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.« 144.
Neuenbürg, Samstag de» 8. September 1911.
69. Jahrgang
4
Run-schau.
In der Marokko frage ist es sehr erfreulich, daß der deutsche Michel, den man so oft in seiner Zipfel- oder Schlafmütze verspottet, mit weithin hörbarem Ruck sich zu energischem Tun aufgerafft hat. Wir haben es an den Sedanfeiern gemerkt. Es war ihnen diesmal allüberall ein durch die augenblickliche Weltlage hervorgerufener weihevoller Einschlag gegeben. Die zimperliche Zurückhaltung, die i Scheu, den großen Tag deutscher Wiedergeburt würdig zu begehen, war dem gehobenen vaterländischen Pflichtgefühl, dem berechtigten Stolz vor deutscher Kraft gewichen. Ein kräftiger Zug nationaler Begeisterung geht wieder durch das Volk als ein Beweis dafür, daß über dem nüchternen Erwerbsgetriebe des Alltags der Sinn für die Ehre der Nation in solchen Kreisen noch nicht erstorben ist, die das Vaterland über die Partei zu stellen bereit sind. Schon lange nicht mehr hat in unseres Landsmanns schöner „Wacht am Rhein" der Vers so kräftig geklungen wie diesmal: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein . . ." Das Ergebnis der Verhandlungen in Berlin, die in dieser Woche wieder ausgenommen wurden, ist zur Stunde noch nicht bekannt. Vielleicht werden sie gar abgebrochen. Im Publikum hat sich das Gerücht schon einmal verbreitet, nachdem die Mär von der Ermordung unseres Botschafters in Paris wie eine Rakete aufgestiegen und, wie eine solche, mit leerem Schall verplatzt war. Ein Blick auf die deutschen maßgebenden Organe zeigt das Bild völliger Ruhe, jener Ruhe des guten Gewissens, die auf der anderen Seite der Vogesen fehlt. Wir halten unsere ! Parade ab wie alle Jahre, gehen ins Manöver wie in der Zeit des tiefsten Friedens, haben sogar die Nordsee von unserer gesamten Flotte entblöst, da sie in der Ostsee vor den Augen des Kaisers und seines ! Freundes, des Thronfolgers Franz Ferdinand von ! Oesterreich, ihren Uebungen obliegt, während Frank- ! reich in Toulon eine demonstrative, die Pariser i vollends aus dem Häuschen bringende Flottenparade abhält und dem englischen Generalissimus French durch Jngenieuroffiziere die Sperrforts an der deutschen Grenze zeigen läßt, wohl in der Hoffnung, uns dadurch einzuschüchtern; als ob nicht Fürst Bismarck unter dem donnernden Beifall des ganzen Volkes schon vor Jahrzehnten die Worte gesprochen hätte, daß der Appell an die Furcht nimmermehr ein Echo in deutschen Herzen finden werde, als ob nicht schon Ernst Moritz Arndt von den Deutschen gesungen hätte: „Es wurden die Väter gepriesen — als mutige Löwen im Streit, — die Weichlinge nannten sie Riesen, — ihr Schwerthieb schlug tief und schlug breit, — ihr Speer fuhr durch Roß und durch Reiter. — durch Panzer und Schild, wie der Blitz. — Sie fürchteten Gott und nichts weiter, — und hielten nur Tugend für Witz." — Haben wir es den Franzosen nicht im geringsten verübelt, daß sie und gerade die leitenden Persönlichkeiten die Flottenschau zum Anlaß nahmen, etwas gar zu stark in Hurrapatriotismus zu machen, so waren wir aufs angenehmste berührt von der vornehm ruhigen Art, in der die deutsche Flottenschau in der Kieler Bucht vor sich ging. Es erübrigte sich für uns, die vollständige Kriegsbereitschaft unserer Schiffe urdi et ordi zu verkünden, es erübrigte sich auch, Vergleiche mit Frankreichs Flotte zu ziehen, wie es in wenig taktvoller Weise der sattsam bekannte Minister Delcass6 uns gegenüber tat, aber daß zum Stolz unserer Armee auch unsere Flotte schon prächtig herangewachsen ist, so daß wir zu Lande nichts zu befürchten brauchen und zu Wasser uns recht wohl sehen lassen können, das befriedigt uns innerlich aufrichtig, ohne daß wir große Worte dazu zu machen nötig haben. Mögen die deutsch-französischen Verhandlungen über Marokko ausgehen, wie sie wollen, das Ergebnis werden sie für Deutschland unter allen Umständen haben: die Erkenntnis und
die Ueberzeugung, daß die britische Politik antideutsch ist und bleibt. Darum gilt es auch für unsere Regierung, fest zu bleiben. Es geht nicht mehr um Marokko oder um sonst ein Stück Afrika, sondern um das Ansehen unseres Reiches in der Welt, der wir schon viel zu viel Nachgiebigkeit um des lieben Friedens willen gezeigt haben. Nur fremder Haß und fremde Mißgunst zwingen uns. überhaupt an die Tatsache zu erinnern, daß Deutschland noch ein Schwert an seiner Linken führt.
