Zweites
Blatt.
Der «nztäler
Zweites 4-, Blatt.
103.
Neuenbürg, Freitag den 3. Juli 1908.
66. Jahrgang.
Wüntlemberg.
Stuttgart, 29. Juni. Ein Erlaß des Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens, betreffend Maßnahmen für Brandfälle in den Schulen, vom 24. Juni 1908, gibt für die höheren Schulen und die Volksschulen Vorschriften, welche die rasche und gefahrlose Entleerung der Schulen im Brandfalle sicher zu stellen bestimmt sind: An jeder Schule, deren Klassenzimmer nicht ausschließlich im Erdgeschoß liegen, sind während eines Schuljahrs mindestens zwei Probeübungen im raschen und planmäßigen Verlassen des Schulgebäudes vorzunehmen. Die eine Uebung soll innerhalb der ersten 3 Wochen nach Beginn des Schuljahrs, die andere im zweiten Schulhalbjahr stattfinden. An größeren Schulkomplexen empfiehlt es sich, die Hebungen während eines Schuljahrs mehrmals zu wiederholen. In mehrklassigen Schulen ist für die Probeübungen sowohl, wie für den Ernstfall mittelst einer Glocke oder eines Läutwerks grundsätzlich nicht durch Feuerrufe ein Lärmzeichen zu geben, das als solches sofort erkennbar und durch alle Räume hörbar ist. Sobald das Lärmzeichen ertönt, nehmen die Schüler im Klassenzimmer Aufstellung und verlassen, nachdem sich der Lehrer vergewissert hat, daß ein Zusammenstoß mit weiteren Abteilungen nicht erfolgt, zu zwei und zwei gereiht, auf Anordnung des Lehrers das Klassenzimmer. Letzterer bleibt so lange an der Türe stehen, bis der letzte Schüler das Zimmer verlassen hat. Läßt sich ein Zusammentreffen mit anderen Abteilungen nicht völlig vermeiden, so gehen die jüngeren Jahrgänge den älteren voran. Ueber- kleider, Kopfbedeckungen, Bücher u. a. sind im Klassenzimmer zurückzulassen. Jede gefährliche Eile ist strengstens zu vermeiden. Für größere Schulkomplexe ist anzuordnen, daß der Schuldiener oder derjenige Lehrer, dessen Klasse das Schulgebäude zuerst verlassen hat, an der Haustüre Aufstellung nimmt, um bei einem dort entstehenden Gedränge sofort einzugreisen. Damit die Schüler sich daran gewöhnen, sich rasch von ihren Plätzen zu entfernen und sich geordnet aufzustellen, sind in den einzelnen Klassen Proben zu diesem Behuf vorzunehmcn. Auch ist mit größtem Nachdruck darauf zu halten, daß die Schüler in den Zwischenpausen und beim Schulschluß das Gebäude ruhig und geordnet, nicht in Massen, sondern reihenweise verlassen. — Es ist möglichst noch im laufenden Schulhalbjahr eine Probeübung an der Hand dieser Bestimmungen vorzunehmen.
Stuttgart, 30. Juni. An die Leistungen der
Der grüne Schlips.
Novellette von Auguste Werner.
- (Nachdruck verboten.)
„Liebes, bestes Erüulein, — geben Sie mir, bitte, einen Schlips."
„Jawohl, Herr Doktor, — in welcher Art? Weiß? Schwarz? Bunt? Einfach oder elegant? Etwas Modernes, Besonderes?"
„Etwas recht Nettes, Kleidsames —"
Die Verkäuferin, ein hübsches, junges Mädchen, lächelte und holte einen Berg weißer Pappschachteln herbei. Sie öffnete mehrere davon und stellte sie der Reihe nach auf. „So, Herr Doktor, nun wählen Sie, es ist einer schöner als der andere —"
Etwas hilflos sah der Angeredete auf die feinfarbigen, bunten Schleifen. „Ach, liebes Fräulein Mertens, wählen doch, bitte. Sie für mich", bat er, „ich überlasse mich ganz und gar Ihrem Geschmack. Sie wissen jedenfalls besser als ich, wie man aus- sehen muß, wenn man —" er hielt einen Augenblick inne und lächelte halb verlegen und halb glücklich — „wenn man in Damengesellschaft gefallen möchte."
„In Damengesellschaft — ?"
Entgeistert sah das junge Mädchen auf den Sprechenden, dem heimliche Freude aus den Augen leuchtete, und der offenbar nichts von dem heftigen Schreck bemerkte, den seine Worte verursacht.
»Ja, ja, Fräulein Hilde, in Damengesellschaft", betonte er nochmals scherzend.
Das junge Mädchen faßte sich mühsam.
