gerade mit einem besonderen Enthusiasmus an die Verhandlungen über die Personentarisresorm heran­getreten sei. Nachdem aber Preußen-Hessen und vielleicht auch noch einige andere Verwaltungen mit der Beseitigung der Rückfahrkarten u. s. w. Vorgehen werden, könne Württemberg nicht mehr.Zurückbleiben. Veranlaßt sei die württ. Regierung zu ihrem Vor­gehen sodann aber auch noch dadurch, daß die Frage der Betriebsmittelgemeinschaft ohne die Schuld Würt­tembergs ins Stocken geraten sei und daß auch die Idee einer Wagengemeinschaft unter den deutschen Eisenbahnverwaltungen nicht vom Fleck kommen wolle. Trotzdem gebe sich die württ. Regierung der Hoffnung hin, daß die jetzt angebahnte Reform schließlich einer Betriebsmittelgemeinschaft die Wege ebnen und das ganze deutsche Verkehrswesen im Interesse der nationalen Wohlfahrt in rationellere Bahnen drängen werde. Bon vornherein sei die württ. Regierung sich darüber klar gewesen, daß man ohne Tarisreforin keinen Zweipfennigtarif er­halten werde; aber auch darüber habe kein Zweifel bestanden, daß von einer allgemeinen Einführung des Zweipfennigtarifs, die einen Ausfall von 5 Mill. zur Folge haben müßte, keine Rede sein könne. Der Eisenbahnverwaltung stehen zahlreiche und ganz er­hebliche Ausgaben bevor für die Erbauung neuer Nebenbahnen, den Umbau des Stuttgarter Haupt­bahnhofs und fodann noch ganz erschreckende Summen für den Ausbau der sonstigen gegenwärtigen Bahn­anlagen, sowie auch für Personalerfordernisfe. Die jetzt vorgeschlagene Reform mit ihrer vierten Klasse werde für die minderbemittelten Schichten der Be­völkerung erhebliche Erleichterungen bringen, die der Bevölkerung, insbesondere der landwirtschaftlichen, bald einleuchten werden, zumal die neuen Wagen vierter Klasse an Bequemlichkeit die seitherigen Wagen dritter Klasse übertreffen werden. Daß die Landeskarten nicht beibehalten werden konnten, habe die Regierung lebhaft bedauert. Der Minister schloß mit dem Wunsch, daß die geplante Reform sich als zweckmäßig erweise und eine weitere Entwicklung des deutschen Verkehrswesens im Sinn und Geist der Reichsverfassung anbahnen möge. Als erster Redner aus dem Haufe sprach Vizepräsident v. Kiene namens des Zentrums. Er sagte, er stehe der Tarifreform mit gemischten Gefühlen gegenüber und er wolle auch der Betriebsmittelgemeinichaft keinen Vorspann leisten. Trotz Fahrkartensteuer werde die 4. Klaffe zwar eine große Verbilligung des Reifens für die minderbemittelten Klassen bringen. Frhr. v. Wöllwarth sieht in der jetzt vorgeschlagenen Reform nur einen kleinen Fortschritt, hofft aber, daß dieselbe der erste Schritt zu der großzügigeren Reform einer allgemeinen deutschen Betriebsmittelgemeinschaft oder einer Eisenbahugemeinschaft Württembergs mit Preußen sein werde. Nachdem auf eine Frage des Abg. Haußmann-Balingen Minister v. Weizsäcker noch erklärt, daß durch die Tarifreform Württemberg in staatsrechtlicher Beziehung nach keiner Seite hin gebunden würde, daß aber immerhin diejenige Ver­waltung, die von sien getroffenen Abmachungen zu­rücktreten wollte, sich Retorsionsmaßregeln seitens der anderen aussetzen würde, wodurch sie sich mehr oder minder tief ins eigene Fleisch einfchneiden müßte, wurde die Beratung abgebrochen.

Wer erwartet hatte, daß die Verhand­lungen am heutigen Mittwoch sich besonders lebhaft gestalten würden, kam nicht auf seine Rechnung. Das Hails selbst zeigte verhältnismäßig nur wenig Interesse. Die Debatte wurde, wie gestern, durch eiue Erklärung des Ministers v. Weizsäcker einge­leitet, der nachwies, daß infolge der Arbeiten für die Durchführung der Fahrkartensteuer es müssen 6 Millionen neue Fahrkarten gedruckt werden die Einführung des Zweipfennigtarifs frühestens am 1. Oktober erfolgen könne. Finanzminister v. Zeyer warnte sodann unter Darlegung der finanziellen Verhältnisse unserer Eisenbahnen vor einer zu weit gehenden Tarifermäßigung. Hierauf bekannte sich der Abg. Hieber namens der deutschen Partei als einen Anhänger der 4. Wageuklasse, die keineswegs menschenunwürdig sei und gegen die auch im Lande durchaus keine unüberwindliche Abneigung bestehe. Der Redner sah in den Vorschlägen der Denkschrift einen gangbaren Weg. Staatsrat v. Balz bezeich­net die Abneigung gegen die 4. Klaffe als ein Vor­urteil und machte die Mitteilung, daß ältere Wagen