Berlin, 8. Sept. Wie der Berliner Berichterstatter der Wiener Zeit erfährt, hat sich der Reichskanzler durch den deutschen Botschafter in London über den englischen Botschafter in Wien wegen dessen Aeußerungen in der „Neuen Freien Presse" beschwert. Man hat in Berlin bestimmte Anhalte dafür, daß die Aeußerungen von Hrn. Cartwight kommen, und Graf Wolf Metternich ist angewiesen, von Cartwrighl eine Entschuldigung zu verlangen, andernfalls wird man in Berlin das gesamte Material über das Ränkespiel des englischen Botschafters in Wien gegen die Reichsregierung, das sich schon in München angehäuft hat, veröffentlichen, zumal die Stimmung in Berlin augenblicklich viel schärfer gegen England als gegen Frankreich ist.
Berlin, 7. Sept. Die „Nordd. Allg. Ztg." teilt mit, der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, der gestern abend von Kiel in Berlin eintraf, batte alsbald nach seiner Ankunft eine längere Besprechung mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Im Lause des heutigen Tages schlossen sich mehrfach Konferenzen an.
Der Berliner Korrespondent des Temps weiß zu berichten, daß es noch unbestimmt sei, ob heute eine Besprechung zwischen den Herren Cam- bon und v. Kiderlen - Wächter stattfinde, jedenfalls könnte es erst am späten Nachmittag geschehen. Die Abfassung der deutschen Antwort erfordere wahrscheinlich eine gewisse Zeit. Die Meinungsverschiedenheiten seien in Einzelfragen noch ziemlich groß; die Verhandlungen würden aber, wie man in unterrichteten Kreisen annehme, vor Ende des Monats zum Abschluß kommen.
Paris, 8. Sept. Ueber die deutsch französischen Unterhandlungen gab der Minister de Selves nach dem gestrigen Ministerrat einem Mitarbeiter des Matin gegenüber folgende Erklärung ab: Man muß sich gegenwärtig ebenso sehr vor einem lächerlichen Optimismus wie vor einem übertriebenen Pessimismus hüten. Mein Eindruck ist, daß die in Berlin angeknüpften Besprechungen noch lange dauern werden.
Die Teuerungsunruhen in Frankreich dauern noch ungeschwächt fort. In Bollville bei Lille kam es erneut zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Manifestanten und der Polizei, wobei 5 Polizisten schwer verletzt wurden. Zu schweren Unruhen kam es auch in Halluin, einem kleinen Orte an der belgischen Grenze, wo seit dem 2. Juni d. I. etwa 500 Arbeiter einer Baumwollspinnerei im Ausstand sind. In St. Quentin brannte die Besitzung eines Großviehhändlers nieder. Man vermutet Brandstiftung. In Dünkirchen fanden auf dem Wochenmarkt zwischen den Käufern und Händlerinnen wegen der hohen Lebensmittelpreise arge Raufereien statt. In der Nähe der Stadt wurden von Ruhestörern einige auf den Weideplätzen grasende Rinder durch Steinwürfe und Stockhiebe verletzt. — Die Hinauszerrung der Entscheidung über die Marokko- Angelegenheit hat auch in Frankreich eine nervöse Stimmung hervorgerufen. Von ihr zeugen u. a. die umlaufenden Gerüchte, wonach die zur Reserve abgehenden Mannschaften nach Beendigung der französischen Manöver bis auf weiteres unter der Fahne noch zurückbehalten werden sollen.
