Politische Iahresrundschau.
in.
Was jetzt die hauptsächlichsten Vorgänge des Jahres 1906 in den europäischen Staaten zweiten und dritten Ranges anbelangt, so ergibt sich das folgende Bild: In Dänemark starb König Christian IX. der Nestor der europäischen Monarchen, ihm folgte König Frederik in der Regierung nach. In dem jüngsten europäischen Königreich, in Norwegen, erfolgte am 22. Juni zu Drontheim die feierliche Krönung des Königs Haakon VII. und feiner Gemahlin Maud. In Christiania starb der berühmteste norwegische Dichter der Gegenwart, Henrik Ibsen. In dem benachbarten Schweden installierte sich ein neues Ministerium Lindemamr. In der Schweiz fand ein Verkehrsereignis von internationaler Bedeutung statt, die Eröffnung des Simplontunnels am 19. März. Belgien steht im Begriff, den Kongostaat, die Schöpfung König Leopolds, zu übernehmen. In Holland wurden die erneuten Hoffnungen des Königshauses und des Volkes auf die Geburt eines Thronfolgers durch die Fehlgeburt der Königin Wilhelrnina wiederum vereitelt. In Spanien erfolgte am 1. Juni unter freudiger Teilnahme weiter Volkskreise die prunkvolle Vermählung König Alfonsos mit der Prinzessin Ena von Battenberg; leider wurde die festliche Stimmung dieses Tages durch das allerdings mißglückte anarchistische Bombenattentat auf das hohe Neuvermählte Paar etwas getrübt. Die Regierung erfuhr mehrfache Umbildungen, dein Ministerium Moret folgte das Ministerium Lopez Dominguez, diesem wiederum ein Ministerium Moret und dann das Kabinett Veja de Armijo nach. Eine hochwichtige internationale Konferenz tagte mehrere Monate auf spanischem Boden, .die Marokko-Konferenz in Algeciras; in ihr wurde nach schwierigen Verhandlungen ein Einverständnis unter den Mächten über das marokkanische Problein erzielt. In Portugal folgte dem Ministerium Hintze - Ribeiro das Ministerium Franco nach. Betreffs der Staaten der Balkanhalbinsel ist folgendes zu erwähnen: Die Türkei muß sich noch immer mit den Wirren in Mazedonien abplagen, in welcher Provinz das Unwesen der bulgarischen, serbischen und griechischen Banden fortdauert. Die zwischen der Türkei und Bulgarien bestandene bedrohliche Spannung wurde durch den Rücktritt des bulgarischen Kabinetts Petrow und dessen Ersetzung durch ein Kabinett Patkow wieder gemildert. Serbien geht im Zeichen eines scharfen Zollkrieges mit Oesterreich-Ungarn in das neue Jahr hinüber. In Rumänien wurde das 40jährige Regierungsjubilüum König Carols festlich begangen. Die diplomatischen Beziehungen des Landes zu Griechenland erlitten infolge der rumänischen Griechenhetzen einen noch fortbestehenden Bruch. Hinsichtlich' des außereuropäischen Auslandes wäre etwa folgendes hervorzuheben: In Marokko dauern die inneren Wirren fort, so daß vor Tanger eine französisch-spanische Flottenaktion ins Werk gesetzt worden ist. In Nordamerika siegte die herrschende republikanische Partei bei den Kongreßwahlen. Die blühende Stadt San Franzisko wurde durch eine furchtbare Erdbebenkatastrophe zur Hälfte zerstört. In Südamerika wurde die Stadt Valparaiso ebenfalls von einem Erdbeben heimgesucht und größtenteils zerstört. In Persien wurde eine Verfassung eingeführt; der Schah Muzaffer Eddin ist lebensgefährlich erkrankt.
RunSschau.
