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ZarSkoje-Selo, wo der Zar, die Zarin und die Zarin-Mutter weilen, soll man über die gestrigen Vorgänge nicht u n terr i ch t et sein; denn die Telephonverbindung mit dem Palais in St. Petersburg wurde von den Arbeitern zerstört. Man fürchtet, am heutigen Dienstag könnten sich die Gewaltakte vom Sonntag vor Zarskoje-Selo wiederholen, da die Arbeiter beschlossen haben, 40000 Mann stark dorthin zu ziehen, um den Zaren zu sehen. — Ferner wird berichtet, daß die 1500 Arbeiter der staatlichen Gewehrfabriken Sestroiczk mit der Plünderung der Depots begonnen und die von Petersburg dorthin führende Sekundärbahn stellenweise zerstört hätten. Eine andere Meldung besagt, daß die Arbeiter die Geldmittel zum Durchhalten des Streiks nur auf 2 Tage besäßen. Wie der Lokalanzeiger sich melden läßt, soll Maxim Gorki an die Spitze der Arbeiterbewegung getreten sein. Demselben Blatt meldet ein in später Nachtstunde etn- gegangeneS Privattelegramm, daß in Petersburg wiederum Panik herrsche. Die Aufständischen drohten, alle Regierungsgebäude in die Luft zu sprengen. Viele Teile der Stadt sind total im Dunkeln, infolge des Streiks der Arbeiter der Heliosgesellschaft.
Berlin, 24. Jan. Wie das Berliner Tageblatt erfährt, werden jetzt in der deutschen Woffenfabrik vormals Ludwig Löwe für die russische Armee 500 Maschinengewehre hergestellt, die möglichst schnell fertiggestellt sein müssen.
Paris, 23. Jan. Nach Meldungen aus Petersburg erhielt General Wassilischkoff, Kommandant der Petersburger mobilisierten Truppen, ferner General Sacharoff und Stadthauptmann Foulon eine Art Diktatur für die Zeit des Aufruhr?. Sie gaben ein durch zahlreiche Maueranschläge verbreitetes Kommunique aus, worin es heißt, das Militär habe im Dienste des Zaren und der Religion seine schwere Pflicht erfüllt. General Sacharoff erklärte, daß Komplikationen mit anderen Mächten zu befürchten wären. — „Petit Journal" bestätigt, daß gestern abend 8 Uhr eine hochstehende Persönlichkeit von einer Botschaft angespieen wurde, weil fie sich weigerte, den Schlitten zu verlassen und der Aufforderung, niederzuknieen und um Verzeihung zu bitten, keine Folge leistete.
Petersburg, 24. Jan. Am Hofe herrscht über die jüngsten Ereignisse große Aufregung. Der Zar weigert sich, einen Entschluß zu fassen. Amtlich werden annähernd 100 Tote und 1500 Verwundete angegeben, doch ist man überzeugt, daß diese Zahl bedeutend hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Der Pastor Copon arbeitet von seinem Verstecke aus und wirkt durch Vermittlung seiner Freunde auf seine Anhänger.
Petersburg, 24. Jan. Der Abend ist ziemlich gut verlaufen. Nachdem die elektrische Beleuchtung teilweise wieder hergestellt war, bewegte sich die Menge wieder auf dem Wosnezeskij-Prospekt sowie in der SadowajaSstraße. Dieselbe gehörte jedoch meist den untersten Schichten an. Alle Gerüchte, daß die Arbeiter mit Dynamitpatronen bewaffnet seien und daß die Polizei mehrere Werkstätten für Bombenfabrikation entdeckt habe, find erfunden.
Petersburg, 24. Jan. Amtlich wird bekannt gegeben: Im Laufe deS 23. ds. fanden keine Zusammenstöße zwischen der Ruhestörungen veranstaltenden Volksmenge und dem Militär statt. Dis
Truppenabteilungen hatten nicht nötig, von der Waffe Gebrauch zu machen, da die Menge beim Erscheinen des Militärs sich zerstreute. Während des Tage- wurde der Versuch gemacht, den Kaufhof anzugreifen; er wurde jedoch abgeschlagen. Am Abend schlossen sich die Arbeiter der elektrischen Werke dem Ausstand an. Infolgedessen machten sich einige Volkshaufen die Dunkelheit zu nutze und begannen die Fenster der Läden in verschiedenen Straß-n einzuschlagen. Die Ruhe wurde jedoch überall rasch wieder hergestellt. Am 23. ds. wurde niemand getötet oder verwundet. Die genaue Zahl der Verwundeten am Sonntag beträgt 333; davon find 53 an den Ambulanzstellen verzeichnet worden. (DaS Depeschenbureau „Herold", dem seit deS russ.-jopan. Krieges die Nullen besonders leicht aus der Feder fließen, hatte von 20—24000 Toten und Verwundeten berichtet. Uebrigens werden die amtlichen Angaben auch nicht der Tatsache entsprechen.)
