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Gesichtspunkte in das gesamte bürgerliche und nationale Leben, andererseits die Sozialdemokratie mit ihrem internationalen und revolutionären Treiben. Aber auch die konservative Partei vertritt mehr und mehr wirtschaftliche Interessen in ein­seitiger Weise im Verein mit dem Bund der Land­wirte. Aus dieser trostlosen politischen Lage kann uns nur retten ein wahrhaft nationaler und sozialer Liberalismus. Leider ist der Liberalismus zur Zeit durch seine Zerspaltung zur Ohnmacht verurteilt. Besonders bedauerlich ist die Haltung der links­liberalen Partei in nationalen Fragen. Pflicht eines jeden denkenden Bürgers ist es, sich am po'it. Leben zu beteiligen. Der zu gründende Verein will die Jugend sammeln, ihre Lässigkeit gegenüber den Aufgaben des polit. Lebens bekämpfen und sie heran­ziehen zu praktischer Mitarbeit im Sinne einer wahrhaft nationalen, liberalen und sozialen Politik. Die jungliberale Bewegung hat schon breiten Boden gefaßt; sie hat sich geeinigt in einem Reichsverband, der dem Organismus der nat.-Iiberalen Partei bei­getreten ist. Im wesentlichen stehen die Jungliberalen mit ihrem Programm auf dem Boden der nat.-liberalen Partei, sich jedoch in einzelnen Fragen, z. B. in der Schulfrage, ihre Freiheit vorbehaltend. Die junge Partei will eintreten für alle nationalen Forde­rungen, ein starkes Heer und eine starke Flotte mit Beseitigung aller Mißstände, für eine zeitgemäße Reichsfinanzreform, für eine gerechte Steuerpolitik, für eine Betriebsmittelgemeinschaft im Eisenbahn­wesen und deren Weiterführung zu Reichseisenbahnen, für eine vernünftige Mittelstandspolitik, für weiteren Ausbau der sozialen Gesetzgebung, für Erhaltung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts; sie will stets das Ganze im Auge behalten und gleichzeitig eintreten für das Interesse aller Stände. Sie wendet sich daher auch an alle Berufsarten ohne Unterschied der Konfession und will alle ihre Kräfte einsetzen zum Ausbau deS deutschen Reichs in dem Sinne, daß alle Schichten der Bevölkerung sich wohnlich darin fühlen können. Bei der sich anschließenden Diskussion stimmt Hr. Postasfistent Kauffmann den Ausführungen des Referenten im allgemeinen zu, hat jedoch Bedenken gegen den Anschluß an die nat.-liberale Partei und hätte eine Vereinigung mit Einschluß der Sozialdemokratie gewünscht. In letzterer Beziehung entgegnet Hr. Struwe, daß die Sozialdemokratie willkommen sei, wenn sie gewillt ist, mit uns praktische Politik zu treiben, daß es aber damit noch gute Wige hat, solange sie sich als Todfeindin der bürgerl. Gesell­schaft erklärt. Hr. Kaufm. Stübler aus Stutt­gart begründet den Anschluß an die nat.-liberale Partei, die im deutschen Volke tiefe Wurzeln gefaßt hat, was di« letzte Reichstagswahl bewies, bei der sie 1300 000 Stimmen in sich vereinigte. Handels­schüler Schmid, als Vertreter deS deutschnationalen Handelsgehilfenvereins, führt ans, daß der Kanf- mannSstand sein Heil nur finde im Anschluß an die nationalen und liberalen Gedanken. Hieraus

wurde die Gründung des Vereins mit 40 Mit­gliedern vollzogen. Er wird sich. an den Reichs­verband der Vereine der nationolliberalen Jugend sowie an den Württemb. Landesverband anschließen. Mit einem von Oberbahnsekretär Westermayer ausgebrachten, begeistert aufgenommenen Hoch auf das deutsche und das engere Vaterland wurde die Versammlung geschlossen.