Der türkische Tronfolger Jussuff JzzedinEf- fendi weilt noch immer auf deutschem Boden. Am Mittwoch wohnte er im Manövergelände des 18. Armeekorps einem Gefecht bei und besichtigte dann
die Saalburg, worauf er sich nach Homburg begab. Am Donnerstag reiste der Prinz nach Wien weiter.
Württemberg.
Stuttgart, 8. Sept. Die Brigademauöver innerhalb der 27. Division nahmen gestern ihren Anfang; heute beginnen die Brigademanöver in der 26. Division. Der kommandierende General Herzog Albrecht von Württemberg begab sich heute in Begleitung des Generalstabschefs in das Gelände bei Aulendorf und wohnte dem Manöver der 53. Infanterie-Brigade an. Nachmittags fuhr der Herzog mit Begleitung weiter nach Ehingen.
Stuttgart, 7. Sept. Am 1. September d. I. fand unter dem Vorsitz des Vorstands der Zentralstelle für die Landwirtschaft eine Besprechung statt, zu der außer den Mitgliedern des Verwaltungsausschusses einige weitere Landwirte aus verschiedenen Gegenden des Landes eingeladen waren. Zunächst wurde Bericht über das Ergebnis der von der Zentralstelle durch Vermittlung der landwirtschaftlichen Bezirksvereine angestellten Erhebungen erstattet. Nach dem Urteil dieser Vereine werden die Rauhfuttervorräte (Heu, Stroh. Oehmd) bei richtiger Einteilung im allgemeinen ausreichen, ohne daß eine irgendwie nennenswerte Verringerung der Viehstände vorgenommen werden muß. Wenn, was nicht als ausgeschlossen erscheint, da und dort ein in bescheidenen Grenzen sich haltender außerordentlicher Absatz von Vieh, sowie auch der Zukauf von Rauhfutter nicht ganz umgangen werden kann, so dürfte doch soviel feststehen, daß der Bedarf an letzterem im Lande gedeckt werden kann, bezw. zum Teil bereits gedeckt worden ist. In gleichem Sinne haben sich die anwesenden Landwirte geäußert. Die Feststellung, daß die Rauhfuttervorräte ausreichen werden, ist recht wertvoll, sie ist auch geeignet, zur Klärung der Sachlage sehr wesentlich beizutragen. Von einem Notstand kann in Bezug auf die Rindviehhaltung nicht gesprochen werden. Es liegt daher auch kein Anlaß zu übereiltem Viehverkauf zu gedrückten Preisen vor. Anerkannt muß dagegen werden, daß die Verhältnisse für die Landwirte insofern recht ungünstig liegen, als die Erzeugungskosten für Vieh und Viehprodukte infolge des ungewöhnlich starken Zukaufs von Krastfuttermitteln und Streumaterialien und zum Teil auch von Rauhfutter in die Höhe gehen werden bezw. bereits in die Höhe gegangen sind. Es wäre den Landwirten zu gönnen, wenn etwas höhere Preise für tierische Erzeugnisfe wenigstens teilweise einen Ausgleich bieten würden. Die von den landwirtschaftlichen Bezirksvereinen gestellten Anträge bezwecken in der Hauptsache eine Verbilligung der Kraftfuttermittel und Streumaterialien, sowie die tunlichste Erleichterung der Zahlungsbedingungen. Einem Teil dieser Anträge — Abgabe von Waldstreu unter günstigen Bedingungen, Erleichterung des Bezugs von Torfstreu aus dem staatlichen Torfwerk und Gewährung von Frachtermäßigung für bestimmte Kraftfuttermittel und Streumaterialien — ist bereits entfprochen worden.
Aus StaSt, Bez irk u nS Umgebung.
X Neuenbürg, 9. Sept. Heute verläßt uns nach 8jähriger Tätigkeit im Bezirk der bisherige Vorstand des hiesigen Kameralamts, Hr. Kameral- verwalter Bunz, um seine neue Stelle als Vorstand des Kameralamts Großbottwar anzutreten. Eine Ehrung durch eine öffentliche Abschiedsfeier hat derselbe abgelehnt. Es sei nun hiemit zum Ausdruck gebracht, daß sein Weggang von hier überall lebhaft bedauert wird. Wir verlieren in ihm einen pflichttreuen, gewissenhaften Beamten, der jedermann mit Wohlwollen entgegenkam und der überall im Bezirk Vertrauen und Hochachtung genoß. Unsere besten Wünsche begleiten ihn und seine Familie in ihre neue Heimat.