Zweites
Blatt.
Der «nztäler.
Zweites
Blatt.
^ 19.
Neuenbürg, Freitag den 1. Februar 1907.
65. Jahrgang.
Rundschau.
Ein Zeichen des Aufschwunges unserer großen Handelsgesellschaften ist es u. a. auch, daß die Gebäude, die sie bei ihrer Gründung inne hatten, heute nicht mehr ausreichen. So läßt auch der Norddeutsche Lloyd auf demselben Platze, auf dem er vor 50 Jahren bei seiner Gründung sein erstes Verwaltungsgebäude bezog, einen neuen Geschäftspalast errichten, der einen gewaltigen Block einnimmt und von dem der östliche Flügel mit dem großen Hauptturm bereits im Sommer 1905 fertig- gestellt und bezogen worden ist. Der westliche Flügel wird im Anfang dieses Jahres bezogen werden und dann werden die alten Häuser, die den Platz für den Mittelbau einnehmen, geräumt und abgerissen werden, so daß das imposante Heim des Norddeutschen Lloyd in nicht allzu ferner Zeit vollständig dastehen wird, großartig und vornehm in Anlage und Ausstattung, wie es dem stolzen Ansehen entspricht, das sich die Gesellschaft errungen hat.
Berlin, 30. Jan. Für 30 000 Mk. Pretiosen haben Einbrecher gestohlen, die in der Nacht in das Lombard- und Kommissionsgeschäft von Sallo Basch, Charlottenstraße 19, eingedrungen waren. Die Diebe hatten es zuerst auf einen Diebstahl im Kontor der auf demselben Korridor befindlichen Fabrik Stolzenberg abgesehen. Dort hatten sie nach vergeblichen Versuchen, den Geldschrank aufzubrechen, sämtliche Behältnisse durchwühlt und waren im Begriff, mit leeren Händen abzuziehen, als sie das Firmenschild der erst kürzlich dort zugezogenen Lombardfirma erblickten. Sie schnitten eine große Oeffnung in die eiserne Eingangstür und krochen durch dieje in die Geschäftsräume hinein. Auch hier durchstöberten sie alles bis auf die letzte Schublade, wobei ihnen 604 Mark in barem Gelde, sowie Hypotheken- und Aktienpapiere in die Hände fielen. Diese ließen sie wohlweislich liegen. Die reichste Beute aber machten sie an Brillanten, gefaßten und ungefaßten Edelsteinen, mit Diamanten und Perlen besetzten goldenen Damenuhren und anderen Wertsachen im Werte von rund 30 000 Mk., die sie aus dem eisemen Geldschrank raubten. Unbemerkt entkamen die Diebe; erst am frühen Morgen fanden Angestellte die Kontortür erbrochen. Den verursachten Schaden trägt eine Diebstahlsversicherungs-Gesellschaft.
Augsburg, 23. Jan. Ueber große Betrügereien, durch die der Postadjunkt Böckl den Postfiskus um etwa 180000 ^ schädigte, berichtet die „Münch. Allg. Ztg.": Böckl ist der einzige Sohn eines verstorbenen Oberexpeditors und besitzt einiges Vermögen.
Mit diesem errichtete er als Leutnant Scharrer bei einer Münchener Bank ein Depot, das er nach und nach verstärkte, indem er in Schwabmünchen, wenn er Dienst hatte, durch einen Burschen Postanweisungen über kleine Beträge an die Münchener Bank aufgeben ließ und sie vorschriftsmäßig behandelte. Durch Anfügung von 2 Nullen verhundertfachte er die Summe, ergänzte das Porto entsprechend und sandte sie so nach München, wo die Auszahlung anstandslos erfolgte. In der letzten Zeit zog er von dem Geld große Summen zurück, welche für Leutnant Scharrer postlagernd einliefen und mit welchem Namen er sie quittierte. Diese Quittungen erregten die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten; Böckl glaubte sich schon entdeckt und ging am Montag abend zu Fuß nach Türkheim; von dort ließ er sich nach Mindelheim fahren, wo er verhaftet wurde. 12 000 Mk. trug er bei sich. Böckl ist 24 Jahre alt und huldigte noblen Passionen. Seine Mutter lebt in Schwabmünchen, doch wohnte er nicht bei ihr. Er hatte für die nächsten Tage um Urlaub gebeten, jedenfalls, weil er mit dem Geld verschwinden wollte. — Von den veruntreuten Postgeldern wurden 100 000 Mk., die der Betrüger in einem Koffer versteckt nach München geschafft und dort in einem Möbelaufbewahrungsgeschäft deponiert hatte, polizeilich ermittelt und beschlagnahmt.