8.V. Calw, 12. Febr. Eine alte Wetter­regel sagt:Ist an Freitag mittag das Wetter schön, dann kannst du am Sonntag spazieren gehn". So dachten auch wir, als wir am Freitag bei schönstem Wetter dem Gesang der Vögel nach glaubte man sogar mitten im Frühling zu sein einen S ch w arzw aldausflug planten. Aber mit beharrlicher Unbeständigkeit waltet dieses Jahr Petrus seines Amtes als Wettermacher, und so beliebte er, auch uns gründlich seine Launen zu zeigen. Am Samstag hätte niemand Lust gehabt, einen größeren Spaziergang zu machen. Und voll­ends gar heute früh, als unsere ganze Landschaft in ein nagelneues Schneekleid gehüllt war, und ein lebhafter Nordwest soviel Flocke» herbeiführte, daß es nach 8 Uhr wieder begann dunkel zu werden: Da sank unsere Hoffnung wie das Minimumthermo- meter heute nacht auf 5 ° unter Null. Und doch kam es anders. Bei herrlichstem Sonnenschein stampften 29 in Calw jetzt wohnhafte Schwarz- waldvereinler vom Biühl an nach Hirsau und dann sogar 33 Mann hoch ins Schweinbachtal, das uns prächtige Partien einer Winterlandschaft vor Augen stellte. Eigentlich waren eS nicht so vieleMann", denn darunter befanden sich 42 "/« Damen, die sich während der gerade nicht immer bequemen Tour heldenhaft benommen haben. Den Lohn dafür ernteten aber alle Wanderer alsbald in dem Anblick des im Winter unbeschreiblich schönen Schweinbachtals. Einen angenehmen Abschluß bildete sodann die schneebedeckte Hochebene bei Alt­burg, die vom Abcndsonnenschein herrlich beleuchtet war. Vielleicht veranlaßt durch den Namen des Schweinbachs gings dann zu den berühmten Schweinsrippchen in den AltburgerHirsch". Dort entwickelte sich wie üblich unter manchen Gesängen, Reden und Deklamationen eine sehr fröhliche Unter­haltung. Hernach wurde zeitig der Heimweg an­getreten, und schon um 7 Uhr hatten wir, vielleicht zum Erstaunen mancher Calwer, wieder unsere Heimstätten froh und munter erreicht.

-r. Stammh eim, 13. Febr. Am gestrigen Sonntag wurde unsere neue Orgel eingewetht. Im Vormittagsgottesdienst übergab sie der Orts­geistliche mit feierlichen Worten ihrem geheiligten Dienst. In der liturgischen Feier, welche nach­mittags stattfand, brachte Hr. Oberlehrer Schäffer von Nagold durch meisterhaftes Spiel die ganze Fülle, Kraft und Schönheit des herrlichen Werkes zur Entfaltung. Besonders erhebend wurde die Feier durch die mit vielem Fle ß eingeübten, wirksam

sam vorgetragenen Gesänge des Kirchenchors. Die Orgel stammt aus der Werkstätte des Orgelbau­meisters Weigle in Echterdingen und ist nach sach­verständigem Urteil ein ganz ausgezeichnetes Werk mit wundervoller Intonation, worin ja F. Weigle bis jetzt unübertroffen ist.

Ulm, 11. Febr. Die hiesige Liedertafel zählt zur Zeit 1163 Mitglieder, worunter 93 aktive Mitglieder sind. Im Verlaufe des verflossenen Jahres veranstaltete die Gesellschaft 7 groß« Konzerte durch auswärtige Kräfte, mit einem Kostenaufwand von rund 7000 2 Konzerte mit einheimischen

Kräften und 5 Unterhaltungen im Gesellschaftsgarten. Der Gesamtumsatz der Gesellschaftskasse beziffert sich im Jahr 1904 auf 30500

Essen, 11. Febr. In einer gestern abend hier abgehaltenen Bergarbeiter-Versammlung gab Reichstagsabgeordneter Huö die Parole aus: Es wird weiter gestreikt, da verschiedene Zechen Berg­leute, die sich zur Arbeit meldeten, zurückwiesen. Die Siebener-Kommisston werde sofort zusammen­berufen werden,

Bochum, 11. Febr. Die heute Vormittag stattgehabte Sitzung der Siebener-Kommission beschloß, bei dem Beschluß der Delegirten-Konferenz die Arbeit wieder aufzunehmen, zu beharren. Wo Lohnreduktioncn und Maßregelungen stattfindcn, soll der Kommission sofort Bericht erstattet werden. Die Gemaßregelten sollen sich bei ihren Organisations- Vorständen melden, um Unterstützung zu erhalten. Die drei Regierungspräsidenten sind im Revier ein­getroffen, um bet der Regelung der Verhältnisse mitzuwirken. Unter den Bergleuten herrscht die größte Erregung, da von allen Seiten Maßregel­ungen von Bergarbeitern gemeldet werden. Es sollen schon 11000 Arbeiter aus den Belegschafts­listen gestrichen worden sein. Man sieht mit Sorge der nächsten Zukunft entgegen.

Wien, 11. Febr. Die Neue Freie Presse veröffentlicht ein Interview mit der Gräfin Montignoso. Diese erklärte. Alles was man von ihr erzähle sei erlogen. Hätte sie eine vor 10 Tagen gemachte Erklärung unterschriebe«, daß sie für den Fall des Wtedererscheinens in Sachsen eine Konventionalstrafe von 300 000 zu zahlen habe und daß sie auf das Staatsbürgerlich^in Sachsen verzichte, so wäre ihr die Erregung der letzten Tage erspart geblieben. Sie wolle nicht Verzicht leisten, da sie nichts zu bereuen habe. Sie wolle nur in Ruhe gelassen werden und wünsche nichts sehnlicher, als ihre Kinder zu sehen.

