663

Dresden, 19. Sept. Auf dem sozialistischen Parteitage sprach gestern zunächst Kolb-Karlsruhe als Vertreter der revisionistischen Richtung, dann als Gegner der Revision Stöcklen-Altenburg und Meist-Köln. Darauf polemisirten Trimm-München und Auer-Berlin scharf gegen Bebel. Auer erklärte, das er nach dem glänzenden Wahlkampf die Agitation Bebels nicht begreife. Die Gegner behaupten, daß die Revisionisten den Klassenkampf ablehnen und Annährung an die bürgerliche Linke suche. Beides tue er nicht, wer etwas anderes sage, verleumde. Timm teile mit, daß die Berliner Delegirten die Wiederwahl Auers in den Vorstand zu vereiteln gesucht hätten. Fischer bestätigt dies in einem Zwischenruf. Dies gab Anlaß zu vielen erregten persönlichen Bemerkungen und großen Lärmszenen. Auer erklärte schließlich, man möge dem grausamen Spiel ein Ende machen, er könne es nicht länger anhören. Singer teilte darauf mit, daß sich Ge­heimpolizisten im Saale befänden und warnte vor unvorsichtigen Aeußerungen. Um 8'/» Uhr wurde die Sitzung auf heute Vormittag vertagt.

Dresden, 19. Sept. In der heutigen Vormittagssitzung des sozialdemokratischen Parteitages wurde die gestrige Debatte fort­gesetzt. Als erster Redner sprach Kautskh. Dieser beschuldigte die Revisionisten, daß sie eine Annäherung an die bürgerlichen Parteien anstrebten. Er wandte sich insbesondere gegen die gestrigen Aeußerungen des badischen Landtagsabgeordneten Kolb, es sei möglich, die soziale Frage auf fried­lichem Wege zu lösen. Wenn das Proletariat die Macht habe, dann würde es dieselbe nicht mit einer bürgerlichen Partei teilen sondern für sich selbst in Anspruch nehmen. Nach ihm folgte Bernstein. Derselbe erklärte, wenn die bürgerlichen demokrati­schen Parteien sich mit den Sozialdemokraten einigen wollte^, so liege es im Interesse des Proletariats und es wäre eine Pflichtvergessenheit, ein solches Bündnis abzulehnen. Er halte die Erledigung der sozialen Frage auf friedlichem Wege wohl für möglich. Ferner betonte er die Notwendigkeit, die Vizepräsidentenstelle im Reichstag zu erlangen. Durch die Besetzung dieses Postens würde der Partei kein Schaden zugefügt. Es sei im nächsten Reichs­tage noch mehr wie im vorigen eine Ueberrumpelung zu befürchten Die sozialdemokratische Partei müsse hierauf möglichst vorbereitet sein und dafür mit aller Macht sorgen, den Posten zu erhalten. Die Sozialdemokratie habe ihren großen Einfluß auf das Volk nur dadurch erlangt, daß sie sich von Stufe zu Stufe im Parlament mauserte und diese Mauserung habe nichts geschadet sondern im größten Teil genutzt. Redner Bernstein wandte sich dann gegen die Resolution Bebel und gab den Rat, die­selbe im Interesse der Einigkeit zurückzuziehen, da der Parteitag schon jetzt Beschlüsse gefaßt habe, welche man nicht befolgen könne. Heute Nachmit­tag erfolgt Schluß dieses Punktes der Tagesordnung, morgen wird weiter beraten, Montag soll die Be­

teiligung an den preußischen Landtagswahlen zur Sprache kommen.

Berlin, 19. Sept. Nach Meldungen aus Dresden hat der sozialdemokratische Parteitag gestern abend die Resolution Bebel- Singer-Kautsky über die Vizepräsidenten­frage mit einem verschärften Zusatzantrage Stadt­hagen angenommen. Auch verschiedene Revisionisten wie Auer, Heine, Dr. Braun, Göhre und v. Vollmar stimmten für die Resolution. Dagegen stimmten Bernstein, David, v. Elm, Grenz-Leipzig, Hering, Grünburg, Hue-Essen, Müller-München und Schwarz. Insgesamt stimmten 288 für und 11 gegen die Resolution. Der Vorstand wurde wieder gewählt und als Ort des nächsten Parteitages Bremen be­stimmt. Heute werden die Beratungen fortgesetzt und voraussichtlich zu Ende geführt.