Eisenbahnverwaltung wurden am Sonntag und Montag ungeheure Anforderungen gemacht. Es sind, gering geschützt, an diesen beiden Tagen etwa 300000 Personen nach und von Stuttgart und Cannstatt befördert worden. Neben den verstärkten fahrplanmäßigen Zügen waren hiezu eine große Zahl von Sonderzügen erforderlich. Am Sonntag und zum Teil auch am Montag liefen Sonderzüge von den äußersten Enden des Bahnnetzes morgens herein und abends hinaus, so daß auch von den entferntesten Landesgegenden die Möglichkeit geboten war, an einem Tag mit reichlichem Aufenthalt in Stuttgart und Cannstatt hin- und herzufahren. Ohne Verspätungen konnte es natürlich bei einem solchen riesigen Verkehr nicht ablaufen, doch bewegten sich diese Verspätungen in müßigen Grenzen. Ein Unfall ist nicht eingetreten, ein Beweis von der Umsicht und Sorgfalt in der Leitung und Ausführung des Betriebsdienstes. Die bauliche Unzulänglichkeit des Stuttgarter Bahnhofs trat natürlich wiederum sehr lebhaft in Erscheinung.
Lotterieverbot. Nachdem eine wirkungsvolle Bekämpfung des Vertriebs außerwürttembergischer Lose bisher wenig Erfolg hatte, scheint sich die Postverwaltung nun der Sache annehmen zu wollen. Eine Verfügung des Ministeriums schließt, wie schon kurz mitgeteilt, sämtliche von deutschen oder außerdeutschen Lotterien an in Württemberg wohnende Empfänger gerichtete offene Sendungen von Losen und Losanpreisungen, die in Württemberg nicht zugelassen sind, von der Postbeförderung aus. Die Sendungen werden dem Absender zutückgegeben evtl, als unzulässig an den Aufgabeort zurückgeleitet. Zulassungen des Vertriebs außerwürttembergischer Lose werden im Amtsblatt angezeigt. Zugelassen sind z. Zt. Münchner Ausstellungslose, Lose der St. Lorenzkirche in Nürnberg, des Straßburger Soldatenheims, der Freiburger Münsterbaulotterie, Lose der Renten- und Pensionsanstalt für deutsche bildende Künstler in Weimar, Lose des Vereins zur Fürsorge für erwachsene Blinde (Sachsen-Weimar) und Lose zum Besten des Herzog-Ernst-Waldes in Altenburg.
Stuttgart, 1. Juli. Gestern vormittag wurde auf dem hiesigen Hauptbahnhof einem jüngeren Kaufmann aus Waiblingen 6000 Mk. gestohlen. Das Geld bestand in 100 Mk.-Scheinen, welches der Bestohlene in einer Briefmappe in seiner inneren Juppentasche bei sich getragen hat. Der Täter, der nach seinem ganzen Auftreten zweifellos ein Hochstapler sein dürste, soll sich mit dem Bestohlenen in ein allgemeines Gespräch eingelassen haben, wobei er seine Zauberkunst angewendet hat.
„Was haben Sie denn vor, Herr Doktor? Eine Landpartie?"
„Nein, nein. Sie kennen doch meinen kleinen Privatschüler, Bodo von Wenkhaus? Nun, seine Mutter ließ mich bitten, ihr und ihren Töchtern den heutigen regnerischen Nachmittag durch eine Vorlesung des Tasso zu kürzen", erzählte der Befragte arglos.
„So? Sind die jungen Damen wieder zu Haus?" fragte die Verkäuferin anscheinend gleichmütig.
„Jawohl, vor vierzehn Tagen sind sie von ihren Reisen zurückgekehrt —"
„Und" — das junge Mädchen holte mehrmals Atem — „und ist Fräulein Eva von Wenkhaus noch immer so schön, als sie war?"
„Ein Gebilde aus Himmelshöh'n", versicherte der Befragte schwärmerisch.
Da polterte ihm ein ganzes Gebäude aufgestapelter Pappschachteln vor die Füße. Eine heftige Bewegung der Verkäuferin war schuld daran.
„O, lassen Sie liegen", wehrte sie dem jungen Mann der sich eifrig bückte. „Ich habe hier noch andere Sachen — ganz neue Muster."
Sie wandte sich nach dem Hintergrund des Ladens, zerrte aus verschiedenen Schranktiefen verschiedene Kästen ans Tageslicht, wühlte darin herum, warf sämtliche Kravatten durcheinander und langte endlich aus der Tiefe eines großen Kartons etwas Eidechsengrünes hervor.
„Hier", sagte sie, „nehmen Sie diesen, Herr Doktor, es ist das Neueste."