— Aus Moskau wird vom 23. Januar gemeldet: „Zum Teil übertriebene Privatmeldungen über die Vorgänge in Petersburg riefen hier eine Panik hervor. Die Filiale der Petersburger Agentur wurde förmlich bestürmt um Auskunft über die wahre Sachlage. Die Börse war flau. Die Aufregung ist um so größer, als die Stimmung hier ohnehin erregt ist. Für den 26. d. M. wird ein allgemeiner Ausstand befürchtet, dem sich auch die Droschkenkutscher anschließen werden." — Von demselben Tag, 2'/- Uhr nachmittags: „1000 Arbeiter der Fabrik Bromby stellten im Einverständnis mit ihren Kameraden in Petersburg, die fie darum ersuchten, die Arbeit ein. Die Arbeiter der Fabrik überredete andere Arbeiter, gleichfalls zu streiken. Mehrere Fabriken fügten sich. Dann gingen alle zur Buchdruckerei Syten, wo um 5 Uhr die Arbeit eingestellt wurde." DaS ist der Beginn des Generalstreiks auch in der zweiten Residenz, im Herzen Rußlands. In Lodz, der großen polnischen Fabrikstadt, fanden Straßen- unruhen statt. Polizei und Kosaken zersprengten die durch die Straßen ziehenden 5000 Personen starken Arbeiterscharen. Es kamen viele Verletzungen und über 50 Verhaftungen vor. Der Vertreter deS Stadthauptes von Moskau erließ eine Bekgnntmachung, worin in Anbetracht des Ausstands der Fabriken zur Verhütung ähnlicher Straßenunruhen wie in Petersburg das Publikum aufgefordert wird, jeglichen Ansammlungen und Umzügen .fernzubltiben. Im anderen Falle würden ähnliche scharfe Maßregeln wie in Petersburg getroffen.
Sewastopol, 23. Jan. Nach dem zweiten Fabrikstgnal zum Sammeln der Arbeiter um 7 Uhr morgens brach in verschiedenen Werkstätten der Admiralität Feuer aus. Fast gleichzeitig stand das Dach des Gebäudes in seiner ganzen Ausdehnung in Flammen. Der Brand dehnte sich mit solcher Schnelligkeit aus, daß sich die Arbeiter der Modellabteilung kaum durch einen Sprung durch das Fenster auf das Nachbardach retten konnten. Der Schaden beträgt einige hunderttausend Rubel. In den Werkstätten find gegen 1500 Arbeiter beschäftigt. Dank vieler Vorkehrungen gegen die Feuersgefohr wurden viele Hafengebäude gerettet. Der Brand wurde um 1 Uhr nachmittags lokalisiert.
London, 24. Jan. „Daily Expreß" berichtet: Die Feuersbrunst im Marine-Depot von Sewastopol ist auf die Tat von Matrosen
zurückzuführen. Diese fanden auf ihrer Rückkehr in die Kaserne die Tore derselben geschlossen, well man einen Aufruhr befürchtete. Als die Matrosen dies feststellten, forderten fie die Offiziere auf, die Tore öffnen zu lassen. Als diese sich weigerten, sprengten 600 Matrosen die Tore und griffen die Offiziere an, von denen einige verletzt wurden und einige andere Offiziere, welche sich durch die Fenster zu retten versuchten, erlitten Arm- und Beinbrüche. Die meuternden Matrosen steckten das Offizierskafino in Brand. Der kommandierende General sandte eine Abteilung Infanterie gegen die Matrosen mit dem Befehl, sofort das Feuer auf die Matrosen zu eröffnen. Die Soldaten weigerten sich jedoch wiederholt dem Befehl zu folgen. Auch als der Oberst eine Ansprache hielt, erklärten die Mannschaften, fie würden beim Befehl zu feuern auf die Offiziere schießen. Darauf wurde jedes militärische Einschreiten eingestellt.
— Aus London wird der Tägl. Rundschau telegraphiert: Die hiesigen offiziösen russischen Kreise find fassungslos und befürchten das Schlimmste. Die Revolutionäre begrüßen das Blutbad als die Morgenröte einer neuen Zeit, wenn auch mit einer vorläufigen Niederlage der Reformbewegung gerechnet werden müsse. Sie erklären ferner, die Häupter der Reaktion würden jetzt ermordet werden. Der Zar selbst werde das Schicksal seines Großvaters teilen, salls er nicht sofort eine Verfassung bewillige und die Schuldigen bestrafe.
Handelskammer Calw.
Bekanntmachung,
betreff««- da- Ergebnis der am 16. Januar 1SV5 vorgenommene« Wahl der Handels- kammermitglieder:
a) Für die Jahre 1905/11 (Januar):
1. Herr Fabrikant Georg Wagner, Calw.
2. Herr Fabrikant Karl Co mm erell, Höfen.
3. Herr Fabrikant Otto Waaner, Calw.
4. Herr Kommerzienrat Emil Zöpprttz, Calw.
5. Herr Kaufmann Wilhelm Karl Lutz,
Altensteig.
d) Für die Jahre 1905/08:
6. Herr Kaufmann Eugen Dreist, Calw. Dies wird mit dem Anfügen öffentlich bekannt gemacht, daß Einsprachen gegen die Wahlen oder gegen die Feststellung ihres Ergebnisses binnen 2 Wochen, vom Erscheinen dieses Blattes an gerechnet, bei der Handelskammer anzubringen wären.
