Zweites
Zweites
Blatt.
17«.
Der Enztäler.
Neuenbürg, Freitag den 9. November 1906.
Blatt.
64. Jahrgang.
RunSschau.
Ein angebliches Kaiserwort. Ueber den „Hauptmann von Köpenick" hatte ein Berichterstatter ein angebliches Kaiserwort in Umlauf gesetzt. Als der Monarch jüngst im Hause des Reichskanzlers speiste, soll der falsche „Hauptmann" eine Weile die Kosten der Unterhaltung bestritten haben. Dabei soll, was uns gleich zweifelhaft erschien, die Frage einer Begnadigung des Kassenräubers aufgeworfen und von Kaiser Wilhelm verneint worden sein. Von offiziöser Seite wird die Erzählung als müßiger Klatsch bezeichnet.
Berlin, 1. Nov. In der letzten Sitzung der Berliner Medizinischen Gesellschaft stellte, wie man der „Frft. Ztg." mitteilt, Professor Dr. F. Krause, dirigierender Arzt am dortigen Augusta-Hospital, einen jungen Mann vor, der als Kind seinen rechten Daumen durch einen Unglücksfall verloren hatte und dem Professor Krause als Ersatz die große Zehe an Stelle des verlorenen Daumens anheilte. Der junge Mann konnte infolge des fehlenden Daumens keine Stellung finden; er war infolgedessen seelisch sehr depriemiert, und es war notwendig, ihm zu helfen. Die Operation wurde in der Weise durchgeführt, daß die große Zehe des jungen Mannes zum Teil losgelöst und an dem verstümmelten Daumen befestigt wurde. Damit die Anheilung ungestört von statten gehe, wurde ein Gipsverband um den in gebeugter Stellung befindlichen Patienten angelegt. Er ertrug diese unbequeme Stellung, bei der das Bein stark gebeugt war, recht gut; nach 17 Tagen war die Zehe an dem Daumenstumpf angewachsen, und lebensfähig, sodaß sie völlig vom Fuße losgetrennt werden konnte. Jetzt sind vier Monate seit der Operation verflossen; der ästhetische Effekt ist ein vorzüglicher. Der junge Mann hat einen Daumen, dem nur der Eingeweihte seine Herkunft ansieht, allerdings ist der Finger nur passiv beweglich.
Berlin, 6. Novbr. Als der Geldbriesträger Hammer vom Postamt 33 heute vormittag 10 Uhr auf einem Neubau in der Pfuelstraße eine an einen angeblich auf dem Neubau beschäftigten Monteur gerichtete Postanweisung auf 40 bestellen wollte, wurde er von einem 24 jährigen stellungslosen Tischler namens Gärtner im Treppenhause überfallen, mit einer eisernen Brechstange niedergeschlagen und seiner Geldtasche mit 1600 Mk. Inhalt beraubt. Der Täter wurde verfolgt und schließlich ergriffen.
Berlin. ' Das Befinden des Tierbändigers Peters, der am Sonntag das Opfer einer Schreckensszene im Raubtierkäfig wurde, hat sich leider verschlechtert. Der Arzt bestand am Dienstag auf der Ueberführung des Verwundeten nach dein Krankenhaus, da der Zustand des durch die Bisse der Tiger verwundeten Armes Anlaß zu Bedenken gibt. Der Patient ist in die v. Bergmannsche Klinik gebracht worden.
Baden-Baden, 7. Nov. Gestern abend ereignete sich hier ein mysteriöser Vorfall. Die Witwe des in Karlsruhe ansässig gewesenen Medizinalrats Molitor erhielt telephonisch den Auftrag, ein Paket bei der Post abzuholen. Die Frau begab sich in Begleitung ihrer Tochter kurz nach 6 Uhr auf den Weg. In der Friedrichstraße am Eingang zur Lichtentaler Allee sprang ein Mann aus einem Versteck hervor und feuerte einen oder 2 Schüsse ab. Die Frau wurde in den Rücken getroffen und war sofort tot. Man vermutet einen Racheakt. Der Mörder ist 33 bis 38 Jahre alt, etwa 1,78 Meter groß, trug langen, schwarzen Vollbart, hat ein längliches, blasses Gesicht und war mit dunklem Ueber- zieher bekleidet. Er spricht leise deutsch.
Baden-Baden, 8. Nov. Es steht jetzt fest, daß der Mörder der Frau Medizinalrat Molitor in dem Schwiegersohn des unglücklichen Opfers zu suchen ist. Es ist der Mann jener Tochter, die vor einer Reihe von Jahren ihr elterliches Haus mit diesem verließ und seit jener Zeit nicht mehr zurückgekehrt ist. Es dürfte sich jetzt auch die Annahme bewahrheiten, daß der Mörder mit seinen Geldforderungen von Frau Molitor abgewiesen
wurde und sich der wohlvorbereitete Mord als ein Racheakt niedrigster Art darstellt. Der Mörder ist 25 Jahre alt, während seine Frau, die beklagenswerte Tochter der Ermordeten, 32 Jahre alt ist.
