Zweites

Blatt.

Der LnztSler.

Zweites

Blatt.

17«.

Reuen bürg, Freitag de« 24. Oktober 1913.

71. Jahrgang.

RunSschau.

Berlin, 23. Oktbr. Aus Rotterdam wird be­richtet: Vom 1. Januar 1914 ab wird das hol­ländische Heer von der deutschen Firma Wilhelm Müller u. Co. in Hoek van Holland mit argen­tinischem gefrorenem Fleisch versorgt werden. Das Fleisch wird zweimal wöchentlich über London in Holland eingeführt werden.

Der Zirkus Busch in Berlin will seinen Betrieb auflösen, weil die in Berlin eingesührte Lustbarkeitsfteuer seine Rentabilität in Frage stellt. Der Zirkus wird, nach den Erträgen der vergangenen Spielzeit gerechnet, in dieser Saison an Lustbarkeits­steuer einen Betrag von rund 160 000 bis 170 000 (hundertsiebzigtausend) Mark abzuführen haben!

Karlsruhe, 23. Oktbr. Heute früh zwischen 2 und 3 Uhr hat die üebergabe des gesamten Eisenbahnverkehrs vom allen Bahnhof an den neuen ohne besondere Feier stattgehabl. Damit ist für die Entwicklung der Residenzstadt eine neue Epoche angebrochen. Der alte Bahnhof, der 70 Jahre im Betrieb war, wird vorerst erhallen bleiben. Die Einwohnerschaft hat bei der Inbetriebnahme des neuen Personenbahnhofs regen Anteil genommen. Grundlegende Veränderungen werden dadurch statt­finden, daß die Bahnübergänge der Straßen nach der Stadt in Kürze verschwinden.

Frankfurt a. M., 19. Okt. Die Vorunter­suchung gegen Hopf, der sich wegen sechsfachen Giftmordes in Untersuchung befindet, ist, wie das Tageblatt erfährt, jetzt abgeschlossen. Die Untersuch­ung der 6 ausgegrabenen Leichen hat ergeben, daß alle große Mengen Arsenik enthielten.

Köln, 20. Okt. Infolge des Nebels und des schlechten Wasserstandes ist die Rheinschiffahrt sehr behindert. Die Einstellung der Schlepp­schiffahrt Mannheim - Straßburg steht unmittetbar bevor.

Rotterdam, 22. Okt. Die Urania-Gesellschaft macht bekannt, daß im ganzen 30 Mann der Be­satzung des DampfersVollurno" vermißt werden. Unter ihnen sind acht Deutsche.

London, 20. Oktbr. Der Flieger Maitland hat heute vormittag einen Fallschirm im Lager von Aldershot versucht. Er nahm an Bord des Luft­schiffesDelta" Platz und sprang mit einem Fall­schirm aus 500 Meter Höhe ab. Der Versuch ge­lang vollkommen. Der Flieger kam unversehrt am Boden an.

Aus Limoges wird gemeldet: Während fünf Winzer in Brugier-Corraze mit Keltern beschäftigt waren, fiel ein Mädchen in einen Trog, wo es er­stickte. Vier Männer stürzten ihm nach, um ihm zu helfen, erstickten aber gleichfalls, so daß man fünf Leichen emporziehen konnte.

Die Kosten des Panamakanals. Einer amtlichen New Aorker Nachweisung zufolge hat der Panamakanal bis jetzt 314370 977 Dollar ge­kostet und man erwartet, daß der für den ganzen Bau notwendige Betrag 375 Millionen nicht über­steigen wird.

New-Uork, 22. Okt. Die Ärztekommission erklärte den des Mords an seiner Geliebten beschul­digten Kaplan Schmidt für zurechnungsfähig.

New-Aork, 22. Oktbr. Der Lloyddampfer Berlin" rettete auf der Fahrt von Italien nach New-Aork in 40 Grad 35 Min. nördlicher Breite und 71 Grad 32 Min. westlicher Länge die Besatz­ung des englischen SchonersMargarethe Brown".

New-Jork, 22. Oktbr. Starker Frost und Schneefälte haben im Westen der Vereinigten Staaten, vom Staate Dakota bis südlich nach Texas, die Baumwollpflanzungen und andere Kulturen schwer beschädigt.

Aus Tokio wird gemeldet: Ein Expreßzug, in dem 400 Pilger befördert wurden, ist bei Togama mit einem Güterzuge zusammengestoßen. 6 Wagen des Expreßzuges wurden vollkommen zertrümmert, 20 Personen wurden getötet und 100 schwer verletzt.