Tübingen, 1. Juli. Die Verhandlungen des Schwurgerichts im dritten Quartal, deren Beginn auf den 6. Juli festgesetzt war, fallen aus.
Tuttlingen, 1. Juli. Bei der heutigen Stadtschultheißenwahlhaben von 2554 Wahlberechtigten 1989 abgestimmt. Davon erhielten Amtmann Scherer-Urach 1013 St., Amtmann Dr. Haus- mann-Oehringen 970 Stimmen. Scherer ist also mit 43 Stimmen Mehrheit gewählt. Zerplittert waren 6 Stimmen.
Tuttlingen, 2. Juli. Der schwere Automobil uns all des Oberamtsarztes Dr. Schneken- burger hier, der sich am 25. vor. Mts. zwischen Renquishaufen und Köllingen ereignete, hat nun nachträglich den Tod eines der Verunglückten gefordert. Wie seinerzeit berichtet, befand sich im Fahrzeug auch Oberamtmann Gottert und in dessen Begleitung Oberamtssekretär Gottfried Gog. Während ersterer nur leichtere Verletzungen davontrug, verunglückte Gog, der neben dem Chauffeur saß, schwer. Außer erheblichen Kopfwunden brach er zweimal das rechte Bein. Aerztliche Kunst glaubte ihn zwar noch retten zu können, doch ist er gestern früh seinen Verletzungen erlegen. Gog ist von Stadion, OA. Ehingen, gebürtig. Er war ein tüchtiger und beliebter Beamter.
Aus dem Freudenstädter Bezirk, 30. Juni. Gegenwärtig halten sich acht junge Engländer, Studierende der Forstwissenschaft, in unserer Gegend auf, um unter Leitung eines englischen Professors, eines württ. Oberförsters und mehrerer Forstwarte unser Forstwesen zu studieren. Sie werden sämtlich noch im Herbst dieses Jahrs nach Indien reisen, wo sie von der englischen Regierung als Oberförster Anstellung erhalten. Jeder soll dort mit der Beaufsichtigung eines Forstbezirks von der Größe Württembergs beauftragt werden. Nach 5jährigem Aufenthalt in Indien steht es ihnen frei, sich in der Heimat anstellen zu lassen. Wenn sie aber das dortige Klima zwanzig Jahre ertragen, erfolgt ihre Pensionierung mit vollem Gehalt. Sie interessieren sich hier für alles, was zur Forstwirtschaft gehört; auch die Flößerei auf dem Zinsbach erregt ihr Interesse. Selbst das Floßwindenmachen lernten sie beim alten „Hans" in Wörnersberg. Als praktische Engländer ließen sichs die jungen Herren nicht verdrießen, selbst einige Wieden zu drehen.
Besenfeld, 30. Juni. Bei länger andauernder Trockenheit erfüllten die seither der Gemeindewasserversorgung dienenden Quellen seit einer Reihe von Jahren nicht mehr in befriedigender Weise ihren Zweck; auch in der Teilgemeinde Urnagold
„So? — hml — Meinen Sie?"
Der junge Mann sah mit etwas bangem Zweifel auf die Verkäuferin.
„Ist er nicht ein bischen grell?"
Sie zuckte mit kaltem Lächeln die Schultern.
„Hochmodern", sagte sie, „schick!"
Schick! Das war ein Wort, welches der junge Mann, Dr. Georg Aßmuth, sich erinnerte, öfters von Fräulein Eva von Wenkhaus gehört zu haben. In welchen Beziehungen, wußte er nicht mehr. Er vergaß ja so oft, auf ihre Worte zu achten, um ihrer Erscheinung willen, die ihn mit staunendem Entzücken erfüllte. Doch dessen erinnerte er sich, daß sie das Wort „schick" mit einem Ausdruck gebrauchte, der etwas von unbegrenzter Hochachtung enthielt. Nun also! Wenn die grüne Kravatte schick war, dann war ja die Sache in Ordnung.
„Sie müssen das ja besser verstehen als ich", sagte er vertrauensvoll, „Sie haben mich ja stets auf das beste versorgt."
Um den Mund der jungen Verkäuferin zuckte es einen Moment seltsam, dann war ihr Gesicht wieder ruhig. Sie schlug die grüne Kravatte in Seidenpapier ein und reichte sie ihm hin.
„Ich danke Ihnen herzlich, liebes Fräulein", sagte er. An der Tür wandte er sich nochmals um. „Sind Sie mit Paul Heyse fertig, Fräulein Hilde? Ich bringe Ihnen morgen Conr. Ferd. Meyer." Er nickte ihr freundlich zu und ging.
Fräulein Hildegard Mertens stand wie ein Steinbild hinter dem Ladentisch. . . .