Drittes
Blatt.
Der Lnztäler.
Drittes
Blatt.
167.
Neuenbürg, Samstag den 18. Oktober 1913.
71. Jahrgang.
RunSschau.
Der schon lange dauernde Streit zwischen der deutschen Aerzteschaft und den Krankenkassen verschärft sich. Der Beirat des Leipziger Aerzteverbandes hielt am Mittwoch in Halle a. S. eine Sitzung ab, in welcher einstimmig eine Resolution gefaßt wurde, laut der die Deutsche Aerzteschaft nach Ablehnung der von ihr wiederholt gemachten Friedensvorschläge den Kampf gegen die Krankenkassenverbände nunmehr mit voller Kraft aufnehmen will.
Chemnitz, 13. Okt. Der 16jährige Arbeiter Karl Seyfert wurde unter dem Berdacht, seine 81jährige Schwester, eine Handschuhmacherin, ermordet und die Leiche in einen Koffer eingezwängt zu haben, verhaftet. Der Verhaftete hat beim Verhör bereits ein umfangreiches reuiges Geständnis abgelegt, er habe die Tat begangen, um dem Mädchen einen geringen Geldbetrag abzunehmen.
Zürich, 16. Okt. In der vergangenen Nacht wurde auf dem hiesigen deutschen Generalkonsulat ein Einbruchsdiebstahl verübt. Die Diebe haben sämtliche Putte und Schreibtische aufgesprengt und einen Geldbetrag von 350 Francs erbeutet. Die Aktenschränke wurden nicht berührt.
Zürich, 15. Oklbr. Bekanntlich ist der ganze Kanton Graubünden, der östlich an Tirol grenzt, für den Automobiloerkehr gefperrt. Während sich die Anhänger dieses Verbots goldene Zelten für die Hotetindustrie des Kantons versprachen, trat gerade das Gegenteil ein. Das neue Stahlbad in St. Moritz bezahlt seit 1907 keine Dividende mehr, ebensowenig die Vereinigten Hotels in Bergün seit 1908. Die A.-G. Hotel Kurhaus Aloenau — alles große Häuser ersten Ranges — hat sich sogar aufgelöst, da die beiden letzten Orte seil der Bahneröffnung nicht einmal mehr Durchgangsftation geblieben sind und die Rucksacktouriften eben nicht ausreichen, um derartige große Unternehmungen aufrecht zu erhalten. Ferner: Das Hotel du Lac A.-G. in St. Moritz zahlt für 1912 5 °/o Dividende gegenüber 6°/v im Vorjahre, das Kurhaus in St. Moritz 6°/o gegenüber 8°/o, das Hotel Viktoria 3°/o gegenüber 5°/«. Interessant ist auch ein nicht graubündnerisches Beispiel: Das große Hotel National in Luzern mußte seine Dividende gegenüber dem Vorjahre um 1 °/o herabsetzen und fügte dem Bericht ausdrücklich bei, daß die Schikanen gegenüber dem Automobilverkehr in der Zenlralschweiz einen nicht wieder rinzubringenden Ausfall verursacht hätten.
Daß die Fremdensaison in der Jnnerschweiz diesmal recht schlecht war, weiß man aus Erfahrung; selbst in den günstigsten Wochen waren die Häuser schlecht besetzt, die früher Hunderte von Gästen zurückweisen mußten. Das Jahresergebnis für 1913 dürfte auf keinen Fall besser sein. Aus dem automobilfreundlichen Tirol wird aber das Gegenteil berichtet.
Graz, 15. Okt. Was man seit dem Abtrieb des Weideviehs von den hochgelegenen Weideplätzen der Stub- und Koralpe mit dem Ende des Vormonats besorgte, daß nunmehr die unter der Bezeichnung „Bauernschreck" bekannten Raubtiere, durch Hunger getrieben, die Niederungen und die Nähe der menschlichen Wohnsitze aufsuchen und unsicher machen würden, ist bereits eingetroffen. In nächster Nähe der Ortschaft Osterwitz bei Deutschlandsberg wurde am 6. d. Mts. ein weidendes Schaf zerfleischt. Zwei Nächte später wurde abermals nächst Osterwitz ein Ijähriges Rind gerissen. Die Art des Reißens wies auf ein großes, katzenartiges Raubtier hin. Mit einem Prankenschlag war ein großes Stück Fleisch aus dem linken Hinterschenkel herausgerissen worden. Auch wies das Rind auf dem Rücken, am rechten Hinterschenkel und an der Schleppe lange, tiesgehende Kratzwunden auf. Zu gleicher Zeit, als das Rind gerissen wurde, ist auch in der Nähe eine Schafherde angegriffen worden. Ein Schaf wurde erwürgt, einem andern wurde der Fuß durchblssen, und 5 Lämmer wurden bis auf die Knochen aufgefressen, was auf das Vorhandensein mehrerer Raubtiere schließen läßt.
