Drittes
Drittes
^ Blatt
Blatt.
Neuenbürg, Samstag den 15. November 1913.
71. Jahrgang
.M 183.
Rundschau.
Der Schutz der Arbeitswilligen.
Das in der Tagespresse schon so lange erörterte Problem des genügenden Schutzes von Arbeitswilligen bei Arbeiterstreiks gegen Bedrohungen und Tätlichkeiten seitens der Streikenden gewinnt angesichts der herangenahten Wintersession des Reichstages erhöht an Interesse, denn es unterliegt kaum einem Zweifel, daß dies Thema in der bevorstehenden neuen Sitze ungsperiode des Reichstages erneut zur Sprach- kommen wird. Bekanntlich sind vom Reichstage die von konservativer Seite ausgegangenen Anregungen, die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Arbeitswilligen noch weiter auszubauen oder noch lieber zu diesem Zweck gleich ein besonderes Spezialgesetz zu erlassen, noch stets mit großer Mehrheit abgelehnt worden, weil die Gegner der konservativen Anträge der Meinung waren, daß schon die bestehende Gesetzgebung hinlänglich Handhaben darbiete, um eine genügende Sicherung von Arbeitswilligen gegenüber Bedrohungen usw. seitens der streikenden Kollegen zu ermöglichen. Es ist fraglich ob man dem gedachten Problem behufs seiner befriedigenden Lösung lediglich auf Grund von Strafgesetzen in wirklich wirksamer Weise zu Leibe gehen kann. Wirksamer und wichtiger erscheint da die zivilrechtliche Haftung der Arbeiterkoalitionen mit ihrem Vermögen. Soweit letzteres Humanitären Zwecken dient, könnte es gewiß unschwer abgetrennt und so der Gefährdung entrückt werden. Es ließe sich sicherlich ein gangbarer Weg zur Erreichung des gedachten Zieles auffinden, und zwar ungefähr in folgender Weise: Was im Interesse einer Koalition durch eine ihr zugehörige Person geschieht, ist von der Koalition selbst zu vertreten und mit ihrem Vermögen zu verantworten, und zwar so lange, als sie nicht beweist, daß es gegen ihren Willen geschah. Unter dem Druck solcher Bestimmungen würden sich die Organisationen nicht nur hüten, selbst, d. h. durch ihre verfassungsmäßigen Vertreter, rechtswidrigen Organisationszwang auszuüben. Sie sehen sich gezwungen zum Schutze ihres Vermögens auch darüber zu wachen, daß nicht ein gleiches durch ihre sonstigen Mitglieder geschehe. Hoffentlich kommt man im Reichstage auf einer solchen Grundlage einmal zu einer Verständigung über das unstreitig schwierige Problem eines genügenden Schutzes für Arbeitswillige, eines Schutzes, welcher arbeitsfreudigen Elementen die gesicherte Betätigung ihrer Arbeitslust gewährleisten soll, ohne doch zugleich wichtige Rechte der streikenden Arbeiter und dann der Arbeiterschaft überhaupt zu verletzen. Vergessen darf jedoch nicht werden, daß der Schutz nicht nur den Arbeitswilligen zu Gute kommen soll, sondern auch dem selbständigen Gewerbetreibenden — mag sein Betrieb groß oder klein sein — dessen wirtschaftliche Entschließungen durch rechtswidrigen Zwang irgendwelcher Art verkümmert zu werden drohen.
