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^ 192.

Neuenbürg, Samstag den 5. Dezember 1908

66. Jahrgang.

MM

Der Reichstag setzte am Dienstag die Be- ! ratung über die Abänderungsvorschläge zur Gewerbe­ordnungsnovelle beim Z 137, der die Arbeitszeit der Arbeiterinnen behandelt, fort. Bei der Ab­stimmung wurden alle Abänderungsanträge abgelehnt, so daß es bei der Regierungsvorlage verblieb. ^>!,8 137a, der die Mitnahme von Arbeit nach Hause < regelt, wurde mit einem Abänderungsantrag Behrends A angenommen. 8 138a, der die Bestimmungen über i Ausnahmetage enthält, wurde in der Kommissions- ^ ,'assung angenommen. Auch die Definition des Be­griffesFabrik" und einige besondere Schutzbestimm­ungen für Jugendliche wurden nach längerer Debatte "-unverändert gemäß den Kommissionsbeschlüssen an­genommen. Am Mittwoch wurde über die bekannten Anträge der Freisinnigen, Sozialdemo­kraten und Polen auf Abänderung der Ver­fassung (Ministerverantwortlichkeit) und der Ge­schäftsordnung verhandelt. Staatssekretär von Bethmann-Hollweg gab zunächst eine Erklärung im Namen des Bundesrats ab. Dieselbe besagt in ihrem wesentlichsten Inhalte, daß die Verantwort­lichkeit des Reichskanzlers schon zu der Zeit des Norddeutschen Bundes als politisches Prinzip regierungsseitig anerkannt, aber ebenso jede versuchte Geltendmachung dieses Prinzips stets abgelehnt worden sei, da juristische Formen nur geringen Wert besäßen. Die verbündeten Regierungen könnlen nicht eher materiell Stellung zu den eingebrachten Initiativanträgen nehmen, so lange nicht feste Be­schlüsse des Reichstages hierzu vorlägen. Als erster Redner aus dem Hause nahm nun Abg. Müller- Meiningen von der freisinnigen Volkspartei das Wort. Er trat mit Entschiedenheit für die gesetz­liche Festlegung der Verantwortlichkeit des Reichs­kanzlers und die Errichtung von wirklichen Reichs­ministerien ein. Der Zentrumsabgeordnete Spahn schloß sich den Ausführungen des freisinnigen Vor­redners an und verbreitete sich dabei des näheren darüber, wie das Zentrum die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers durchgeführt sehen will. Der nach­folgende Redner von der sozialdemokratischen Fraktion, Abg. Ledebour, vertrat in einer an drastischen Wendungen reichen Rede die bekannten Anträge seiner Partei, betreffs der Ministerverantwortlichkeit, mit einem Appell an Zentrum, Nationalliberale und Freisinnige zum Zusammenarbeiten mit der Sozial­demokratie. Der polnische Abgeordnete, Graf Miel- zynsky begründete kurz den Antrag seiner Partei auf Berufung des Reichstages, falls ein Drittel der Abgeordneten sie verlange. Namens der National­liberalen erklärte Abg. Junck, sie seien bereit, am Zustandekommen eines Ministerverantwortlichkeits­gesetzes und an der Abänderung der Geschäfts­ordnung (Einführung der Beschlußfassung nach Interpellationen) mitzuwirken. Energisch sprach sich der nationalliberale Redner gegen jede Verquickung der jetzt zur Erörterung gelangten konstitutionellen Frage mit der Reichsfinanzreform und ebenso gegen den sozialdemokratischen Antrag aus, wonach die Zustimmung des Reichstages zu einer Kriegs­erklärung erforderlich sein soll. Als letzter Redner vom Tage ließ sich der Reichsparteiler v. Dirksen vernehmen. Letzterer nannte die sozialdemokratischen Forderungenolle Kamellen" und Ungeheuerlich­keiten, die den Kaiser zur Marionette des Reichs­kanzlers und diesen zur Marionette des Reichstages machen, und meinte, wenn ein Parlament sich macht­los fühlt, so liege das nicht an der Verfassung, sondern am Parlament selbst. Dem Reichstage fehle nicht die Macht, sondern die Einheit. Am Donnerstag setzte der Reichstag diese Verhandlung fort. An der Debatte beteiligten sich die Abgg. Gräfe (Reformp.), Bindewald (Reformp.), Singer (Soz.), Dietrich (kons.), Dr. Ricklin (Elf.), Dr. v. Dziembowski (Pole), Heine (Soz.), Dr. Spahn (Ztr.). Dr. Nau­

