Zweites
Blatt.
Der «nztäler.
Zweites
Blatt.
SS.
Neuenbürg, Samstag den IS. Juni 1912.
70. Jahrgang.
RunSschau.
Berlin, 9. Juni. Aus einem eigenartigen Anlaß wurde die Feuerwehr heute vormittag nach der Butter-Engroshandlung von Gebrüder Gause gerufen. Dort hatten einige Angestellte in Abwesenheit des Chefs allerlei Allotria getrieben. Zwei von ihnen stiegen aus Uebermut in den großen Geldschrank und die übrigen schlugen die Türe zu. Unglücklicherweise hatten die beiden Eingeschlossenen die Schrankschlüssel bei sich, so daß der Schrank nicht wieder geöffnet werden konnte. Es entstand eine große Aufregung. Man rief die Feuerwehr zu Hilfe. Diese suchte zunächst die Schranktüre aufzubrechen. da es aber nicht gelingen wollte mußte sie sich dazu entschließen, durch das Mauerwerk ein Loch zu bohren. Erst nach fast einstündiger Arbeit glückte es den Mannschaften, ein Loch hindurchzustemmen, durch das dann die Eingesperrten die Schlüssel herausreichten, so daß die Schranktüre geöffnet werden konnte.
In einem der vornehmsten Berliner Hotels sah ein durch ein verdächtiges Geräusch erwachter Gast, wie direkt neben seinem Bette ein Mann mit abgewandtem Gesicht auf allen Vieren der Türe zu kroch. Nachdem der Gast sich von seinem ersten Schrecken erholt und laut gerufen hatte: Wer ist da? sprang der Eindringling auf und entkam so schnell, daß der Hotelgast ihn nicht mehr fassen konnte. Wie es sich herausstellte, fehlten dem aus seinem Schlafe Aufgeschreckten unter anderem 150 Mark, die mit einem Portemonnaie gestohlen worden waren.
Berlin, 12. Juni. Von der Schloßbrücke in Charlottenburg sprang heute nacht eine Frau mit ihren beiden Kindern in die Spree. Die Frau und ein Kind ertranken, das andere konnte gerettet werden.
Frankfurt a. M, 12. Juni. Die neue und originelle Idee der Großherzogin von Hessen, die Luftschiffahrt der Wohltätigkeit dienstbar zu machen: hat sich bisher in einer alle Erwartungen übertreffenden Weise bewährt. Die hiesige Flugpost-Zentrale in der Kaiserstraße, in der fortwährend ein halbes Dutzend Beamte der Reichspost den Menst versieht, ist ständig vom Publikum umlagert. Bis gestern nachmittag waren allein in Frankfurt rund 50000 Postkarten zu 20 Pfg. abgesetzt, dazu kommt die gleiche Zahl von Marken. Der Preis der Flugpostmarken, der ursprünglich 10 Pfg. betrug, wurde auf 20 Pfg. erhöht. Auch in den hessischen Nachbarstädten wird über einen ähnlichen guten Geschäftsgang berichtet.
München, 13. Juni. Der Schriftsteller Albert Hieber von Stuttgart gründete in München eine Reformtanzschule zur Ausbildung junger Mädchen für Varietö, Cabarett und Theater. Er nahm zahlreiche Schülerinnen im Alter von 7—15 Jahren auf, die vollständig nakt tanzen und gymnastische Uebungen machen mußten. Den Unterricht leitete der Herr Reformtanzlehrer vollständig unbekleidet. Hieber ließ sich an seinen Schülerinnen die schwersten Sittlichkeitsverfehlungen zu Schulden kommen. Nach 2*/« tägiger Verhandlung beantragte der Staatsanwalt 5 Jahre Zuchthaus und 10 Jahre Ehrverlust. Das Urteil lautete auf 5 Jahre Gefängnis, wovon 2 Monate Untersuchungshaft in Abrechnung kommen. Von einem VerbrechenwurdederAngeklagtefreigesprochen. Hieber wurde bewußtlos aus dem Saal getragen.
Der Hauptmann von Köpenick scheint nochmals die Oeffentlichkeit getäuscht zu haben. Das „Koburger Tageblatt" dementiert nämlich die von London aus verbreitete Nachricht vom Tode des sogenannten Hauptmanns von Köpenick, des Schusters Wilhelm Voigt. Dieser sei von Eisenach kommend in Koburg eingetroffen und nach Lauscha weitergefahren. Er habe sich im Warlesaal über seinen angeblichen Tod mit mehreren Herren unterhalten.
