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102 .
Neuenbürg, Freitag den 28. Juni 1912.
70. Jahrgang.
Run-schau.
Berlin, 26. Juni. Der Württemberger Helmut H.irth, der Sieger vom Oberrheinflug und vom Flug Berlin-Wien, war gestern mit seinem Begleiter auf diesen beiden Flügen, Leutnant Schüller, vom Kaiser zur Frühstückstafel auf die Hohenzollern geladen. Es nahmen daran noch u. a. teil: Generaldirektor Ballin, Bankdirektor v. Gwinner, Bankier Ludwig Delbrück, Kontreadmiral v. Rebeur-Paschwitz, Komandeur des aus Amerika zurückgekehrten Kreuzers „Moltke", ferner Pierpont Morgan und andere amerikanische und englische Dachtmen. Der Kaiser überreichte beiden Fliegern eigenhändig den Kronenorden 4. Klasse und liest sich mit Hirth in ein längeres Gespräch über das deutsche Flugwesen ein. Dabei wurde in erster Linie die Motorindustrie berücksichtigt, von welcher der Kaiser überzeugt ist, daß sie jetzt mit aller Energie an die Lösung eines zuverlässigen Flugmotors herantreten und bei ihrer Gründlichkeit auch Erfolg haben wird. Quantitativ könnten uns andere Länder zurzeit noch überlegen sein, äußerte sich der Kaiser, qualitativ seien die deutschen Maschinen und Motoren denen des Auslandes zum mindesten ebenbürtig. Der Kaiser ließ keinen Zweifel an dem warmen Interesse, das er der Lösung unserer flugtechnischen Fragen entgegenbringt, und für deren Förderung er gewillt ist, mit allen Mitteln einzugreifen.
Berlin, 26. Juni. Der genaue Zeitpunkt der Begegnung des Kaisers mit dem Zaren steht noch nicht fest. Voraussichtlich wird der Kaiser sich zunächst am 7. Juli nach Danzig begeben und von dort aus erst die Reise nach den finnischen Schären antreten. Nach der Rückkehr des Kaisers von Rußland wird Swinemünde angelaufen werden, wo sich die Gäste des Kaisers zur Nordlandreise einschiffen werden. Am 8. August wird der Kaiser wieder in der Heimat eintreffen.
Der Gesetzentwurf über eine allgemeine Be sitz - steuer, welcher dem Reichstage laut seinem eigenen Beschluß spätestens bis zum 36. April 1913 vorzulegen ist, wird dem Reichstage jedenfalls noch nicht gleich nach seinem Wiederzusammentritt im Herbste zugehen. Denn der Aufstellung dieses Gesetzentwurfes in den beteiligten Reichsressorts müssen eingehende Beratungen der Vertreter der Reichsregierung mit den Finanzministern der Einzelstaaten vorangehen, was aber wegen der eintretenden politischen Sommerruhe vor dem Herbst nicht zu ermöglichen ist. Erst wenn diese Verständigung erzielt ist, kann dann an die Ausarbeitung des genannten Gesetzentwurfes gegangen werden, zu welchem nachher zuvörderst das preußische Staatsministerium Stellung zu nehmen hat, worauf er an den Bundesrat gelangt. Wenn die Vorlage über die Besitzsteuer alle diese Stadien passiert hat, dann ist sie für den Reichstag reif, in welchem sie aber sicherlich erst nach Neujahr 1913 wird erscheinen können.
Karlsruhe, 27. Juni. Die Zweite Kammer hat heute nach 2tägiger Verhandlung die Novelle zum Wassergesetz von 1899 einstimmig angenommen. Durch diese Vorlage soll die badische Wasserwirtschaft, insbesondere die bessere Ausnützung der Wasserkraft, wesentlich gefördert werden unter möglichster Schadloshaltung der An- und Nebenlieger.
Wien, 27. Juni. Das Herrenhaus hat die Wehrvorlage in 2. Lesung einstimmig angenommen.
Wien, 26. Juni. Aus verschiedenen Teilen Ungarns kommen Nachrichten über einen bevorstehenden allgemeinen Erntearbeiterstreik. In vielen Komi- taten haben sich die Erntearbeiter dahin geeinigt, die Erntearbeiten nicht aufzunehmen, wenn ihnen nicht ein Tagelohn von 7 Kronen zugesichert wird.