mann (frs. Vgg.) sagte: In der Verfasfungsfrage gibt es leider bei uns keine Mehrheitsbildung. Daß wir keine nationale Einheitspolitik haben, liegt daran, daß wir nicht eine so große politische und parlamentarische Tradition haben, wie das französische und das englische Parlament. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt, daß die Volksvertretung gegenüber dem Souveränitätssystem nicht genügend zur Geltung gekommen ist. Im Gegensatz zum Souveränitätssystem fehlt es dem Reichstag an allen ausführenden Faktoren. Unsere Aufgabe ist es daher zunächst, durch Aenderung der Geschäfts­ordnung die Macht des Präsidiums zu stärken. Das Verantwortlichkeitsgesetz ist eine allgemeine liberale Forderung. Deshalb können wir nicht darauf ver­zichten, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers auch auf Handlungen des Kaisers sich erstreckt. Namens der Freisinnigen empfahl in einem Schluß­wort der Abg. v. Payer (südd. Vp.) nochmals die Anträge der Freisinnigen: Die Behauptungen, die Singer in seiner kleinlichen Wahlpolemik auf­gestellt hat, seien durch ihre Wiederholung nicht wahrer geworden. Aus der Kommission wird ein Verantwortlichkeitsgesetz herauskommen, was sich im wesentlichen auf dem Boden der freisinnigen Anträge Hallen wird. Die Verbündeten Regierungen haben sich diesmal der Pflicht des Zuhörens nicht entzogen. (Heiterkeit.) Kein Anlaß zum Dank, aber doch gegen früher immerhin ein Fortschritt. (Sehr wahr!) Die Regierung Hai gestern ausdrücklich erklärt, daß sie mit bloßen Reden nichts anfangen könne. Die Jnterpellationsdebatten werden erst dann wertvoll sein, wenn man im Anschluß daran der Regierung einen greifbaren Beschluß in die Hand geben kann. Am aussichtslosesten ist der Antrag betr. die Zu­stimmung des Reichstages zur Entscheidung über Krieg und Frieden. Wir auf der Linken sind in dieser Frage nicht einer Meinung. Der Antrag deckt sich mit einem Programmpunkte der deutschen Volkspartei, und ich kann nicht finden, daß er im Laufe der Zeiten an Richtigkeit verloren hat, wo doch die Kriegslasten immer mehr gestiegen sind. Zumal es angebracht wäre, unsere ganze auswärtige Politik mehr unter allgemeine Aufsicht zu nehmen und damit die Gefahren zu vermindern. Der sach­liche Verlauf der zweitägigen Verhandlungen beseitigt die hie und da gehegten Befürchtungen, daß eine neue Krisis eintreten könnte.

Berlin, 3. Dez. Einen unbestreitbaren rhe­torischen Erfolg, wie nie zuvor, hat Fr. Naumann durch seine Rede zur Ministerverantwortlichkeit er­rungen. Er stand diesmal auf der Höhe und war in seinem Element. Wenn Naumanns Worte und Gedanken spitz und scharf, auch Unwesentliches mit dem sichtlichen Anspruch auf Wichtigkeit und ent­sprechende Beachtung zutage treten, so redet v. Payer mit gemütvoller Breite und einer gewissen Anspruchs­losigkeit. Diesmal war sein Ton zu Anfang auf Optimismus gestimmt. Er ist befriedigt und schätzt es nicht gering ein, was die Regierung erklärt hat, auch die Tatsache nicht, daß deren Vertreter den Verhandlungen des Reichstags wenigstens als auf­merksame Zuhörer anzuwohnen sich entschlossen haben. Betrübsam freilich empfindet es Payer, daß der alte Lieblingswunsch der Demokratie, mitzureden bei der Entscheidung über Krieg und Frieden, im Reichstag so wenig Gegenliebe finde. Daß der junge Payer übrigens noch lebe in dem Payer von heute, bewies er zum Schluß mit auffallend scharfer Polemik gegen den konservativen, noch mehr gegen den freikonser­vativen Redner. Im großen und ganzen war der Eindruck, den die Verhandlungen der letzten zwei Tage machten, nicht unerfreulich. Es ging, wenn auch das äußere Interesse zu erlahmen drohte, durch die Reden alle mit Ausnahme der sozialdemo­kratischen ein Zug des Maßhaltens, des Gefühls der Verantwortlichkeit und des guten Willens, aus der Katastrophe der letzten 14 Tage eine Lehre und

einen politischen Nutzen zu ziehen in den Schranken des Notwendigen und des Möglichen.