Leipzig, 11. Nov. Daß der Erbauer des Völkerschlachtdenkmals, Geheimrat Thieme, den „roten Adlerorden vierter Klasse" abgelehnt hat, wird von der deutschen Presse nahezu einmütig gebilligt. Ein wirkliches Verdienst hätte der Mann freilich erst, wenn er überhaupt jeden Titel und jeden Orden zurückgewiesen hätte, nicht bloß den vierter Klasse. Die Ordensjägerei, schreiben die Hamburger Nachrichten, hat sich bei uns geradezu als eine Unart ausgebildet, und oft genug wird uns die reine Freude an großen Stiftungen und überragenden Werken getrübt, weil die Stifter und Urheber gar zu auffällig nach Orden und Titeln geschielt haben. Das weit ausgedehnte Ordens- und Titelwesen, an dem unsere Zeit krankt, kann sogar zum Verhängnis unseres Volkes werden. Denn die Fähigkeit, in einem Werk aufzugehen und mit der menschlichen Person ganz zurückzutreten, ist das beste Können eines Volkes. Und darum liegt seine Kraft auch in den freien Berufen, die wissen, daß ihnen Orden und Titel nicht blühen. Die großen Leistungen des deutschen Volkes, die wirklich die Achtung und den Neid anderer Völker erregen und den Wohlstand des eigenen schaffen, werden in der emsigen,
unauffälligen Arbeit hervorgebracht, die mit allem anderen, nur nicht mit Orden und äußerlichen Auszeichnungen rechnet. Ob das Ordenswesen ein Ansporn für höheres Streben sein kann? Schwerlich in der Art, wie es sich in den letzten Jahrzehnten herausgebiidet hat. Denn dies System hat Orden und Titel entwertet. Die Persönlichkeit wird durch ihre Leistungen, durch ihr Wollen und Wirken bestimmt und trägt in ihnen ihre Ehre. Der größte Deutsche, dem schließlich Orden in Menge zuflogen, schätzte bekanntermaßen von allen nur die Rettungsmedaille und das Eiserne Kreuz, die unscheinbarsten. Spröde Demokraten aber sehen wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit dem roten Adler vierter Klasse prunken. Wenn Clemens Thieme, dem das deutsche Volk das Leipziger Völkerschlachtdenkmal dankt, um deswillen den gleichen Orden verschmäht hat, so ist es zu begreifen. Eine Sache, für die wir sterben, in der wir aufgehen, der wir Leben und Lebensglück opfern, trägt ihren Lohn und alle Ehre in sich selbst. Wenn unser ganzes Volk zu dieser Auffassung zurückkehrte, ohne daß die Geschichte ihm wieder einmal neue Prüfungen schickt, so würde es den Weg zu seinem Glück finden.
Keine Orden für Richter. In preußischen Richterkreisen ist wiederholt darüber Klage geführt worden, daß nach der Praxis der Ordensverleihungen in Preußen die Richter, Oberlichter eingeschlossen, genau ebenso wie die mittleren Begmien behandelt werden. In der „Deutschen Richterzeitung" wird nun von neuem die Forderung erhoben, durch ein Reichsgesetz die Verleihung von Auszeichnungen aller Art an Richter überhaupt zu verbieten. — Ein solches Verbot sollte für alle Staats- und Reichsbeamte erlassen werden, denn diese haben in ihrem Amt selbstverständlich das Beste im Interesse der Allgemeinheit zu leisten. Das ist lediglich ihre Pflicht und erfordert keine Belohnung. Bekanntlich hat aus demselben Grundgedanken heraus auch die württ. Rechtsanwaltskammer besondere Titulaturen für ihre Mitglieder abgelehnt.
Die Vergötterung ausländischer Flieger. Die Fliegervergötterung, die die Deutschen mit dem Franzosen Pegoud treiben, geht zu weit. Es läßt sich gar nicht denken, wie ein Deutscher, der seine Flüge in französischen Städten zeigen würde, von französischen Blättern behandelt würde. Wer in Frankreich hat der gewaltigsten deutschen Flugleistung und dem größten Weltrekord Viktor Stöfflers je ein uneingeschränktes und offenes Lob gespendet? Wer in Frankreich gibt heute vor aller Oeffentlichkeit die Ueberlegenheit der deutschen Flugtechnik^u? . .. Und erst kürzlich ließ sich ein französischer Flieger, der in letzter Zeit sehr viel von sich reden machte durch seinen Flug Paris-Kairo, auf dem er auch Ofenpest berührte, einem ungarischen Journalisten gegenüber in recht geschmacklosen Auslassungen gegen die deutsche Flugtechnik aus. Und was tut der Deutsche hiergegen?. . . Er lädt den Luftakrobaten Pegoud in alle bedeutenden größeren Städte, um seine Schaulust seine Sensationsgier zu befriedigen, und wirft ihm zum mindesten für einen Flug 30000 Mark an den Hals. Wozu wollen wir ihm jetzt in Stuttgart 50 000 Mk. bezahlen? Es wäre doch viel richtiger, man ließe all das schöne deutsche Geld unseren deutschen Fliegern zugute kommen.
Lübeck. 14. Nov. Die Bürgerschaft hat einstimmig den Antrag angenommen, 150 000 Mark zum Ankauf von Radium zn bewilligen.
In der städtischen Knabenschule zu Köslin in Pommern spielte sich am Donnerstag vormittag ein gefährlicher Vorfall ab. In der Turnballe zeigte ein auswärtiger Tierbändiger mit einem Neger gezähmte wilde Tiere den Schulkindern. lluter anderen führte er eine ein Jahr alte Löwin um die Kinder im Kreise herum. Plötzlich wurden die Kinder unruhig. weil die Löwin sie beschnupperte, einige liefen nach der Türe, rissen sie auf und stürzten auf den Schulhof. Die Löwin lief den Kindern nach und erreichte auf der Treppe einen siebenjährigen Knaben Dorow, den sie mit einem Prankenhieb auf den Kopf zu Boden schlug. Im Hause zufällig anwesende Maurer wurden durch das Geschrei aufmerksam und trieben mit ihren Handwerkszeugen die
Löwin zurück. Der Knabe wurde schwer verletzt in das Krankenhaus gebracht. Die Löwin konnte nach kurzer Zeit von dem Tierbändiger eingefangen werden. Die Bevölkerung von Köslin befindet sich über den Vorfall in der größten Aufregung und man fragt sich, wer die Erlaubnis zu dieser Vorführung oder die Empfehlung dazu gegeben hat. Eine Untersuchung über die merkwürdige Angelegenheit ist im Gange.