Die „Genossen" als Arbeitgeber. Unter der Spitzmarke „Humor in ernster Zeit" veröffentlicht der „Korrespondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer" einen Artikel über die Einführung des neuen Buchdruckertarifes in den sozialdemokratischen Parteidruckereien. Danach haben gerade die sozialdemokratischen Blätter, die den Tarif als „Bettel" bezeichneten, bei seiner Einführung Schwierigkeiten gemacht. So hat ein „Genosse" den Buchdruckern erklärt, die Löhne der Angestellten im Parteigeschäft dürften nicht zu hoch werden, daran wäre er als Mitglied des Maurerverbandes besonders interessiert; denn dieser lasse viele Arbeiten in der betreffenden Druckerei Herstellen; wenn nun die Löhne der Buchdrucker zu hoch kämen, dann würden die Drucksachen für seinen Verband zu teuer! Dazu bemerkt der Korrespondent, daß man ja dann auch für die teuren Mieten die „begehrlichen" Maurer verantwortlich machen könnte. In einer anderen Parteidruckerei hat man keine Alterszulage geben wollen und zur Begründung dieses Standpunktes angeführt, in den bürgerlichen Geschäften schmeiße man doch die Leute, wenn sie alt würden.
einfach hinaus, denn sie würden mit den Jahren immer weniger leistungsfähig; in Parteigeschäften aber verlangten die älter werdenden Arbeiter sogar noch Zulage; das sei unverständlich. Am Schluffe des Artikels meint der Korrespondent: „Da haben wir nur wieder eine Bestätigung dafür, daß, wenn einmal die Probe aufs Exempel gemacht wird, Theorie und Praxis oft weit auseinanoerlaufen. Es ist eben schon so mancher bei dem ersten Auslaufen in das gefährliche Meer der Wirklichkeit elendiglich gestrandet." Neue Erkenntnisse vermitteln diese Mitteilungen ja nicht, aber sie sind wertvoll als neue Belege für einen alten Satz.
Hamburg, 4. Januar. Die Instrumente der hiesigen Hauptstation für Erdbebenforschung wurden heute früh 6 Uhr 32 Min. durch ein mittelstarkes Erdbeben in Bewegung gesetzt, das in einer Entfernung von etwa 9000 Kilometer stattgefunden hat.
Hagnau (am Bodensee), 29. Dez. Am letzten Freitag wurde, wie alljährlich, hier der Tugendpreis verteilt. Dieser alte Brauch rührt, wie die „Konst. Ztg." erzählt, aus einer Stiftung des Kaplans Erat vom Jahre 1790 her. Dieser stiftete 6000 Gulden zur Unterstützung armer Bürgerstöchter und Ortsarmer überhaupt. Aus dieser Stiftung werden alljährlich zwei sogenannte Tugendpreise von je 100 Gulden vergeben. Berechtigt sind nach dem Stiftungsbrief nur unbemittelte und unbescholtene Mädchen. Am Sonntag vor der Preisverteilung wird vom Pfarrer von der Kanzel aus die Aufforderung an die Bürger gerichtet, die 15jährigen Bürgerstöchter zum Tugendpreis anzumelden. Wenn sie im Alter von 15 Jahren nicht angemeldet werden, haben sie später nicht mehr das Recht, an der Losziehung sich zu beteiligen; diejenigen Mädchen, welche sich einmal angemeldet haben, dürfen sich jedes Jahr so lange beteiligen, bis sie einen Preis gewinnen, dann nicht mehr. Findet nun die Preisverteilung statt, so wird zuerst der Gottesdienst besucht, dann versammelt man sich im Rathaus, wo die Verlosung in der Regel in Gegenwart des Großherzoglichen Amtsvorstandes, des Ortspfarrers, des Bürgermeisters und Rechners vorgenommen wird. In der Urne finden sich so viel Zettelchen als Gemeldete; auf 2 Zettelchen steht je „Hundert Gulden", die andern sind leer. Dann zieht jedes der Gemeldeten ein Zettelchen und diejenigen, welche die „Hundert- Gulden-Zettelchen" ziehen, haben die Preise gewonnen. Das Geld wird nun angelegt und .das Mädchen erhält alljährlich den Zins, falls es ledig und unbescholten bleibt. Wenn es heiratet, erhält es 180 Tage nach der Hochzeit den Preis ausbezahlt; kommt es jedoch vor dieser Zeit nieder, so erhält es nichts; ebenso geht selbstverständlich ein Mädchen, das nicht unbescholten bleibt, des Preises verlustig. Ein jedes Mädchen, das sich an der Losziehung beteiligt und nicht gewinnt, erhält aus der Stiftung einen halben Gulden. Einem Mädchen, das den Preis schon gewonnen, aber nicht heiratet und unbescholten bleibt, wird im Alter das Geld ausbezahlt. Stirbt eine solche Jungfrau früher, so vererbt sich der Tugendpreis auf die Verwandten.