Toulon, 27. Juni. Während der Schießübungen bei Salins d'Hyeres ereignete sich an Bord des Panzerkreuzers Jules Michelet ein Unglücksfall, dem mehrere Menschenleben zum Opfer
gefallen sein sollen. Die Explosion ist in einem Geschützturm durch die Entzündung einer Kartusche, die in das Geschützrohr eingeführt werden sollte, verursacht worden. 20 Perfonen wurden verletzt, 5 davon schwer, von denen einer bereits gestorben ist.
London, 27. Juni. Als das Königspaar auf seiner Fahrt durch Südwales die Kathedrale von Llandaff besichtigen wollte, durchbrach eine Stimmrechtlerin die Absperrun g und beschimpfte den Minister Mc. Ken na. Das wild gewordene elegante Weib rief. Minister dürfen keine Ausflüge in die Provinz unternehmen, solange Frauen im Gefängnis schmachteten. Bei ihrer Festnahme gab die Krakelerin an. sie sei aus London herübergekommen.
Kiel, 27. Juni. Bei der gestrigen Europa- Wettfahrt der Klasse ^1 erhielt die Kaiserjacht „Meteor" den ersten Preis.
Baden-Baden, 26. Juni. Heute ist ein Jahr verflossen, daß die „Schwaben" von Friedrichshofen aus ihre erste Fahrt unternahm. Während dieses Jahres wurden insgesamt 228 Fahrten ausgeführt.
Berlin, 26. Juni. Auf der hiesigen Kasse der Dresdener Bank ließ der Kassenbote Bruenning in einem unbeobachteten Augenblick 260 000 Mark in Papiergeld verschwinden und entfernte sich. Eins sofort vorgenommene Revision ergab das Fehlen dieses Betrages.
Berlin, 26. Juni. Der 48 Jahre alte aus Leipzig stammende Ingenieur der Maschinenfabrik von Robert Enzberger ist seit einigen Tagen unter Mitnahme von 100 000 flüchtig.
Leipzig, 27. Juni? Das Reichsgericht verurteilte heute nachmittag den 29 Jahre alten Obersignalmaat Albert Ehlert aus Wilhelmshaven wegen Verrats militärischer Geheimnisse zu 6 Jahren Zuchthaus. 10 Jahren Ehrverlust, Entfernung aus der Marine und Stellung unter Polizeiaufsicht.
Köln, 25. Juni. Die Kriminalpolizei verhaftete heute Nachmittag den Einbrecher Franz Beyer. Beyer kommt bei dem Raub der Kaiserkette des Kölner Männergesangvereins aus der Eigelsteiner Torburg, sowie bei dem kürzlich begangenen Einbruch in das Postamt in der Aachenerstraße unzweifelhaft in Frage. Er wurde außerdem noch wegen verschiedener anderer Einbrüche gesucht.
Weimar. 27. Juni. Auf der Chaussee nach Erfurt ist das Automobil eines Viehhändlers mit einemViehwagenzusammengestoßen. Das Automobil überschlug sich. Vier Insassen wurden schwer verletzt.
Zweibrücken, 26. Juni. Im nahen Landstuhl hatte ein Postsekretär ein böses Mißgeschick. Er gab am Schalter an eine ihm unbekannte Person anstatt einer Rolle mit 10 Pfennigstücken eine solche mit 20 Markstücken, also anstatt 5 ^ - 1000 ^! Der Postbeamte bittet in einem Zeitungsinserat, gegen Belohnung von 160 das Geld zurückzugeben; es hat sich aber bis jetzt noch niemand gemeldet. Für den ganzen Betrag ist der Beamte haftbar.
Vom Bodensee und Rhein, 26. Juni. In Schaffhausen hat der 41 Jahre alte frühere Stadtpolizist Streif seine 36 Jahre alte Frau und seinen 8 Jahre alten Sohn erschossen. Nach der Tat telefonierte er einem Bekannten, er möge die Polizei schicken; als diese sintraf, fand sie auch Streif tot vor, der sich mit seinem Ordonanzgewehr gleichfalls erschossen hatte.
Mürttembci'g.
