben werden. Geplant ist ein Festabend im großen Saal der Liederhalle am Samstag den 27. Mai, zu dem auch weitere Kreise Zutritt haben werden. Die Verhandlungen der Hauptversammlung werden am 27. und 28. Mai im Landesgewerbemuseum gehalten werden.
Stuttgart, 11. April. Eine stark besnchte Schneiderversammlung fand gestern Abend im Gewerkschoftshaus statt, um Stellung zu nehmen gegen das Geschäftsgebahren deS Hoflieferanten Herion. Der Referent kritisierte, daß Anzüge für Angehörige der höchsten Kreise, die ohne Zweif.l als Maßanzüge verkauft worden seien, konfektionsmäßig hergestellt werden zu Arbeitslöhnen, die nicht einmal die Hälfte der normalen Arbeitslöhne erreichen. Die Versammlung faßte den Beschluß: die bei der Firma Herion, Königin-Olga-Bau, beschäftigten Arbeiter, soweit sie organisiert sind, hoben die Arbeit niederzulegen. Die Firma wird für Verbands Mitglieder gesperrt und die Sperre so lange aufrecht erhalten, solange sich Herr Herion nicht unzweideutig verpflichtet, seine sämtlichen Arbeiter zum tarifmäßigen Wochenlohn zu beschäftigen. Mit dieser Maßnahme hofft man zu verhindern, daß Herion lediglich auf Kosten der Arbeiter und zum Schaden anderer reeller Geschäfte der Kundschaft billige Ware anpreisen und liefern kann. Der Versammlung wohnten auch Vertreter der Firma bei.
Stuttgart, 11. April. Eine Mittelmeerfahrt als Sommerfrische ist ein
lange verkannter Hochgenuß für alle, die den Schul-, Bureau- und Aktenstaub gründlich loswerden wollen. Manchen mochte der hohe Preis einer solchen bisher abhalten. Eine günstige Gelegenheit hiezu bietet sich in der von den Professoren Konrad Miller- Stuttgart und Lorenz-Neapel sür den kommenden August projektierten Mittelmeerreise nach Sizilien und Tunis. Ein Sonderzug soll die Teilnehmer am 1. August von Stuttgart nach Genua führen, von wo die 30tägige Seefahrt auf einem eigens gecharterten großen Dampfer angetreten wird. Heber Sardinien und Korsika mit mehrmaligem Anlegen gelangt man am 6. August nach Tunis und es sind 4 Tage für Karthago und die weitere Umgebung bestimmt. Die folgenden 15 Tage (10. bis 24. Aug.) werden Sizilien gewidmet (3 Tage für Palermo, 2 für Syrakus, 3 für den Aetna u.s. w.) Es werden olle wichtigeren Plätze besucht (wie Segesta, Marsala, Girgenti, Solinunt, Taormina, Messina u. s. w ) Der Rest des August wird für Unteritalien verwendet (Liparische Inseln, Pästum, Salerno, Amalfi, Copri, Pompeji, Vesuv, Neapel). Wer will, kann auch 2—4 Tage in Rom Aufenthalt nehmen. Am 1. Sept. wird wieder Genua und am 2. Stuttgart mit Sonderzug erreicht. Die Kosten der ganzen Reise wit allen Fahrten, voller Verpflegung, Trinkgeldern und Führung betragen von 340 ^ (III. Kl.) biS 620 ^ (I. Kl.).
Untertürkheim, II.April. Gestern Abend versau melten sich hier die bürgerlichen Kolle- gie n von Groß Stuttgart und Untertürkheim, um die Vollziehung der Eingemeindung durch einen festlichen Akt zu begehen; etwa 150 geladene Gäste fanden sich hiezu im Kronensaale ein. Die Kosten des Festessens wurden von der Stcdt übernommen.
Seebronn, 10. April. Viel belacht wird die Schlauheit einer hies. SteinhauerSfrau. Derselben war von einem künftigen Verwandten der Kopf gründlich gewaschen worden; um im Ort wieder rehabiliert dazustehen, verfaßte sie eine Abbitte ihres Gegners und ließ dieselbe in der Zeitung abdrucken. Der Betroffene war aber anderer Ansicht und zeigte die Urkundenfälschung an.
Marbach, 11. April. Die Stadtverwaltung und der Schilleiverein haben beschlossen, zum ehrenden Gedächtnis an den um das Schillermuseum hochverdienten früheren Stadtschultheißen Haffner ein Porträt desselben für das Schillermuseum zu stiften. Mit der Ausführung des Bildes ist der Maler Paul Huber in Stuttgart beauftragt worden.