Karlsruhe, 13. Nov. Infolge der andauernden Regengüsse steigen die Gebirgsbäche des Schwarzwaldes ununterbrochen. Die Murg ist in der verflossenen Nacht stellenweise über die Ufer getreten. Der Oberrhein bei der Schusterinsel stieg innerhalb 24 Stunden um 62 Zentimeter, der Rhein bei Maxau um 83 Zentimeter.
Karlsruhe. 13. Novbr. Der Rhein ist um I Meier, der Neckar um 1,62 Meter gestiegen. Die Schiffahrt ist daher eingestellt worden.
Vom Schwarzwald, 13. Nov. Infolge der seit Dienstag früh fast ununterbrochen niedergehenden Regen sind sämtliche Schwarzwaldbäche im Steigen begriffen. Während für die in Höhenlagen befindlichen Orte infolge des starken Gefälles der Gewässer keine Hochwassergefahr zu befürchten ist, ist dies in den Niederungen um so mehr der Fall. Aus dem Kinzigtal kommen denn auch schon Hochwasserschadensmeldungen, während im Donautal bereits weite Landstrecken, die an den Fluß grenzen, mit brodelnden, braungelben Fluten bedeckt sind. BrigachundBreg steigen ebenfalls bedeutend.
New-Jork, 8. Nov. Der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, Theodor Roosevelt, steht im Begriff, eine auf 5 Monate berechnete große Jagdexpedition nach Zentralbrasilien und dem nördlichen Paraguay anzutreten. Von der Expedition ist auch, wie Petermanns Mitteilungen schreiben, eine Erweiterung unserer topographischen Kenntnisse jener Gebiete zu erwarten, da Gegenden besucht werden, die bisher von Weißen noch nicht erreicht worden sind. Unter anderem will Roosevelt mit Motor- und Ruderbooten die kleineren Nebenflüsse des Amazonas befahren. Die verschiedenen Wissenszweige werden durch drei ihn begleitende Gelehrte wahrgenommen werden.
New-Aork, 14. Novbr. Der Sturm, der vom Sonntag bis Dienstag die Seeregion im mittleren Westen heimsuchte. vernichtete nach bisher vorliegenden Nachrichten 10 Dampfer und 170 Menschenleben. 21 andere Schiffe wurden teilweise oder ganz zerstört, aber ihre Mannschaft gerettet. Zahlreiche Leichen mit angeschnallten Rettungsgürteln treiben an die Ufer an. In Cleveland treten langsam wieder normale Verhältnisse ein.
Aus Montgomery (Alabama) wird gemeldet: In der Nähe von Clayton ist ein Zug der Central Georgia Railway von einer Brücke gestürzt. Dabei wurden 20 Personen getötet und 250 verletzt. In dem Zuge befanden sich zahlreiche Schausteller, die zu dem Jahrmarkt reisen wollten.
Cherbourg, 10. Nov. Ein merkwürdiger Diebstahl ereignete sich auf einem Ball, den Graf v. Vandeuver seinen zahlreichen Freunden gab. Als nach dem letzten Tanz die Gäste ihre Garderobe nehmen wollten, stellte sich zum Erstaunen aller heraus, daß alle Garderobestücke, Hüte, Mäntel und Pelze, zum Teil von großem Wert, auf unerklärliche Weise verschwunden waren. Das Verschwinden ist um so unerklärlicher, als ein alter, seit 25 Jahren im Dienst des Grafen stehender Diener, der mit der Obhut der Garderobe betraut war. erklärte, sich nur wenige Minuten entfernt zu haben. Niemand von der Dienerschaft noch von den Geladenen konnte irgend welche Angaben machen, die zur Entdeckung des Diebs oder zur Auffindung der Garderobe führen konnten. Die Polizei wurde sofort verständigt, doch auch sie konnte es nicht verhindern, daß die Gäste barhäuptig und ohne Mantel nach Hause fahren mußten.
Graz, 12. Novbr. Gestern kreisten die Jäger des Stiftes St. Paul in Kärnten bei einer Hochwildjagd auf dem Pratenkogel zweimal den „Bauernschreck" ein. Sie fanden ein Löwenlager. Der Löwe flüchtete. Die Jagd wird heute fortgesetzt.