Stuttgart, 26. Juni. Die Zweite Kammer beschäftigte sich heute zunächst mit dem Gesetzentwurf betr. Aenderung der Nummer 94 des Sporteltarifs und mit den Anträgen des Finanzausschusses zu den abweichenden Beschlüssen der Ersten Kammer. Den Anträgen des Ausschusses, die im wesentlichen dahin lauteten, auf den früheren Beschlüssen zu beharren, wurde zugestimmt. Einen breiteren Raum nahm die zweite Beratung des Gesetzentwurfs betr.
die Landeswasserversorgung ein. Die Debatte drehte sich in der Hauptsache darum, ob ein Zweckverband der Gemeinden gegründet werden soll oder nicht. Dazu lag ein Antrag Liesching (Vp.) vor, der eine Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Gemeinden im Wege der Gesetzgebung auch vor Ablauf der Vertragsdauer beibehalten wissen wollte. Für den Antrag, bezw. für die Schaffung eines Zweckverbandes traten die Abgg. v. Gauß (Vp.). Dr. Lindemann (Soz.), Fischer (Soz.), Liesching (Vp.) und Keßler (Ztr.) ein, wogegen die Abgg. v. Balz (natl), Rembold- Aalen (Ztr ), Ströbel (BK.), v. Mülberger (natl.), v. Perglas (BK.) und Hoffmeister (Wild) sich gegen den Antrag aussprachen, wobei insbesondere auch ausgeführt wurde, daß man alles vermeiden müsse, was geeignet erscheine, eine Verzögerung in der Ausführung des Projektes herbeizuführen. Der Abg. Ströbel (BK.) regte noch die Gewährung einer Entschädigung der Grundbesitzer an, denen ein nachweisbarer Schaden durch einen zu starken Wasserentzug zugefügt werde, ebenso eine Entschädigung der Triebwerksbesitzer, falls die Nauquellen weniger ergiebig fließen sollten. Minister v. Pischek, der u. a. bemerkt hatte, daß die Regierung den ernstlichen Versuch gemacht habe, einen Zweckoerband zu gründen, was aber an dem Widerstand verschiedener Gemeinden gescheitert sei, bemerkte gegenüber der Anregung Ströbel, daß die Gefahr einer Versenkung von Grundwasser nicht vorhanden sei und daß im Falle einer Schädigung der Artikel 3 des Wassergesetzes Anwendung finden würde. Schließlich wurde in namentlicher Abstimmung der Antrag Liesching mit 65 gegen 23 Stimmen abgelehnt und sodann in der Schlußabstimmung der ganze Gesetzentwurf mit 77 Stimmen bei einer Enthaltung (Keßler) angenommen. — Die Aenderung des § 64 der Verfassungsurkunde, wonach die Erste Kammer einen zweiten Vizepräsidenten wünschte, wurde in der Gesamtabstimmung gegen die Stimmen der Sozialdemokratie bei einer Enthaltung (Betz) genehmigt und hierauf noch die Beschlüsse der Eisten Kammer zum Ausführungsgesetz zur Reichversicherungsordnung angenommen. Die Schlußabstimmung über den ganzen Gesetzentwurf wurde auf morgen vertagt.
Stuttgart, 27. Juni. Die Zweite Kammer nahm in ihrer heutigen Sitzung in der Schlußabstimmung den Entwurf eines Ausführungsgesetzes zur Reichsversicherungsordnung mit 53 gegen 29 Stimmen an. Es folgte dann die zweite Beratung des Gesetzentwurfs betr. einen 6. Nachtrag zum Finanzgesetz nebst dem Entwurf eines Nachtragsetats betr. die neuen Versicherungsbehörden. Die Anträge des Finanzausschusses wurden im wesentlichen angenommen, ebenso eine Resolution, in der die Regierung ersucht wird, auch beim Oberamt Cannstatt ein Versicherungsamt zu errichten. In der Schlußabstimmung wurde dann der ganze Gesetzentwurf einstimmig angenommen. — Eine längere Debatte entspann sich sodann über die Kinemato- graphenfrage. Zu einer Eingabe des Landesverbands für Jugendfürsorge hatte der Ausschuß für innere Verwaltung vorgeschlagen, die Eingabe der Regierung zur Erwägung zu überweisen und sie zu ersuchen, im Bundesrat dahin zu wirken, daß die Kinematographen in den ß 33 a der Gewerbeordnung ausgenommen werden, sowie eine Ergänzung des württ. Polizeistrafrechtes in Erwägung zu ziehen, insbesondere in der Weise, daß der Besuch von Kinematographen durch jugendliche Personen eingeschränkt werden kann. Außerdem lag eine wiederholte Eingabe des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild, betr. öffentliche Auslagen, Schaufenster, Kinematographen und Mutoskope vor. Der Ausschußantrag ging dahin, die Eingabe der Regierung zur Erwägung, und, soweit sie sich auf die Mutoskope bezieht, zur Kenntnisnahme zu überweisen. Ferner soll die Regierung ersucht werden.