Berlin, 19. Sept. Die gestrige Galatafel im großen Rotundensaale der Wiener Hofburg war eins der großartigsten und prunkvollsten Feste dieser Art, die seit Jahren an der Wiener Hofburg statt­fanden. Die Gesellschaft hatte vorwiegend militä­rischen Charakter. Kaiser Wilhelm trug zum ersten Male die Uniform eines österreichischen Ge­nerals der Kavallerie. Die Toaste der beiden Herrscher machten durch ihren hochbedeutsamen po­litischen Inhalt allenthalben Eindruck. Am stärksten war die Wirkung nach Kaiser Wilhelms Worten, die von der Gesellschaft auf den Armeebefehl be­zogen wurden. Besonders rief die Stelle, wo er von den stolzen Regimentern sprach, freudige Er­regung unter den österreichischen Militärs hervor. Nach der Morgenpost machte den tiefsten Eindruck bei dem Gala-Diner eine Szene, die sich nach dem Toast Kaiser Wilhelms abspielte. Kaiser Wilhelm hatte den Toast beendet, die Gläser waren aneinan­der geklungen, als Kaiser Wilhelm das Glas nieder­stellte und sich hierauf beide Monarchen fest um­schlangen und küßten.

Berlin, 19. Sept. Die Vosstsche Zeitung meldet aus Magdeburg: Wegen Promenirens in der Badehose verurteilte das Schöffen­gericht in Arendsee den Naturmenschen Gustav Nagel zu 150 Geldstrafe evtl. 30 Togen Haft. Der Richter empfahl dem Verurteilten, zu den Hotten­totten auszuwandern.

Berlin, 19. Sept. WiederLokal-Anzeiger" aus Kassel berichtet, vergiftete sich in einem dortigen Hotel mit Cyankali der I)r. wsä. Pool, Spezialist für Ohren- und Haut-Krankheiten. Er war früher in Köln, Frankfurt und Lüdenscheidt. In Reichenbach in Schlesien wurde der Oberförster Ernst beim Grafen Westphalen-Kulm in Diensten stehend, von Wilddieben erschossen.

Berlin, 19. Sept. Der Rücktritt des englischen Kolonialministers Charnberlain wird einer Londoner Depesche desLokal-Anzeigers" zu­folge auch im conservativen Klub als eine Schwäch­

ung der Regierung angesehen, der man keine zu lange Lebenszeit mehr zuspricht. Einen Sieg der Opposition bei den nächsten Generalwahlen hält man auch im unionistischen Klub für wahrscheinlich. Die Tatsache, daß alle Minister London verlassen haben, zeige, daß trotz der Gerüchte weitere Demis­sionen nicht zu erwarten sind. Die Parlamentarische Stimmung ist vorläufig schwer zu ermitteln, da fast alle Abgeordnete auf dem Lande weilen. Als Nachfolger Chamberlains wird jetzt auch der erste Lord der Admiralität Earl of Selborne genannt.

B erli n, 19. Sept. Zu der Monarchen­begegnung in Wien wird berichtet: Ein Staatsmann, der an der Kaiserbegegnung teilnahm, erklärt einem Mitarbeiter der Neuen Freien Presse, daß das Verhältnis zwischen Oesterreich und Ungarn von den beiden Kaisern nicht besprochen werden wird. Deutschland halte daran fest, sich in innere Angelegenheiten der österreichisch-ungarischen Mon­archie nicht einzumischen. Als sicher darf aber an­genommen werden, daß in den Konferenzen zwischen den beteiligten deutschen Staatsmännern vor Allem die Orientfrage behandelt werden wird. Unrichtig sei, daß Deutschland beabsichtige, Oesterreich-Ungarn davon zurückzuhalten, mit Rußland gemeinsam im Orient zu intervenieren. Es sei sicher, daß Ruß­land kein bewaffnetes Einschreiten im Orient plane. Die Grafen Lambsdorff, Goluchowsky und Bülow seien überzeugt, daß der Friede auf dem Balkan einstweilen noch erhalten bleiben wird, und daß Bulgarien jetzt nicht losschlagen werde. In Wiener diplomatischen Kreisen ist man der Ansicht, daß die Reise des deutschen Kaisers nach Wien zunächst nur einem persönlichen Bedürfnis entsprang, wenn man auch glaubt, daß die Eventualitäten, die die Lage auf dem Balkan mit sich bringen können, von den beiden Monarchen besprochen werden. Eine endgiltige Festsetzung neuer Wege zur Verhinderung des Blutvergießens auf dem Balkan erwartet man erst von der Ankunft des Zaren in Wien. Tie Entwickelung des blutigen Kampfes auf dem Balkan läßt es notwendig erscheinen, die bestehenden Vereinbarungen zwischen Oesterreich und Rußland dem neuen Verhältnis entsprechend zu revidieren.

Berlin, 19. Sept. Wie der Lokalanzeiger aus Zürich meldet, erfolgte heute mittag bei wunderbarer Klarheit der Alpen der Aufstieg des Luftschiffers Spelterini.