Berlin, 4. Dezbr. (Reichstag.) Präsident Graf Stolberg eröffnet die Sitzung um 2.15 Uhr. Auf der Tagesordnung steht die zweite Beratung der großen Gewerbeordnungsnovelle, die bei 8 139, der das Recht der höheren Verwaltungs­behörden behandelt, Abweichungen von den für Fabrikbetriebe bestehenden Vorschriften zuzulassen, fortgesetzt wurde. Hierzu liegen mehrere Abänderungs­anträge vor. Die Abänderungsanträge werden ab­gelehnt und 8 139 in der Kommissionsfassung an­genommen. Nach weiterer Beratung der folgenden Paragraphen wurden die Resolutionen der Kom­mission und damit die Novelle in zweiter Lesung angenommen und die Tagesordnung erledigt. Sams­tag 11 Uhr: Erste Lesung des Etats.

Kaiser Franz Josef beging am 2. Dezember unter herzlicher Anteilnahme aller loyal gesinnten Bevölkerungsschichten Oesterreich-Ungarns den Tag, an welchem er vor 60 Jahren zur Regierung über die habsburgische Monarchie berufen wurde. Er verlebte seinen eigentlichen Jubiläumstag in Schloß Schönbrunn, wo eine intime Feier stattfand; ihren Gipfelpunkt bildeten die Huldigung der Kinder des Erzhauses Oesterreich vor dem greisen Jubilar, der hierbei vor Rührung weinte. Mißtönig jedoch schallten in die Jubiläumsfeier die antideutschen Revolten der Prager Tschechen hinein, gerade am 2. Dezember mußte denn auch in Prag infolge des fortgesetzten wüsten Treibens der tschechischen Pöbel­horden das Standrecht verkündet werden, eine Maß­regel, zu welcher die Regierung freilich schon viel eher hätte greisen müssen.

Die Kaiserin und die Prinzessin Viktoria Luise, sowie das kronprinzliche Paar, die Prinzen Eitel Friedrich, August Wilhelm und Friedrich Leo­pold von Preußen nebst Gemahlinnen wohnten am Mittwoch in der katholischen St. Hedwigskirche zn Berlin einem Dankgottesdienst bei, den die Ber­liner österreichisch-ungarische Kolonie anläßlich des 60jährigen Regierungsjubiläums des Kaisers Franz Josef veranstaltet hatte. Der Kaiser fehlte, da ihn seine Erkältung noch immer im Zimmer sesthielt. Anwesend waren u. a. ferner der Reichskanzler Fürst Bülow mit sämtlichen Staatssekretären, der österreichisch-ungarische Botschafter v. Szögyeny- Marich mit Gemahlin, die preußischen Minister usw.

Der Wiener Korrespondent desMatin" meldet seinem Blatte, daß die Situation in der Balkanfrage sehr ernst erscheine. Es seien Truppen an die serbische Grenze geschickt worden (in einer offiziellen Wiener Depesche wird dies dementiert), ferner habe ein Kriegsrat zwischen dem Kriegs­minister. dem Chef des Generalstabs und dem Truppeninspektor unter dem Vorsitz des Kaisers stattgefunden. Größte Unruhe herrsche in den mili­tärischen Kreisen. Der Kaiser habe in dem erwähnten Kriegsrat die Hoffnung ausgesprochen, den Krieg noch vermeiden zu können.

Konstantinopel, 4. Dezbr.Jeni Gazette" zufolge wurde der englische Kontreadmiral Groce mit der Reorganisation der türkischen Kriegsmarine betraut. Die Pfortekreise dementieren das Gerücht über einen Großvesierwechsel. Ebenda verlautet, daß die türkisch-montenegrinischen Verhandlungen beendet seien. Die strittigen Grenzsragen seien auf Grund der früheren Grenzarbeiten geregelt worden.

Paris, 4. Dez. Französische Rechtshörer und zahlreiche Nechtsanwälte richteten an die zurzeit hier weilenden Abordnung des Prager Stadtrats eine Zuschrift, in der es heißt:Die französische Hoch- schul-Jugend nimmt mit lebhafter Sympathie an den Bestrebungen des tapferen kleinen Tschechen- Volkes Anteil, das mit solcher Entschiedenheit gegen die alldeutsche Hydra kämpft. Die französischen Herzen werden nie vergessen, daß 1870, als ganz