Berlin, 30. Jan. Der „Lok.-Anz." meldet aus Hilden: In Alex. Kopels Fabrik wurden einem jugendlichen Arbeiter von seinem Kollegen mutwilligerweise die Kleider am Leibe angezündet. Er wurde in hoffnungslosem Zustand nach dem Krankenhaus verbracht.
Vermischtes.
Elberfeld, 29. Januar. Einen merkwürdigen Stimmzettel gab ein Wähler ab, der in sein Wahl- kouvert einen Scheck über 750 Mk., zahlbar bei der Bergisch-Märkischen Bank, steckte. Erst zu Hause bemerkte er den Irrtum, eilte in das Wahllokal zurück und konnte nach 7 Uhr seinen „ungiltigen" Stimmzettel wieder in Empfang nehmen.
Vier Brüder erstickt. Ein entsetzliches Unglück hat sich in der Nähe von Bernau ereignet. Auf dem Gute Karlslust, der Stadt Bernau gehörig, sind vier Söhne der Kuhnschen Eheleute im Alter von 13 bis 19 Jahren durch Kohlendunst erstickt. Die „Abendpost" meldet folgende Einzelheiten: Die Kuhnschen Eheleute bewohnen mit ihren sechs Kindern auf dem Gut eine aus zwei Stuben und Küche bestehende Wohnung. Die Küche liegt in der Mitte
und trennt beide Stuben voneinander. Jede Stube ist mit einem Kachelofen versehen. Frau Kuhn heizte nachmittags den Ofen in der Schlafstube der Söhne mit Steinkohlen. Sie bemerkte bald darauf, daß die ganze Stube sich mit Rauch füllte. Diesem Umstande wurde aber keine besondere Beachtung geschenkt, da sich der Rauch nach Oeffnen der Fenster verzog. Das Feuer brannte weiter, bis es gegen 8 Uhr abends ziemlich ausgebrannt war. Gleich darauf legten sich die vier Söhne im Alter von 19, 18, 16 und 13 Jahren zu Bett. Als am nächsten Morgen die Mutter zum Wecken die Stube betrat, fand sie ihre vier hoffnungsvollen Söhne tot in den Betten. Die Leichenstarre war bereits eingetreten. Unzweifelhaft waren nachts aus dem Stubenofen Kohlendünste ausgeströmt. Den armen Eltern bleiben jetzt nur noch ein Mädchen von 11 und ein Junge von 5 Jahren, die in der Stube bei Vater und Mutter schliefen.
(Ueber hervorragende Leistungen im Maschinenschreiben) findet man in der „Nordd. Allg. Ztg." folgende Angaben: Eine Angestellte in einem Bureau in Washington, Miß Mary Pretty. scheint bis jetzt die größte Meisterschaft im Maschinenschreiben erreicht u haben. Sie hat nämlich in einem Zeitraum von echs Stunden 20 400 Worte geschrieben, und zwar war es eine Abschrift aus einem nicht sehr leserlichen Manuskript, bei dessen Entzifferung sie ihre Arbeit häufig einige Sekunden unterbrechen mußte. Sie hat also 76 Worte in der Minute oder 4560 in der Stunde geschrieben. Die nächste Rekordleistung nimmt ein Engländer James Wright, der Angestellte einer Maschinenfabrik New Castle, für sich in Anspruch. Er hat 28 944 Worte in sieben Stunden geschrieben, ohne sich einen Augenblick auszuruhen, wie er stolz versichert. Aber diese 28 944 Worte wurden ihm diktiert, was die Arbeit gegenüber der von seiner amerikanischen' Rivalin geleisteten sehr erleichterte. Einen Rekord in der Sorgfalt des Schreibens stellt Miß Shermann in Liverpool auf, die einen Roman von 80 000 Worten mit der Maschine abgeschrieben hat, ohne mehr als drei geringfügige Fehler zu machen. Miß Gladys Walker, die von Geburt an blind ist und einem Schreibmaschinenbureau vorsteht, hat nach Diktat in einer Stunde vierzig Minuten 5000 Worte geschrieben und nur einen Fehler gemacht. Die höchste . Leistung im Schnellschreiben in einer Minute weist James Wright auf, der 119 Worte schrieb und nur bei zwei Worten leichte Fehler machte.
Sprachecke. Als kürzlich im Anzeigenteile einer Kasseler Zeitung ein „Routinierter Kaufmann, als
Im rechten Augenblick.
Novelette von H. Htitier.
3) - (Nachdruck verboten).