Teure Tropfen. Kürzlich war mitgeteilt worden, daß auf einer Versteigerung von Weinen, welche die Kgl. Domäne zu Rüdesheim veranstaltet hatte, 1 Stück — 1200 Liter 1907er mit 39 580 Mark bezahlt worden ist. Der Liter dieses kostbaren Gewächses stellte sich also auf 33 Der „Rüdes- heimer der Domäne wurde aber noch übertrumpft '
von der Edelbeeren-Auslrse des „Hattenheimer Nuß bäum". Jahrgang 1911 die die Freiherrlich Langwerth von Simmernsche Gutsoerwaltung zur Versteigerung brachte. Für das Stück dieses „1911er" wurden sogar 46 000 ^ bezahlt. Mehr als 38 Mark für einen Liter Wein —, wer sich das leisten kann und leistet, der muß fürwahr recht „im Vollen" sitzen.
St. Georgen, (Schwarzw.), 10. Juni. Vor etwa Jahresfrist wurde der treue Polizeihund „Grete", Herrn Stationskommandant Knapp hier gehörig, von einem Schramberger Automobil beim Ueberschreiten der Straße überfahren und getötet. Der Versuch des Besitzers, auf gütlichem Wege eine Entschädigung für das wertvolle Tier zu erhalten, scheiterte, weshalb er sich genötigt sah, den Klageweg zu beschreiten. Nun hat das Landgericht Konstanz kürzlich Herrn Knapp eine Entschädigung von 1000 Mark samt 4 Proz. Zinsen zugesprochen.
Vom Bodensee, 12. Juni. Das Schmugglerunwesen hat in den letzten Tagen wieder erheblich zugenommen. In den letzten 2 Tagen wurden ins Amtsgefängnis Stockach nicht weniger als 11 Personen, darunter 6 Frauen wegen Saccharinschmuggels eingeliefert, die in Singen und in Radolfzell verhaftet wurden.
Vom Boden see, 14. Juni. Die Niederlegung des großen Schornsteins der Bodmann'schen Ziegelei in Bodmann, der stets die Gegend verunzierte, ist endlich erfolgt. Der Schornstein wurde in den See gestürzt. Eine riesige Welle von etwa 6 Meter Höhe schoß den Gischt in einer Entfernung von 30 Meter über die Landungsbrücke weit in die Anlagen hinein auf die zahlreichen Zuschauer zu.
Paris, 12. Juni. Ein Landwirt in Chezery bei Bourges, der mit der Fütterung von Bienen beschäftigt war, wurde von dem Schwarm überfallen und so furchtbar zugerichtet, daß er nach wenigen Stunden unter gräßlichen Schmerzen starb.
Bern, 14. Juni. Infolge der starken Regengüsse wurde in den letzten Tagen bedeutender Schaden im Berner Oberland angerichtet. Der Eisenbahnverkehr ist unterbrochen, da die Dämme teilweise unterspült sind. Auch in Südfrankreich hat das Unwetter schlimm gehaust.
Mailand, 14. Juni. Ein furchtbarer Zyklon ist gestern nacht über Pisa und Umgebung niedergegangen. Durch Blitzschlag sind mehrere Feuersbrünste verursacht worden, die großen Schaden angerichtet haben. Viel Vieh ist verbrannt. Die tiefergelegenen Stadtteile Pisas sind überschwemmt.
In Georgia und Südkarolina wurden heftige Erdstöße wahrgenommen. Die Häuser schwankten. Die Negerbevölkerung war in größter Aufregung.
Die Stadt Buffalo im Staate Wyoming, die in einer engen Schlucht liegt, ist durch einen Wolkenbruch vollständig vernichtet worden. Von den 2600 Einwohnern der Stadt konnte sich der größte Teil rechtzeitig flüchten, so daß die Verluste an Menschenleben gering sind.
Württemberg.
Stuttgart, 12. Juni. Die „Deutsche Reichspost" schreibt: Es hat lange gebraucht, bis in Stuttgart endlich auf Drängen der Gewerbetreibenden die Warenhaussondersteuer eingeführt wurde. Dem Warenhaus Tietz wurde der Betrieb einer Wirtschaft genehmigt, was durchaus unnötig war, auch sonst kommt man diesen Herren entgegen, wo man kann. Wie wir hören, soll in den nächsten Tagen eine weitere Förderung der Warenhäuser dadurch erfolgen, daß man einer Filiale des Warenhauses Knopf das Verkaufslokal in dem neuen Gebäude der städtischen Sparkasse zu vermieten beabsichtigt. Gegen diese Absicht muß mit aller Entschiedenheit protestiert werden. Oeffentliche Gebäude sollten nicht den Warenhauskapitalisten ausgeliefert werden.