3. Klasse mit zusammen 19 070 Sitzplätzen für die

4. Klaffe benützt werden sollen. Später könne man sich dann bei einein Mehrbedarf entscheiden, ob man weitere Wagen 3. Klasse disponibel machen oder neue Wagen 4. Klaffe bauen wolle. (Die Abge­ordneten sind eingeladen worden, morgen auf dem Hauptbahnhof solche alte Wagen 3. Klasse und zwei neue preußische Wagen 4. Klasse zu besichtigen.) Hr.

v. Balz betonte, daß die Einführung der 4. Klasse Baden und Bayern gegenüber weder politische noch technische Schwierigkeiten zur Folge haben werde. Er rechtfertigte dann die in der Denkschrift enthaltenen Zahlenangaben und erklärte schließlich den Vorschlag der Regierung als einen großen Fortschritt, der um so größer sein werde, je mehr Verwaltungen sich diesem Kompromiß der Regierungen anschließen werden. Der Abg. Storz (Bp.) stimmte der von Hieber empfohlenen Beratung der Frage in der Kommission zu, sprach der Frage der Einführung der 4. Klaffe den Parteicharakter ab, nahm aber noch keine bestimmte Stellung dazu ein. Der Abg. Dr. Wolfs (Bbd.) kennzeichnete die Behauptung, daß die 4. Wagenklaffe die soziale Kluft erweitere, als eine leere Redensart. Hoffentlich komme ein Abschluß zustande, der eine Vereinfachung und Ver­einheitlichung des Tarifes bringe und zur Verwirk­lichung des Art. 42 der Reichsverfasfung führen müsse. In längerer Rede begründete hierauf der Abg. Haußmann-Balingen einen Antrag der Volkspartei, die K. Staatsregierung zu ersuchen, von dem nächstmöglichen Zeitpunkt au, spätestens vom 1. Oktober 1906 ab, den Fahrpreis der untersten Klasse in den Personenzügen und den beschleunigten Zügen mit 2 Z für den Kilometer festzusetzen, in den Personenzügen nur 2 Wagenklassen zu führen und betreffs des gesamten Eisenbahntarifs eine Bindung gegenüber anderen Verwaltungen nicht ein­zugehen, im übrigen die Denkschrift zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Antrag läßt die Frage der Ein­führung einer 4. Klaffe offen. Der Redner empfahl auch die Beibehaltung der Landeskarte und sprach sich wie der Abg. Wolfs gegen eine Kommissions­beratung aus. Minister v. Weizsäcker rechtfertigte gegenüber einigen Angriffen Haußmanns die Stell­ungnahme der Regierung. Die 4. Klasse liege im Interesse der landwirtschaftlichen Bevölkerung, um die Lasten niederstellen zu können. Man müsse der Regierung empfehlen, die unterste Klasse mit 2 Z auszustatten. Bezüglich der Landeskarten sei eine gewisse Rücksicht auf die Nachbarstaaten nicht unan­gebracht. Was die Politik Weizsäckers betreffe, so schließe er sich ganz seinem Vorgänger an. Mil dem Antrag Haußmann sei erfreulicherweise das bayerische System preisgegeben. Daß nur 2 Klassen fahren sollen, könne man nicht verlangen. Eine längere Hinausziehung der Plenarberatungen des Landtages fei nicht gut möglich. Frhr. v. Wöll­warth zog seinen gestern gestellten Antrag zurück und beantragte statt dessen mit den Abgg. Hieber, Storz und Dr. Wolfs, die Regierung zu er­suchen, vom 1. Oktober 1906 ab eine weitere Wagenklasse mit dem Fahrpreis von 2 Z pro km in den Personenzügen und beschleunigten Zügen einzuführen. Nach einem Schlußwort des Vizeprä­sidenten Dr. v. Kiene wurde sodann die Weiter­beratung auf morgen vertagt.