Fresenius eilt ans Fenster, sein Auge hängt an der schlanken Frauengestalt, die da elastischen Schrittes, ein kleines Mädchen an der Hand, das Trottoir entlang geht. Es wallt heiß in seinem Innern auf. Wie hübsch sie noch ist, wie anmutig! Ja, und sofort zu erkennen, trotzdem keine braunen langen Locken mehr den Kopf umgeben. Und jetzt ist sie ganz nahe — er sieht das liebliche, etwas schmaler gewordene Antlitz in nächster Nähe. Ihr Blick trifft ihn — er fühlt, daß er rot wird, wie ein Schuljunge, der auf verbotenen Wegen ertappt wird. Ob sie ihn erkannt hat? Nein, ganz achtlos hat ihr Auge ein paar Sekunden lang auf ihm geweilt, nun wendet sie sich dem Kind zu und antwortet auf eine Frage desselben.
Nein, sie hat ihn nicht erkannt! Schade! Doch nun muß er lächeln — wie töricht er ist! Er trägt ja einen großen Vollbart jetzt, und sie hat ihn nur mit dem flotten Schurrbärtchen gekannt. Das braucht ihn also nicht zu kümmern.
Und sonst — sie ist noch frei! Und gerade jetzt muß sie eine neue Heimat suchen. O, das ist gewiß ein gutes Omen. Er lächelt über sich selbst, aber er fühlt, er weiß nun, daß er das schlanke Mädchen nie vergessen hat. Tor, der er damals war! Aber noch ist's nicht zu spät, noch nicht.
Durch gemeinsame Bekannte hat Dr. Fresenius ^ es bald ermöglicht, sich Nora wieder zu nähern. ! In der kleinen Stadt verkehrt ja alles, was zur ^ guten Gesellschaft gehört, zusammen. Und sein Freund, der Professor Tutschek, den er zu seinem Vertrauten gemacht hat, ist ihm mit Freuden zu Erreichung seines Zieles behilflich, unter strengster Diskretion selbstverständlich.
Nora Millinger, die mit der Professorin eng befreundet ist, ist ihm ihn unbefangener Weise ent- ^ egengetreten, und in ihrer ruhigen Sicherheit, in . er echt weiblichen Anmut ihres Wesens übt sie ! sofort wieder den früheren Zauber auf ihn aus, ' noch viel mächtiger. Sie ist nicht mehr das reizende Kind von einst, aber sie erscheint ihm noch viel begehrenswerter. Cr ist dankbar, daß er ihr eine Heimat bieten kann, und heute noch will er mit ihr reden, will er ihr sagen, daß er sie liebt, will er sie bitten, die Seine zu werden. !
Tutscheks haben eine Einladung für den Garten l erlassen, mehrere befreundete Familien werden da sein, die aber Fresenius zum größten Teil fremd sind, wenigstens nur flüchtig bekannt. Für ihn wird nur Nora da sein.
Die Gesellschaft lustwandelt, nachdem das Abendbrot verzehrt, in den Wegen des großen Gartens. In der Laube funkelt beim Schein der Lampe die Bowle in den Gläsern und zitterndes Abendlicht dringt durch das Geranke der Waldrebe.
Die Hausfrau und Nora sind mit dem Zu
sammensetzen der Teller beschäftigt, da tritt Fresenius zu ihnen.
Die Professorin ruft: „So ist's recht, Doktor, unterhalten Sie meine Freundin ein wenig — ich muß in's Haus, nach den Kindern sehen."
Damit verschwindet sie.
Fresenius spricht bittenden Tones: „Lassen Sie uns plaudern, Fräulein Millinger, von alten Zeiten. Und dann, ich habe so manches auf dem Herzen, was ich Ihnen sagen muß. Und ich möchte hören, was Sie für die Zukunft planen, jetzt, wo Sie bald Ihre seitherige Heimat verlassen. Das ist für mich von der größten Bedeutung."
Nora schrak zusammen.
Bis vor Kurzem hatte sie die Anwesenheit des Dr. Fresenius in der Stadt gar nicht mit ihrer Person in Verbindung gebracht. Sie hatte es natürlich gefunden, daß er Verlangen trug, die Stätte seiner Jugendwirksamkeit und die alten Freunde wiederzusehen.
Erst vorhin, beim Kommen, war sie durch eine Aeußerung der Hausfrau stutzig geworden.
„Wie vorteilhaft Du heute aussiehst, liebes Herz," hatte die gesagt, „das ist auch recht, das muß so sein, eine angehende Braut."
„Was sprichst Du da," hatte sie gefragt, und die Freundin hatte lächelnd den Arm um sie geschlungen und geflüstert: „Aber Dora, das sieht doch ein Kind, daß Fresenius um Deinetwegen hier weilt, und hoffentlich findet er Erhörung — nein, ich schweige ja schon, Nora, ich bin nicht indiskret."