London, 17. Okt. Gestern morgen hat man es aufgegeben, die noch in der brennenden Grube bei Cardiff eingeschlossenen Bergleute zu retten. Die Zahl der Verunglückten wird jetzt mit 418 angegeben. Hundert Leichen sind bereits geborgen. Der Schaden an dem Bergwerk wird auf 3 Millionen Mark geschätzt. — Aus Cardiff wird gemeldet, daß beschlossen wurde, einen erneuten Versuch zu machen, in die Unglücksgrube einzudringen. Man will zu diesem Zwecke hinter dem Feuer einen Durchbruch in den Schacht machen, in welchen sich die von der Welt abgeschnittenen Bergleute befinden sollen.
London, 13. Okt. Eine interessante Schilderung des historischen Augenblicks, in dem durch einen Fingerdruck des Präsidenten Wilson über tausende von Meilen hinweg die letzte Schranke zwischen dem atlantischen und stillen Ozean am Panamakanal fiel, veröffentlicht die „Daily Mail". Eine Gesellschaft der führenden Leute der Vereinigten Staaten, Politiker,
Gelehrte und Künstler, waren im Weißen Haus versammelt, um Zeuge des großen Augenblicks zu sein. Es herrschte feierliche Stille, als Präsident Wilson Punkt 2 Uhr auf den Knopf drückte. Der elektrische Funke durcheilte die 6400 Kilometer lange Strecke, die Washington von der Barriere von Gamboa trennt. Die Leitung ging teils überirdisch, teils unterirdisch bis Galveston, dann durch den Golf von Mexiko bis zu dem Hafen Salina Crux im Staate Ooxaca, dann weiter als Unterseekabel bis Santia del Sur in Nicaragua, von da bis Gamboa. Vierzig Tonnen Dynamit waren zur Sprengung der Barriere nötig. Am Ort selbst waren umfassende Sicherungsmaßnahmen getroffen worden. Wenige Sekunden nach der Entzündung erschütterte eine gewaltige Detonation die Luft, eine riesige Luftwolke wirbelte empor, das Erdreich geriet in Schwanken, und die Wassermauer stürzte erst langsam, dann immer stärker werdend in den Kanal. Das Ergebnis wurde sofort nach Washington übermittelt. Als die Nachricht im Weißen Haus eintraf, wendete sich Präsident Wilson vergnügt lächelnd zu seinen Gästen mit den Worten: „Also, die Sache ist erledigt". In den Vereinigten Staaten wurde der gestrige Tag überall feierlich begangen. Besonders in San Francisco, das ja an dem Zustandekommen des Riesenwerks stärker als andere Städte der Union interessiert ist, glich das Leben und Treiben demjenigen am Unabhängigkeitstage. Der Gemeinderat war im Rathaus versammelt, die Glocken fingen an zu läuten, die Kriegsschiffe im Hafen feuerten Salut, und in den Straßen herrschte das charakteristische amerikanische Jahrmarktstreiben.
Württemberg.
Stuttgart, 14. Okt. Zu der vom Reichstag in Aussicht gestellten Erleichterung des Militärdienstes für gute Turner hat der Turnausschuß der Deutschen Turnerschaft folgende Stellungnahme beichloffen: Bei der Beurteilung der Angelegenheit find zwei Klaffen militärpflichtiger Leute zu berücksichtigen: Solche, die ihren Berechtigungs- fchein von einer höheren Lehranstalt oder durch ein vor einer Prüsungskommifflon abgelegtes Examen besitzen, und solche, die nur Voltsschulbildung erhallen haben. Von den elfteren ist zu verlangen, daß sie neben der allgemeinen wissenschaftlichen Bildung auch eine entsprechende körperliche Ausbildung für den Heeresdienst besitzen, die durch eine Note im Berechtigungsschein zum Ausdruck zu bringen ist. Haben während der Schulzeit Gründe Vorgelegen,
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Urkraft der Kieke.
Roman von Karl Engelhardt.
91 (Nachdruck verboten.)
Sie blickte ihm nach, bis er ihren Blicken entschwand. Dann ging sie langsam vor dem Kirchhofportale auf und ab.
Es war ihr seltsam zumute. Sie fühlte sich so
glücklich: unbeschreiblich. Und doch ! In ihrer
tiefsten Seele, da schlummerte was Undefinierbares, lind das tat ihr weh. Wie eine Ahnung kommenden Unglückes.