Württemberg.

Stuttgart, 22. Okt. Durch eine Verfügung der Ministerien des Innern und der Finanzen sind die Zuwachs st euerämter allgemein ermächtigt worden, von der Veranlagung der Erhebung der Steuer in allen Gemeinden abzusehen, deren Anteil an der Zuwachssteuer im Rechnungsjahr 1912 weniger als 100 Mk. betragen Hai. Auch kann dies für andere Gemeinden geschehen, wenn der Ertrag im Jahre 1912 nur infolge außerordentlicher Um­stände die Höhe von 100 Mk. erreicht oder über­stiegen hat.

Stuttgart, 20. Oktbr. (Aufruf zu einer National spende.) DasNeue Tagblatt" wurde um Aufnahme nachstehender Zeilen gebeten: Ich er­suche die verehrt. Redaktion, den Gedanken in Er­wägung zu ziehen, ob es nicht von größtem Vorteil wäre, wenn dem Luftschiffbau Zeppelin die Mög­lichkeit gegeben wäre, in Friedrichshafen ständig em

sogen. Versuchs- und Schulluftschiff zur Verfügung zu haben. Damit wäre die Möglichkeit gegeben, alle Neuerungen in aller Ruhe praktisch zu erproben. Ich bitte ferner in Erwägung zu ziehen, ob jetzt nicht (zur Zeit der Jahrhundertfeier gewiß kein un­geeigneter Zeitpunkt) zu einer zweiten Nationalspende ein Aufruf erlassen werden soll. Stellen wir das Lebenswerk des allverehrten Grafen Zeppelin aus eine noch bessere finanzielle Basis, da nicht von der Hand zu weisen ist, daß die Folgen dieses neuen Unglückssalles eine schwächere Frequenz der Fahr­teilnehmer sein wird. Nationales Unglück, nationale Hilfe. Zeigen wir dem neidigen Ausland, daß wir immer noch ein großes patriotisches Volk sind, frisch auf, mein Volk, schaffen wir neue Mittel für den kühnen Streiter am Bodensee, auf daß der Vor­sprung, den wir im Gebiet des Luflschiffoerkehrs nach zähem Kampf erreicht haben, nicht verloren geht.

Stuttgart, 22. Oktbr. Stellt da vor einigen Tagen kurz vor dem amtlichen Beginn des Wochen­markles ein Bauer 14/s Zentner Tafelobst auf die Straße und entfernte sich für kurze Zeit. Der­weilen sieht ein gerissener Kunde das herrenlose Obst und verkauft es an eine Marktfrau um 16 Mk., wofür er ihr obendrein großmütig die Körbe schenkt. Als der Eigentümer bei seiner Rückkehr das Obst in fremden Händen vorfand, war er, wie das Neue Tagblatt erzählt, nicht wenig erstaunt, noch mehr aber war es dir Käuferin, die obendrein eine Strafe verwirkt hat, weil sie das Obst vor Beginn des Marktes kaufte.

Ulm, 22. Okt. Das Schwurgericht hat den 49 Jahre allen Wattenmacher August Dosier in Tischardt O/A. Nürtingen, der, wie erinnerlich, vor 2 Monaten auf dem Göppinger Bahnhof den Bahn­wärter Betz durch einen Schuß gelötet hatte, unter Versagung mildernder Umstände zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Tuttlingen, 22. Okt. Die Familie des ver­storbenen Stabsarztes Geyßel teilt mit, die Unter­suchung der zustänoigen Behöroe habe ergeben, daß es sich nicht um einen Selbstmord, sondern um die unvorsichtige Handhabung einer neuen Schußwaffe handle.

Hornisgrinde, 22. Okt. Das prächtige Herbstwetter begünstigt nicht nur die Arbeiten des Landmannes in Wiese und Feld, sondern auch gemütliche Wanderungen durch den herrlich gefärbten Wald. Der Gipfel der Hornisgrinde ist viel befucht. Milte November wird das Rasthaus neben dem neuen Horntsgrindelurm seinen Betrieb eröffnen.

Urkraft der Kieke.

Roman von Karl Engelhardt.

13f (Nachdruck verboten.)

Ei, der Kuckuck!" lachte Lichten.Du hast kein schlechtes Selbstbewußtsein. Es freut dich, daß sie wählerisch ist. Und bist dabei deiner Sache so sicher. Also du wärest sie wert, meinst du. Hoffentlich hat sie die gleiche hohe Meinung von dir. Sonst geht es schief mit der Verlobung."