Calw, 25. Januar 1905.
Der Vorsitzende: Der Schriftführer:
Kommerzienrat Zöppritz. Stadtschulthetß Conz.
ßandmrtschaftl. KeMmem Lei«.
Am Donnerstag, S. Februar (Lichtmetzfeiertag) nachmittags 2 Uhr findet im
Gasthaus zum Rötzle in Stammheim ein Bortrag des Herr« Landwirtschaftsinspektor l)r. Wacker von Leonberg über „Buban und Düngungs Versuche" statt, wozu Jedermann freundltchst eingeladen wird.
Calw, 25. Januar 1905.
Vereinsvorfiand Voelter, Reg.-Rat.
helfen, und ich habe sie nicht auSgeübt. Ich Hobe eS zugegeben, daß du diese Frau, die deiner nicht würdig ist, zum Altar führtest, obwohl ich als Mutter in deinem Herzen lesen konnte, und genau wußte, daß du sie nicht liebtest. Deine Frau hat, um dich zu erringen, an dich einen anonymen Brief geschrieben, d. h. schreiben lassen, in welchem sie das von dir geliebte Mädchen verdächtigte. Eine Antwort, die von dem Gelingen des gemeinen Streiche- deiner jetzigen Frau Kenntnis gab, gelangte durch Zufall in die Hände de- tapferen Mädchen-. Fräulein Wörlk; übergab mir den Brief und erwartete von meiner Rechtschaffenheit, daß ich ihn dir, mein geliebter Fred übergeben würde. Ich machte das in mich gesetzte Vertrauen zu Schanden; ich sagte dir nicht- und sah zu, wie du in dein Unglück ranntest."
„Und der Brief? Wo ist der Brief?" stieß Alfred hervor.
„Ich habe ihn nicht mehr."
„Wo ist er hingekommeu?"
Die alte Frau schwieg, die Schuld auf sich zu nehmen, war ihr nicht möglich, denn sie wollte die Wahrheit, Helle Wahrheit in allen Ecken, und den Vater dem Sohne gegenüber zu denunzieren, vermochte sie nicht.
Ehe fie sich noch zu einem Entschluß durchringen konnte, sagte Schmolling: „Ich Hab« ihn zerrissen!" Es war ein Schwanken in seinem Ton, welcher dem aufmerksamen Zuhörer verriet, daß dieser stark« Mann in seinen Grundfesten erschüttert war; da- gewohnte Pochen auf seine Unfehlbarkeit fehlte diesem Geständnis — leise Scham Merle durch.
In Frau v. Schmolling- Augen leuchtete eS mühselig auf. Daß er ihren
Kampf so schnell beendete durch sein freiwillige- Geständnis, war ihr angenehm'
es verwischte etwas von seiner Ungerechtigkeit.
„Du, Vater, du?" mehr brachte Alfred nicht heraus. Es wurde ihm schwarz vor den Augen; die Erregung war zu groß gewesen; dis Schwäche übermannte ihn und er sank lautlos in die Kiffen zurück.
Frida neigte sich zu ihm, flößte ihm Zitronensaft ein und wusch ihm die Schläfen mit Essig.
Er erholte sich bald, schob Frida von sich — erst mußte er alles wissen; nichts durfte ihm verheimlicht werden, er mußte die Niedertracht dieser Frau, seiner Frau, genau kennen. Und daß sein Vater, den er bei oller Strenge und Härte doch immer hochgehalten als Charakter und Mensch, so handeln konnte, verursachte ihm einen brennenden Schmerz.
„Wer hat den Brief geschrieben?" fragte er drängend.
Alle schwiegen. Paula fand die ganze Situation unhaltbar; «S mußte doch alles aufgeklärt werden. Warum nur diese- lächerliche Versteckspiel, welche- den fieberhaft aufgeregten Mann noch mehr erregen mußte?
Sie sah die alte Frau an, und als diese, die stumme Frage verstehend, den Kopf neigte, legte sie los. Sie erzählte alles, was sie wußte, setzte auch ihre eigenen scharfen Beobachtungen hinzu, und als sie nach verschiedenen Seiten- hieben geendet, nicht ohne das Einverständnis zwischen dem von ihr gehaßten Tenor und Olga gehörig zu beleuchten, atmete sie erleichtert auf. ES kam ihr vor, als hätte sie eine Schuld abgewälzt. Sie bedachte nicht die verändert« Situation, und daß dies« durch solche Aufklärungen sich möglicherweise noch verschlimmern könnte. '(Fortsetzung folgt.)