vermischtes.
Aus New-Aork wird berichtet: John D. Rockefellers Einkommen in dem jetzt zu Ende gegangenen Jahre wird auf 60 Millionen Dollars geschätzt. Das macht 164383 Dollars und 53 Cents täglich und 114 Dollars jede Minute. Mit jedem Ticken seiner Taschenuhr, so rechnet der „Milwaukee Herold" aus, kommen ihm 190 Cents ins Haus, und wenn die Vermögensanhäufung in der bisherigen Weise nur noch 10 Jahre so fort geht, wird der Besitzer dieser ungeheuren Reichtümer sie selbst nicht mehr zu schätzen wissen.
Merkwürdige Schulranzen tragen die Schulknaben in Tennenbronn bei Villingen auf dem Rücken. Das Ding ist aus Holz; an der Hinterseite laufen zwei Schienen, genau wie an einem Schlitten; und der Schulranzen wird im Winter auch als Schlitten benutzt.
Essen, 29. Dezbr. Eine allzureichliche Weihnachtsgabe ist einem Bergarbeiter in Schonnebeck bescheert worden. Seine Frau beschenkte ihn mit Drillingen, nachdem vor stark einem Jahre Zwillinge die Kinderschar dieser Arbeiterfamilie vermehrt hatten. Die Drillinge, zwei Knaben und ein Mädchen, erfreuen sich, wie der „Eff. Gen.-Anz." berichtet, der besten Gesundheit; sie erhielten die patriotischen Namen Friedrich, Wilhelm und Viktoria. Der Vater hat jetzt für 10 unter 14 Jahren alte Kinder zu sorgen. — Ein trauriges Weihnachtsfest haben dagegen Kinder einer Familie zu Lüdenscheid
Redaktion, Druck und Verla- L. Mleeh t« Neses-Ür-,
bereitet. Zwei Knaben dieser Familie, im Alter von 10 und 12 Jahren, hatten schon öfter die Schule geschwänzt und waren dann längere Zeit vom Hause fortgeblieben, so auch wieder in der vorigen Woche. Nach einigen Tagen erhielten die Eltern die Nachricht, daß die beiden Knaben mit erheblichen Frostverletzungen in einer Scheune bei Gummersbach, wo sie nachts Schutz gesucht hatten, aufgefunden worden seien. Sie wurden in das Krankenhaus nach Lüdenscheid gebracht; dort mußten ihnen, wie die „Barm. Ztg." meldet, die Beine abgenommen werden.