Karlsruhe, 8. Nov. Der Mörder der verwitweten Frau Dr. Molitor ist heute mittag in der Person ihres Schwiegersohns, Rechtsanwalt Karl Hau, geboren in Bernkastel, in London verhaftet worden.
Metz, 6. Nov, Von einem neuen Mittel, das die Reblaus wirklich und völlig unschädlich machen soll, berichtet der „Lorrain" nach französischen Blättern. Der Entdecker ist ein Herr Parant aus Ay (Marne), der mittels eines von ihm erfundenen Werkzeugs (un pal partieulisr) Schwefel-Kohlenstoffgas an die Reben bringt und ohne diesen im geringsten zu schaden, die Reblaus sicher tötet. Es wird von Versuchen berichtet, die Herr Parant in Epernaq in Gegenwart zahlreicher Weinbauern an einer großen Anzahl Reben anstellte, wobei die Reben ohne Schädigung mit mehr Gas behandelt wurden, als nötig war, wie andere Versuche dartaten, um die Schädlinge auch an den feinsten Würzelchen zu vernichten. Da diese Versuche gewissenhaft angestellt worden und gut bezeugt sind, wie die französischen Blätter sagen, so verdienen sie alle Beachtung.
Aus Rache, weil ihm gekündigt worden war, tötete der Gemeindeschäfer in Solsdorf bei Erfurt die ihm anvertrauten 150 Schafe. Hierauf beging er Selbstmord durch Erhängen.
Aus Lothringen, 6. Nov. Hinsichtlich der Weinernte stehen die Verhältnisse in diesem Jahre mit am besten in Lothringen. Fast ein voller Herbst in Lothringen geerntet. Bis zu 250 Hektoliter in einigen Gemarkungen auf den Hektar geerntet. Mostgewichte stellen sich in den tief gelegenen Lagen auf 70—75 und in den gebirgigen aus 85 - 96 Grad Oechsle. Dabei entwickelte sich ein äußerst flotter Geschäftsgang, flotter als jemals vorher. Eine Menge Wein schon zu 36—40 für den Hektoliter verkauft. Einige 1000 Hektoliter zum Verkauf gelangt. Etwa 22- bis 25 000 Hektoliter lagern noch in den Kellern der Produzenten. Während der Herbstzeit für den Hektoliter noch 38—40 ^ angelegt, jetzt, da mehr Ruhe im Geschäft, Preise auf 34 ^ für kleinere Weine und auf 38 ^ für bessere Weine zurückgegangen. Rieslmgweine nehmen aller Voraussicht nach die beste Entwicklung.
Slus StaSt. Begil'k uns UmgLdung
* Enzklösterle, 7. Nov. Wohl der älteste Mann in weitem Umkreis ist heute hier plötzlich verschieden, Hofmusiker a. D. Joh. Michler, geb. am 30. Januar 1811, nahedem 96 Jahre alt, bis 1882 Mitglied der K. Hofkapelle in Stuttgart. Der alte Herr, ehemals langjähriger Musiker bei der Kavallerie, erfreute sich einer trefflichen Gesundheit und bewies stets noch einen frischen Geist und urwüchsigen Humor. Heiter und gelassen trug er das Alter. Aerztlichen Beistand brauchte er nie. Gerne hätte man ihm zu seinem 25 jährigen Ruhestandsjubiläum anno 1907 eine besondere Ehrung zugedacht.
Neuenbürg, 5. November. Nummer 10 der Württ. Schwarzwaldvereinsblätter bringt zuerst den Schluß der alten Beschreibung „Land und Leute von Göttelfingen im Schwarzwald", dann einen Artikel „im kleinen Odenwald", weiter eine Probe aus dem von dem Vereinsmitgliede G. A. Freudenberger geschriebenen „neuen Buch im Heil- bronner Weingärtnerdialekt", das im Verlage von Eugen Salzer in Heilbronn erschienen, um 1 Mark zu haben und des Gekauft- und Gelesenwerdens würdig ist. August Reitz in Schwenningen läßt „Eine Wanderung ins Hegau" folgen; „Allerlei übers Markieren" veröffentlicht K. I. in Calw. Dann reihen sich: „Mitteilungen aus den Bezirksvereinen" an, zu denen sich vier Vereine aufgeschwungen haben; ein Bericht über den „Verbandstag der deutschen Touristenvereine in Würzburg" macht den Schluß. Außerordentlich wenig Raum nimmt diesmal die Fortsetzung des Mitgliederverzeichnisses ein.