Stuttgart, 11. Juni. (Verein Deutscher Ingenieure.) Der heutige Nachmittag war der Besichtigung technischer Anlagen gewidmet. In einzelnen Gruppen wurden der neue Schlachthof, das Gaswerk, die neuen Hoftheaterbauten, die Schuh
fabriken von I. Sigle u. Co. in Kornwestheim, die Fachausstellung der württemb. Feinmechanik und Präzisionsindustrie im Landesgewerbemuseum sowie die Neuanlagen der Maschinenfabrik Eßlingen in Mellingen besichtigt. Zum Besuch der Maschinenfabrik Eßlingen hatten sich heute Nachmittag weit . über 200 Teilnehmer in einem von der Maschinenfabrik gestellten Sonderzug nach Mettingen begeben, wo die zahlreiche Gesellschaft vor der großartigen Neuanlage vom Direktorium und den Beamten der Fabrik empfangen wurde. Oberbaurat Keßler begrüßte die Erschienenen und knüpfte daran einige allgemeine Bemerkungen über die im Entstehen begriffene großzügige und mustergültige Fabrikanlage, die ein Areal von 250 000 gm einnimmt. Unter ebenso liebenswürdiger wie sachkundiger Führung wurden sodann die einzelnen Betriebsabteilungen besichtigt, die zusammen ein glänzendes Bild von der hervorragenden und glänzenden Entwicklung der württemb. Industrie darstellten. Als ein modernes technisches Wunderwerk repräsentiert sich die mechanische Werkstätte, in der zahlreiche fleißige Hände beschäftigt sind, um die gediegenen Erzeugnisse herzustellen, auf welche die ganze nationale Volkswirtschaft stolz sein kann. Wohin das Auge blickt, in den Kran- und Wagenbauwerkstätten, in der Eisengießerei, Kesselschmiede, Montierungshalle, Fernheizungsaulage, überall ist technisch Vollkommenes geleistet worden. Sämtliche Gebäude sind sehr gut belichtet und erfüllen in jeder Beziehung ihren Zweck. Jede Werkstätte hat reichlich bemessene Räume für die Kleiderübloge und für die mit Warmwasserleitung und gußeisernen Kippbecken versehenen Wascheinrichtungen. Besonders die Heizanlage des ganzen Werkes kann als durchaus gelungen bezeichnet werden. Alle Werkstätten sind mit elektrisch angetriebenen Kranen und Hebezeugen reichlich versehen. Das Werk wird durch elektrisches Bogen- und Glühlicht unter ausgiebiger Verwendung von hochkerzigen Metallfadenlampen beleuchtet. Zur Vermittlung zwischen den einzelnen Gleisen auf dem Gelände ist eine elektrisch betriebene Doppelschiebebühne vorhanden. Sofern der geplante Neckar-Schiffahrtskanal bis Eßlingen durchgeführt werden kann, wird das Werk durch einen Stichkanal angeschlossen werden. Die Gäste, die nach eingehender Besichtigung noch in freundlicher Weise bewirtet wurden, konnten sich in der Anerkennung des Gesehenen nicht genug tun. Allgemein lautete das Urteil dahin, daß die Eßlinger Maschinenfabrik mit ihren neuen Werkstätten eine technische Anlage bildet, die der deutschen Technik in Theorie und Praxis zur Zierde gereicht. Möge denn das große Werk dem ganzen Lande zum Segen gereichen.
Stuttgart, 13. Juni. Bei der hiesigen Sittenpolizei .lief eines Tages ein Brief ein, in dem eine Büffetdame des unzüchtigen Lebenswandels bezichtigt wurde. In dem Brief hieß es, daß die Nachbarschaft an dem Zuwandel von Männern zu dem Mädchen Aergernis nehme. Es hätte nicht viel gefehlt, daß die Polizei gegen das Mädchen, das in einem hiesigen Etablissement eine Vertrauensstellung einnimmt und eine ehrbare Person ist, eingeschritten wäre. Es stellte sich heraus, daß die Anzeige eine glatte Erfindung war und als Briefschreiberin entpuppte sich die Kellnerin Luise Kraut, gegen die nunmehr Anklage wegen falscher Anschuldigung erhoben wurde. Sie hat die Logisfrau der Büffetdame treffen wollen. Diese hat nämlich ihrem sogenannten Bräutigam das Zimmer gekündigt, weil sie, die Angeklagte, ihn öfters besuchte. Die Angeklagte stand früher unter Sittenkontrolle und sie hat es auch noch nötig, ehrbaren Leuten Unannehmlichkeiten zu bereiten. Die Strafkammer war der Ansicht, daß ihr in Anbetracht der gemeinen Handlungsweise Milderungsgründe nicht zur Seite stehen und verurteilte sie zu 3 Monaten Gefängnis.
Stuttgart, 10. Juni. Hier versuchen seit mehreren Tagen einige Burschen mit folgendem, anscheinend ganz einträglichem Mittel die Gutgläubigkeit der Leute auszunützen. Zunächst werden die Adressen besonders wohltätiger Leute ausspioniert, um ihnen dann unter dem Namen einer gut bekannten hiesigen Person wie folgt zu telephonieren: „Hier — Da ist bei mir ein lungenkranker junger