Brüssel, 12. Febr. Die Bergarbeiter- Partei richtet einen Aufruf an die Glasarbeiter, tu dem sie versprechen, die Arbeiter im Ausstande zu unterstütze«. Der Aufruf fordert ferner Verstaat­lichung der Kohlenzechen und bittet die Arbeiter, sich der sozialistischen Partei zwecks Erlangung völ­liger Freiheit anzuschltcßen.

Frankreich vor zehn Jahren mitgemacht und den ich seit den langen Jahren völlig aus dem Gesichte verloren, in seiner Heimat oufzusuchen. Uschakoff hatte auf Grund seiner Verwundung auf d-m Montmartre nach Ende des Krieges seinen Abschied genommen und sich auf seine Güter im Gouvernement Smolensk zu­rückgezogen, wo er ein glänzendes L-ben führen sollte.

Ich wußte, der alte Herr, der beiläufig um mehr als fünfundzwanzig Jahre älter war als ich, besaß eine schöne Frau, und wenn dem Gerücht zu glauben, waren seine beiden Töchter längst zu reizenden Damen erwachsen. Ein Fürst M., der ihn gelegenilich besucht, sprach von ihrer ungewöhnlichen Schön­heit und machte es dem alten Herrn zum Vo>rvu»f, daß er solche bezaubernde Wesen in der Wildnis der Wälder und Steppen verkommen ließ.

Näheres konnte ich bei der weilen Entfernung nicht erfahren, und so war die Kunde von dem glänzenden Glück Uschakoff« bereits zur Legende geworden. Im bunten Lagerleben deS Feldzugs freilich und zur Z it, als seine Töchter noch Kinder waren, hatte mich Wchokoff oit im Scherz seinen lieben Schn genannt. Jene Anspielung war mir unvergeßlich zeblieb-n, und seit ich von der seltenen Schönheit der Damen gehört, kam mir oft die Lust, mein altes V-rsprechen ein­zulösen und mein gutes Glück zu versuchen. Zwar gehörte ich nicht mehr zu den Jüngsten, aber ich hatte mit meinen fünfunddreißig Jahren bereits den Obersten­rang, und meine Sehnsucht, endlich meinen eigenen Herd zu gründen, war um so größer, als das einsame Novomirgorod mir nichts versprach, als die frag­würdige Gesellschaft meiner künftigen, mir noch unbekannten Kameraden. Mein Vorhaben schien auch vom Glück begünstigt zu sein. Die Reis« nach Süden ging über Moskau, wo ich mich in dienstlichen Angelegenheiten eine Woche aui- halten mußte. Von dort hoffte ich einen Abstecher nach UschakoffS Landgut in Stanitza Tarussa zu machen.

Aber gleich am ersten Tage, als ich einen Jewoschtschik genommen, um die erste Gulania der Moskauer (festliche Korsofahrt ins Frei«) anzusehen, über­holte ich auf der Twerskoja eine Telega, in der ich den alten Uschakoff erblickte. Ich rief ihn on, ober er erkannte mich zuerst nicht wehr, nahm mich dann aber sofort mit all«r Herzlichkeit auf. Seitdem blieben wir mehrere Tage unzertrenn­lich beisammen. Der alte Herr befand sich viermal allein in der Stadt, um allerhand Einkäufe zu machen, Bücher, Südfrüchte, Weine, Kleider und Anderes. So groß meine Freude oufänglich über das unverhoffte Wiedersehen, so peinlich war bald meine Enttäusck ung. Der alte Herr schien auffallend verändert gegen früher. Er war schwerdö'ig geworden und sehr gealtert, dabei aufbrausend und jähzornig, dann wieder stur d«> lang veischlossrn und tief in Gedanken versunken. E>n schweres Unglück schien auf ihm zu lasten. Daß er seine Frau schon vor Jahren verloren, »rluhr ich erst sitzt, aber das war überwunden. Bon etwaigen V-rmögensverlusten konnte bei seinen weitläufigen Besitzungen und der geordneten Verwaltung auch nicht die Rede sein.

Als ich gelegentlich bei einem Glase Champagner meine Absicht andeutete, noch Etoritzo Tarussa mit h'nauszufvhren, wurde er seltsam verlegen, und ein mrßtrouiichrr, arguöhnischir Blick bl tzte aus seinen hellblauen Augen unter den weißen, luschigen Augenbrauen herüber Dann suchte er nach Ausflüchten, als wenn er sitzt nicht auf Besuch eingerichtet sei.

Und als ich dies nicht gelten ließ, fuhr er auf:

Niisch'wo, Obust, losten wir'S für diesmal. Kannst glauben, eS hat ein Jeder ein Gespenst oder Skelet im letzten Winkel seines Hauses fitzen. DaS würde dir nicht gefallen. Sei froh, daß du keine Fomilre hast. Glück und Un­glück kommen anfangs leise, aber wo das Unglück einkehrt, da tritt^eS hart auf und bleibt und ißt sich satt." (Fortsetzung'folgt.)