Erich war mit einem Male so sonderbar geworden.
Erst so herzlich, und dann-? Fast förmlich,
ohne jeden Herzenston, wie am Grabe. Sie hätte stch's eigentlich anders gewünscht.
Aber gleich darauf schalt sie sich eine Närrin. Das war ja alles Einbildung. Wenn er nicht glücklich wäre, hätte er ja unterlassen können, was er getan. Sie befanden sich doch auf der Straße. Da konnte er ihr doch nicht um den Hals fallen! Sie Närrin!
Er liebte sie-er liebte sie! Sie konnte
das Glück kaum fassen. Vom ersten Augenblick an war sie ihm gut gewesen. Und jetzt fühlte sie erst ganz, daß dieser Mann ihr Lebensschicksal geworden war. Jetzt erst erkannte sie, daß ohne ihn die Welt für sie kein Glück mehr barg. Wie grenzenlos sie ihn liebte!
Sie wollte ikn die Vergangenheit vergessen machen, ihn entschädigen für alle Härten des Schicksals. Er
sollte wieder froh, wieder glücklich werden! Und das Herz schwoll ihr bei diesem Gedanken. Sie war so hoffnungsfreudig. Er liebte sie ja!
Da sah sie ihre Eltern kommen. Sie eilte auf sie zu und rief mit überstürzender Freude:
„Guten Tag, lieber Vater! Guten Tag, liebes Muttchen!"
Die beiden Alten sahen strahlend auf ihre jugend- frische Tochter. Und Majas Freude teilte sich ihnen mit.-
Inzwischen schritt Erich durch die Dämmerung des sich neigenden Herbstabends.
Er war seltsam trübe gestimmt für einen Mann, der sich soeben verlobt. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Lippen aufeinander gepreßt. Die Stirne lag in düsteren Falten.
Und die ganze Tragweite dessen, was er soeben getan, stand vor ihm auf.
Wie hatte er sich von seinen augenblicklichen Gefühlen derart fortreißen lassen können? Unverantwortlich war es von ihm gehandelt! Wie durfte er das junge Menschenleben annehmen, das sich ihm mit so offenem, vertrauendem Herzen darbot! Hatte er nicht jedes Recht darauf verwirkt? Für alle Zeiten?
Und er begann sich zu prüfen. Wie war das nur alles gekommen? Da erinnerte er sich, wie er fried- uud rastlos hier angekommen war. Zerfallen mit sich und der Welt, aller Illusionen bar. Mit dieser Seelenverfassung war er in das Lichtensche Haus getreten. Und seit langem hatte er sich nirgends mehr so rasch wohl und heimisch gefühlt, als in dem Kreise * dieser Familie, die ihn willkommen hieß und auf
nahm, wie ihren eigenen Sohn. Wenn ein wenig lindernd der Frieden über sein Herz geflossen war, so dankte er es vor allem diesen natürlichen, aufrichtigen Leuten und dem segensreichen Einflüsse ihres so unendlich glücklichen und abgeklärten Familienlebens.
Und dann konnte er sich auch nicht verhehlen, daß ihm Maja nahegetreten. Es wehte von ihr eine solche Reinheit, eine so unermeßliche Herzensgüte und eine so schrankenlose Wahrhaftigkeit aus, daß er seine kranke Seele darin badete, wie in der sonnen- lichtdurchströmten Atmosphäre nach einem Frühlingssturme.
Und dennoch gesundete sie nicht vollkommen. Er fühlte es äußerlich ruhiger, stiller werden, aber darunter lag noch der schwärende Giftstachel verborgen. So zog ihn die Lichtensche Familie und nicht zum mindesten Maja immer wieder an; aber trotzdem fühlte er, daß er nicht weiter gehen dürfe, als bis zu dieser Freundschaft, daß er nicht mehr verlangen konnte. Denn er vermochte selbst nicht mehr zu geben.
Er erkannte nur zu wohl, daß Maja ihm gut war; und die Liebe dieses jungen Kindes hatte ihm so wohl getan, daß er es nicht fertig gebracht hatte, der Gefahr zu fliehen. Glaubte er sich doch gefeit. Und nun verwünschte er diese Unvorsichtigkeit, die mit der Gefahr spielen zu können gemeint hatte.
Maja liebte ihn mit der ganzen Tiefe eines jungen, unverdorbenen Herzens. Und erwartete Gleiches für Gleiches. Was er ihr aber geben konnte, kam das ihren Gefühlen auch nur nahe?