Tübingen, 11. April. Heute ist auf der sogen. „Insel" das 3jährige Bübchen des Wagen- Wärters Schick, welches ohne Aufsicht sich vor dem Haus umhertrieb, in einen unverwahrten Abzugsgraben der Rrparaturwerkstätte des Bahnhofs geraten und im Schlamm erstickt.
Reutlingen, 10. April. Die hiesigen Bau- und Möbelschreiner find in eine Lohnbewegung eingetreten. Sie haben von
ich kau» ei Dir heute nicht sagen, aber Du sollst Alles mündlich erfahren. In drei Tagen ist Hochzeit, dann reisen wir rach Deutschland. Wadkowski hat Urlaub auf ei» Jahr, und ich bin froh, daß er so ollen häßlichen und gefährlichen Verwickelungen entgeht. Natürlich kommen wir zuerst nach Smolenik und nehmen Dich mit. Du Aermste, Dich und Dein Kmd, das ist beschlossene Sache. Also halt« nur ein Kleines noch aus und rüste Dich auch zum Ausbruch. Du bist es Dir selbst schuldig. Warum kannst Du nicht zu meinem Ehrentag« hier sein? Ich meine, eS könnte noch Alles wieder gut werden. Aber auch so soll Dein Leid enden. Auf Deinen abscheulichen Mann Haft Du keine Rücksicht mehr zu nehmen. Warum kümmert er sich incht um Dich und was hast Du sonst von ihm zu hoffen? Ich lege Dir meine letzten Ersparnisse bei, dreihundert Rubel find nicht viel, aber sie werden hinreichen einstweilen für dos Nötigst-. Auf frohes Wiedersehen! Deine glückliche Tatiana. Tausend Kliffe noch Deiner kleinen Annuschka."
Das war der Brief. Jetzt verstand ich die Bestürzung der Frau Werotschka und ihres würdigen Gatten. Natürlich, mit der Ankunft Tatiava'S mußte das ganze Gewebe von Gaunerei und Betrug zu Tage kommen. Deshalb also sollte Frau Nadjeschda fort, im Guten oder im Bösen, hier mußte rasch gehavd lt werden.
Der Gesang im Nebenzimmer hatte inzwischen geendet und der Pope vollzog soeben die Einsegnung. Dann stand die Fortschvffung der Leiche bevor.
Ich drängte mich vorsichtig und langsam durch die Gruppen bis in di« Mitte des Zimmers.
Frau Nadjeschda lehnte noch an dem Tische über den Sarg gebeugt und ihr Antlitz auf den kleinen Liebling gepreßt, wie vorher. Die Lichter brannten, die Tannen und Blumen dufteten und manches Auge dieser wildfremden Menschen stand voll Tränen. Die kleine wachsgelbe Leiche schlief unter den Papierspitzen
und Blumen und dir eiskalten, abgezehrten Händchen fühlten nicht de» letzten Kuß der Mutter.
Wieder trat Frau Werotschka zu der halb Bewußtlosen und überhäufte sie mit den süßesten Schmeichelnamen, mit tausend Versicherungen ihrer Zärtlichkeit, Unterwürfigkeit und Verehrung.
Nadjeschda blieb bewegungslos, unzugänglich allen Worten, ließ es aber auch willenlos geschehen, daß man sie nach ewigen Minuten sanft erhob und zum Sopha führte, wo sie niedergelassm wurde.
Als aber die Leichenträger nun den Sarg schloffen und aufhoben, um ihn hinwegzutragen, da schrie sie laut auf wie eine Löwin, der man ihr Junges raubt, erhob sich und trat einen Schritt ouf die Träger zu, als wenn sie ihnen die geliebte Last entreißen wollte. Dann wandte sie sich schluchzend ab und sank auf dem Fenstertritt, wo der Nähtisch stand, zusammen.
Draußen war cs mittlerweile wieder laut geworden und mit jeder Minute wuchs der Tumult von Neuem. Man hörte die Stimme deS ungläubigen RaSkolnike» von Fischhändler, der sich gegen einige Zurechtweisungen von Alt. russen verteidigte, weil er nicht in üblicher Weise das Kreuz geschlagen. Dazwischen mengte sich der freigeisterische Friseur, der atheistische Spöttereien zum Besten gab, so daß sämtliche Altgläubige über den gottlosen Franzosen herfielen. Wieder ließ sich daS Klirren von Gläsern und Tellern vernehmen.
Die bedrohlichen Anzeichen scheuchten Frau Werotschka auf, di«, besorgt um ihr zusammengeborgtes Geschirr, hinauseilte. Sofort folgten ihr die Träger mit dem Sarge und, wie auf Kommando, alle anderen.
Bevor noch eine Minute vergangen war. befand ich mich wieder allein mit Frau Nadjeschda, die noch halb ohnmächtig auf dem Fenstertritt saß, mit beide» Händen das Gesicht verhüllend. (Fortsetzung folgt.)