Unterreichenbach. Die Leser ds. Bl. seien auf die im Inseratenteil der vorliegenden Nr. enthaltene Einladung zu der am kommenden Sonntag den 11. ds. Mts. dahier stattfindenden Zusammenkunft der Heimarbeiter der Pforzheimer Industrie in den Waldorten aufmerksam gemacht.
Nagold, 7. Nov. Eine unliebsame Erfahrung machte ein Schafhalter aus dem Oberamt Göppingen. Er kam hierher um seinen künftigen Schwager zu besuchen und das demselben vorgestreckte Geld einzukassieren. Er war einem aus dem Zuchthaus entlassenen Schafknecht und Schwindler zum Opfer gefallen.
Pforzheim, 6. Novbr. Zwei Vorträge des Or. n sä. Serauer, welcher früher längere Zeit hier ansässig war, erregten das höchste Interesse aller Kreise der Bevölkerung. Der Redner sprach über die beiden Themata: „Das Problem der menschlichen Seele" und „Bedeutet der Tod das Ende unserer Persönlichkeit?" in fesselnder Weise" und unterstützte seine Ausführungen durch eine Reihe effektvoller Lichtbilder, welche mikroskopische Präparate aus der organischen und anorganischen Welt darstellten."
Neuenbürg, 1. Nov. Mahnungen auf offener Postkarte. Die schon viel umstrittene Rechtsfrage der Zulassung einer Mahnung auf offener Postkarte ist vom Schöffengericht in Sonneberg jetzt wieder bejaht worden. Es sprach den Kaufmann Günter Kühnert von dort, Inhaber der Inkasso-Gesellschaft „Stella" frei, welcher einen säumigen Schuldner — die Beitreibung ihrer Forderungen war ihm von einigen Gläubigern übertragen worden — durch Zusendung einer offenen Postkarte an Bezahlung erinnerte. Das Gericht stellte sich entgegen der Auffassung des Vertreters der öffentlichen Anklage auf den Standpunkt, daß die Mahnung mittels Postkarte zwar taktlos, aber nicht beleidigend im Sinne des St.-G.-B. sei, da der ja nur für den Adressaten der Postkarte bestimmte Inhalt derselben nicht ohne weiteres zur Kenntnis dritter Person gelange.
vermischtes.
Berlin. „Ein junger Dichter bittet um 2000 Mark Darlehen zu einer Studienreise nach Italien. Sichert dafür das Verlagsrecht eines Bandes lyrischer Gedichte, von namhaften Kritikem anerkannt, zu. Offerten unter Lenau" lautet ein Inserat in einem hiesigen Wochenblatte. Es gibt noch harmlose Gemüter.
Vorige Woche kam in Paris der Scheidungsprozeß, den die Gräfin Castellane, geb. Anna Gould, Tochter des amerikanischen Millionärs Jay Gould, gegen ihren Gatten angestrengt hat, beim Ziviltribunal der Seine zur Verhandlung. Die „Neue Freie Presse" berichtet darüber: Es werden gegen den Grafen Boni de Castellane vierzehn Ehebruchsfakten geltend gemacht, und die meisten Mitschuldigen sind Damen der Pariser Gesellschaft, welche alle Welt kennt. Es wird dem Grafen nachgewiesen, daß er allen diesen Damen mit dem Gelde seiner Gattin luxuriöse Toiletten kaufte, mit denen sie dann die Gesellschaften der Gräfin besuchten. Gleich am ersten Tag war der Gerichtssaal bis auf das letzte Plätzchen gefüllt, und die Anwesenden lauschten vier Stunden lang mit gespannter Aufmerksamkeit den vom Vertreter der Gräfin, Maitre Cruppi, vorgebrachten Anklagen. Der Anwalt mußte zugeben, daß das Gesetz dem Grafen freie Verfügung über Einkünfte und Vermögen seiner Gattin gebe. Er übte aber dieses Recht in einer solchen Weise aus, daß die Gräfin niemals über ein größeres Taschengeld verfügte. Weder sein Geiz ihr gegenüber noch seine Verschwendungswut seien jedoch die Gründe, derentwegen sie um die Scheidung nachsuche, Ursache sei vielmehr die ihr von ihm zu teil gewordene grausame Behandlung und seine Treulosigkeit. Er bezahlte fünf Wohnungen in Paris und eine Villa in Neuilly und hatte darin seine Maitressen untergebracht. Maitre Cruppi errang einen Heiterkeitserfolg im Gerichtssaal, als er ausführlich ein Abenteuer schilderte, das die Gräfin auf einem hochadeligen Schloß erlebte. In fünf Jahren hatte der Gras vom Vermögen seiner Frau zwanzig Millionen Francs verausgabt und für weitere 22 Mill. Fres. Schulden gemacht, die sie wird bezahlen müssen.