Mancher Scherz flog noch herüber und hinüber, bis man sich erhob. Throndhjem verabschiedete sich, da er die Nachmittagssoune für eine Arbeit benützen wollte, die er eben vorhatte.

Als er zu Hause vor seiner Staffelei stand, da begannen wieder die alten, wilden Gedanken ihn wie Sturmvögel zu umflattern.

Karla Fannemor! Welch eine Fülle trauriger Er­innerungen weckte dieser Name in ihm! Erinnerungen aus der trübsten Zeit seines Lebens.

Karla Fannemor! Wie hatte er sich einst an der Frische, der Ursprünglichkeit und nicht zum mindesten an der künstlerischen Beanlagung dieses jungen Mädchens sie mochte damals zweiundzwanzig Jahre zählen erfreut! Die Stunden, die er mit seiner Lieblingsschülerin verbrachte, waren die einzigen Licht­punkte in dem düsteren Grau jener Tage. Bis es zu einer jämmerlichen Szene kam, die seine Frau ihm machte. Eifersüchtig - eifersüchtig auf Karla Fanne­mor! Auf dieses Mädchen, das die Rechtschaffenheit.

die Geradheit selber war! Seine harmlose Freude an dem ansprechenden Wesen, an den rapiden Fort­schritten dieses jungen Talentes als Liebe zu be­argwöhnen!

Es war ja zum Lachen! Und er hatte ihr damals ins Gesicht gelacht, seiner Frau, als sie ihm den verrückten Vorwurf ins Antlitz schleuderte. Und schließlich war die Szene wieder zu einem jener an sich kleinlichen Gründe geworden, welche die beiden Gatten einander langsam, aber sicher entfremdeten.

Aber er hatte damals immer noch mit den: Reste seiner ehemals flammenden Leidenschaft an seiner Frau gehangen. Und er hatte sich vorgeuommen, ihre Gefühle zu schonen, wenn sie ihm zum Teil auch noch so absurd vorkamen.

Er beschränkte den Verkehr mit seiner Schülerin auf das Allernotwendigste: stets in Gegenwart anderer. So mußte jeder Verdacht weichen. Und nicht allzu­lange danach kam dann das andere, das Schreckliche. Karla Fannemor hatte damals in ihrer resoluten, ziel­bewußten Art bei ihm vorzusprechen versucht, hatte sich aber, wie jeder Besucher, gezwungen gesehen, nur die Karte abzugeben. Er hatte keinen Menschen sehen wollen. Auch sie nicht.

Und dann war er abgereist.

Jetzt aber hörte er plötzlich in dem Zusammen­hänge von ihr! Wie doch der Zufall seine Fäden spinnt! Aber soviel er sie zu kennen glaubte, konnte er sie seinem Schwager nur wünschen, der ihm schon in den paar Stunden sympathisch geworden war.

Er ließ Pinsel und Palette sinken, stützte den Ell­

bogen auf ein nahestehendes Postament, und legte die Stirn in die Rechte.

Immer und immer wieder der alte Schatten, und der alte Fluch, die ihn unfähig machten, einem neuen, großen Glück entgegenzuleben, frei und rückhaltlos zu empfinden und edler, hoher Frauenliebe volle Würdigung zuteil werden zu lassen. Ein Krüppel an der Seele, sein Leben lang! Er zerrte wütend an der Kette, die ihn an die Vergangenheit schmiedete. Sie ließ nicht locker. Und das sollte so weitergehen, nie anders werden? Und das junge, hoffnungsfrohe Menschenleben, das bald für immer an ihn gefesselt sein würde? Was würde er ihr geben können? Würde die ruhige Freundschaft, das schlichte, warme Gefühl, das er ihr entgegenbrachte, ihr immer ge­nügen? Würde nicht in der Ehe ihr Herz auf­lodern in flammender Liebe und flammender Sehn­sucht nach ihrer Erwiderung?

Und immer schwerer wurde es ihm ums Herz, weun er der Zukunft gedachte. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Das wußte er, daß sie daran zugrunde gegangen wäre. Wenn er aber zu klarer, ungetrübter Erkenntnis seiner selbst gekommen wäre, hätte er sich sagen müssen, daß er sich selbst mit dem Gedanken, zurückzutrcten, nicht hätte vertraut machen können.

Wie eine Lähmung lag es über seinem Gefühls­leben.

Und er sann und dachte weiter: trüb, düster und mit wenig frohen Hoffnungen.

Die Hochzeit sollte Mitte April stattfinden.