Berlin, 19. Sept. Ueber den großen Brand­schaden in Galizien meldet das Berliner Tageblatt aus Lemberg: durch den Brand, der vorgestern Abend in Zloczow ausgebrochen ist, sind bei dem herrschenden Sturme 1500 Gebäude, dar­unter 600 Wohnhäuser und viele öffentliche Gebäude ein Raub der Flammen geworden. Vier gänzlich verkohlte Leichen sind bereits gefunden. Wasser­mangel erschwerte die Rettungsaktion. Aus den

die §and zum ewigen Frieden reichen! Möchtet ihr die letzten Opfer der gewaltigen Zwietracht gewesen sein, welche gleich einem finsteren Ungetüm in den Schluchten und Felsspalten der Vogesen lauernd haust, die Völker hüben und drüben zu verderbenbringendem Streit aufhetzend. Ruhet still und friedlich, ihr tapferen Krieger! Ihr sollt nicht vergessen sein!

Es war ein furchtbares, gewaltiges Ringen am heißen Nachmittage des 18. August," sprach mit tiefer Stimme der General.Unser Regiment, ich meine das Regiment, in dem dein Vater und ich als Hauptleute standen, befand sich in zweiter Stellung hinter den Garden, die sich südlich und nördlich der breiten Chausee zum Angriff auf St. Privat entwickelten. In leidlich gedeckter Stellung sahen wir die braven Regimenter dem Verderben entgegengehen. Dort südlich des Ausgangs von Sainte-Marie-aux-Chenes ging das Kaiser-Franz-Regiment vor; rechts von ihm das RegimentKönigin." Kaum hatte sich das Kaiser-Franz- Regiment in Bewegung gesetzt, als sämmtliche Stabsoffiziere schwerverwundet zusammenbrachen. Major von Linfingen schleppte sich, auf ein Gewehr gestützt, noch weiter vor, bis er von einem zweiten Geschoß getroffen wurde. Als das Regiment jene Hecken dort erreichte, hatte es fast sämmtliche Offiziere verloren und die Kompagnien waren zu kleinen Häuflein zusammengcschmolzen. Aehnlich erging es dem Regiment Königin. Das Massenfeuer zerriß die Kompagnien und schmetterte ganze Reihen der Tapferen nieder. Nach einstündigem Ringen blieben die Regimenter erschöpft in jener Mulde liegen. Major von Bchr war der ein­zige unverwundete Stabsoffizier der beiden Regimenter. Nördlich der Straße ging die erste Gardebrigade vor, das erste und dritte Garderegiment. Auch diese braven Regimenter mußten den Angriff aufgeben, sie unterhielten gleich den Regi­mentern südlich der Straße ein heftiges Feuergefecht mit der Uebermacht des Feindes. Erst als sich die Umgehung der Sachsen von Noncourt her bemerkbar machte,

erfolgte der letzte entscheidende Surmanlauf gegen St. Privat. Zur Unterstützung des Angriffs war auch unsere bislang in Reserve befindliche Brigade bestimmt. Ueber das mit Toten und Verwundeten bedeckte Feld ging unser Marsch, fast gleichzeitig mit den Garden und Sachsen trafen wir bei St. Privat ein, das ein brennender Trümmerhaufen war. Die zerschmetterten Bataillone der Garden jauchzten uns entgegen und hinein ging es in das Chaos von Blut und Flammen, die heiß umstrittene Stellung dem Feinds vollständig zu entreißen. In diesem wilden Straßengefechte, über das sich bereits das Dunkel des Abends breitete, fiel dein Vater. Er wurde schwer verwundet aus dem Gefecht getragen, wir haben ihn später zur ewigen Ruhe gebettet, neben ihm unseren besten Freund Hauptmann Martens, der in einem Gefechte gegen Franctireurs fiel."

Wo sind die Gräber, Onkel?"

Nicht hier auf dem Schlachtfelds, mein Junge, sondern drunten im Tal, im Park eines Schlaffes, in dem ein Feldlazareth eingerichtet war und das un­serem Bataillon später als Stabsquartier diente. Schloß Ladonchamps ist sein Name. Auf dem Rückwege wollen wir die Gräber besuchen."

Dis beiden Offiziere wandten die Pferde und ritten durch St. Privat auf der großen Straße in das Moseltal zurück, auf eben derselben Straße, auf der vor zwanzig Jahren die geschlagenen Hceresmosscn der Armee des Kaisers Napo­leon zurückgeflutet waren, in wilder Unordnung, bis unter die schützenden Mauern des Forts St. Quentin Plappevills und der Festung Metz selbst.

Die Straße zog sich eine tiefeingeschnittene Schlucht hinab, deren Seiten mit fast undurchdringlichen Wäldern und mehr dem Tale zu mit üppigen Wiesen und Weingärten bedeckt waren. Auf den Anhöhen lagen einzelne Farmen, in den saftig grünen Tälern freundliche Dörfer. Eine idyllische Ruhe, ein tiefer Frieden herrschte in dem fruchtbaren Tale. (Fortsetzung folgt.)