Der Reichstag, ein Klub. Der Reichstagsabgeordnete Priester Wetterle entwirft in seinem „Journal de Colmar" folgendes köstliche Bild vom Reichstag. Er schreibt: Der Reichstag wird mehr und mehr, wie das englische Parlament, ein „boma", ein Klub, in dem man sein ganzes Tagewerk vollbringen kann. Die neuen Schreibsäle sind geräumig und hübsch eingerichtet. Die große Menge von Zeitungen, die man im Lesezimmer findet, die unzähligen Bücher, die die große Bibliothek füllen, liefern alle Hilfsmittel zum Arbeiten. Im Er- srifchungszimmer kann man sich stärken und seinen Durst zur Genüge löschen. Seit einigen Wochen steht den Abgeordneten jederzeit ein Friseur zur Verfügung. Die Zahl der Baderäume ist vermehrt worden und endlich ist auch ein prächtiger Turnsaal hergerichtet worden für diejenigen Reichstagsmilglieder, die das Bedürfnis empfinden, sich von ihrer geistigen Abspannung durch eine erquickende körperliche Hebung zu erholen. Ein andermal hätten die Abgeordneten von Elsaß-Lothringen einige Freude gehabt, wenn sie Herrn Delsor gesehen hätten, der mit schweren Gewichtsteinen hantierte, während Herr Roellinger Fahrübungen auf einem Fahrrade machte, Herr Vonderscheer Reitübungen anstellte und Herr Wetterle mit Eifer ruderte. In einiger Entfernung massierte sich ein demokratischer Abgeordneter die Magengegend, ein sozialdemokratischer Abgeordneter macht unregelmäßige Schwingungen mit Hanteln in Gegenwart eines Konservativen, der friedlich ein Dreirad bewegt. Der Saal für gymnastische Hebungen ist sehr besucht, ein Beweis, daß er einem Bedürfnis entspricht. -Da die Abgeordneten im Reichstagsgebäude immer alles finden, was sie brauchen, haben sie keinen Grund, das Haus zu verlassen und eine große Anzahl unter ihnen kommt zu früher Stunde und verläßt das Gebäude erst wieder spät abends. Das ist kein Unglück, im Gegenteil, weil man auf diese Weise intensiver arbeitet und man sich besser aus dem Laufenden hält bezüglich der kleinen Redereien in den Wandelgängen.
Was ist Treue? Die „Berliner Volksztg." erzählt: Der Herr Oberst besucht die Instruktion des Leutnants Schneidig, der gerade über die Pflichten des Soldaten spricht. Nach kurzer Zeit unterbricht der Oberst den Vortrag mit den Worten: „Alles sehr schön, lieber Schneidig, aber ich vermisse die nötige Anschaulichkeit in Ihrem Vortrage, Sie müssen der teilweise geringen Auffassungskraft der Leute Entgegenkommen. Ich werde Ihnen zeigen, wie ich den Leuten zum Beispiel anfangs den Begriff „Treue" definieren würde. „Nun, mein Sohn", wendet sich der Oberst an einen nichts weniger als intelligent aussehenden Vaterlandsverteidiger, „Du hast doch sicher einen Schatz?" „Noch net, Herr Oberscht", entgegnet der Gefragte. „Na, wird schon noch kommen", tröstet der Gestrenge, „aber hier. Dein Nachbar, hat sicher einen. Was würdest Du nun sagen, wenn dieser zu seinem Mädel die ganze Dienstzeit hindurch und auch später noch hielte und nie hinter anderen herliefe?" Eine verständnisvolle Heiterkeit verklärt die Züge des Gefragten und prompt kommt die Antwort: „Selbe muß arg gut koche, Herr Oberscht!"
(Aus einem Briefe.) Mein Herr I Nach Ihrem gestrigen Benehmen muß ich Ihnen mitteilen, daß ich nicht mehr die geringste Achtung für Sie habe, und zeichne mit vorzüglicher Hochachtung Emil N.
Rätsel.
Sieben Lettern das Rätselwort hat.
In Marokko ist's eine Hafenstadt.
Nehmt ihr einen von Jakobs Söhnen heraus.
Wird ein Name aus Schillers Dramen daraus.
Auflösung der Zweisilbigen Charade in Nr. I.
Dernburg — (Bern).
Auflösung des Buchstaben-Rätsels in Nr. 2.
Treuen, Treue) Reue.