Stuttgart, 5. Juli. Die Kammer der Abgeordneten hat heute nach nahezu östündiger Verhandlung die Debatte über die Denkschrift betr. die Personentarifreform zu Ende geführt. Zunächst sprach der Abg. Hildenbrand, der in l'/sstündiger Rede sich energisch gegen die IV. Wagen- klasfe äußerte. Die Grundlage des Tarifs soll der 2 Z - Satz für die III. Klaffe sein. Der Abg. Remb old-Gmünd (Ztr.) verteidigte den Antrag des Zentrums. Der Abg. Schmidt-Maulbronn (Vp.) bekannte sich als entschiedener Gegner der IV. Wagenklaffe und machte denen, die diese IV. Klasse wollen, den Vorwurf der Herrenpolitik. Minister von Weizsäcker entgegnete auf die Ausführungen einiger Vorredner und unterzog dann die gestellten Anträge einer Zensur, wobei er dem Antrag des Zentrums die schlechteste erteilte. In dem Antrag Haußmann bezeichuete er das Verlangen, daß in den Personenzügen nur 2 Klaffen fahren sollen, zu­nächst als unannehmbar. Dem Antrag Wöllwarth gab er die Note lu. Nach weiteren Ausführungen der Abgg. Harttmann, Maier-Blaubeuren und Storz rechnete der Abg. Dr. Hieber (D. P.) mit Schmidt wegen dessen Vorwurf der Herrenpolitik ab und wies zunächst nach, daß der Sozialdemokrat Hildenbrand seinen Standpunkt sachlich vertreten habe, daß Schmidt aber persönliche Motive sehr ge­ringwertiger Art unterschiebe, welcher Unterschied sehr bezeichnend sei. Zur Charakterisierung dieses Angriffs wies Hieber darauf hin, daß in dem von Schmidt redigiertenBeobachter" ein Herr sich da­rüber beschwert habe, daß Arbeiter in die II. Wagen- klasfe kamen, weil die III. überfüllt war. Wie reime sich das mit dem Vorwurf der Herrenpolitik zusammen? Schmidt treibe nur Spiegelfechterei; denn der Antrag der Volkspartei verschleiere seine wahre Absicht und laufe auf das gleiche hinaus.

wie der des Abg. Wöllwarth. Nach weiterer Debatte wurde Schmidt auch von seinem Parteigenossen Liesching desavoniert, der im Gegensatz zu ersterem offen und ehrlich zugab, daß es ihm ganz gleich- giltig sei, ob eine IV. Klasse eingeführt werde und daß für ihn nur der Tarif maßgebend fei. Sehr schwierig gestaltete sich die Abstimmung. Die Führer der Parteien befürworteten natürlich die ihren Anträgen günstigste Reihenfolge. Zunächst wurde der Antrag Hildenbrand in einfacher Abstimmung abgelehnt, hierauf desgleichen der Antrag Haußmann mit 60 gegen 17 Stimmen der Volkspartei mit Ausnahme des Abg. Storz und Harttmann. Schließlich gelangte mit 42 gegen 36 Stimmen der Sozialdemokratie und des größeren Teils des Zentrums und der Volkspartei der An­trag Wöllwarth, Hieber, Storz und Wolfs zur Annahme, worin die Regierung ersucht wird, vom 1. Oktober 1906 ab eine weitere Wagenklasse mit dem Fahrpreis von 2 Pfg. pro Kilometer in den Personenzügen und den beschleunigten Zügen einzuführen. Die ganze Debatte schloß also mit einem Sieg der IV. Wagenklasse.

Stuttgart, 5. Juli. Heute vormittag 8'/s Uhr fand eine Besichtigung von Eisenbahnwagen vierter Klasse statt, zu welcher der Staatsminister der Verkehrsanstalten die Abgeordneten eingeladen hatte. Auch der Ministerpräsident, der Minister des Jnnerü, der Kriegsminister und der Präsident der Kammer der Standesherren nahmen an der Be­sichtigung teil. Von der Generaldirektion der Staats­eisenbahnen gaben Staatsrat v. Balz, Ministerialrat v. Stierlin, der Direktor der Betriebsabteilung von Leo und Bailrat Kittel Erläuterungen. Es waren zwei preußische Wagen älterer und neuester Kon­struktion, sowie Muster der in Aussicht genommenen württembergischen Wagen ausgestellt. Die letzteren sind bisherige 3.-Klafsewagen, aus denen ein Teil der Sitzplätze herausgenommen und durch eine längs der Seitenwand laufende Bank ersetzt ist, wodurch freier Raum für Traglasten wie für Sitzplätze ge­wonnen wird.

Stuttgart, 5. Juli. Die Verfaffungs- konlmisfion der Kammerder Abgeordneten hat ill ihrer gestrigen Sitzung mit 8 gegen 6 St. auf der Wahl von 8 berufsständijchen Ver­tretern beharrt. Die Ernennung weiterer lebens­länglicher Mitglieder wurde mit 8 gegen 7 Stimmen unter der Einschränkung zugeftimmt, daß die Standesherren nicht durch freiwillige Entschließung in Wegfall gekommen fein dürfen. Bezüglich der Proporzabgeordneten wurde statt der Längseinteilung die Quereinteiluug des Landes (Neckar- und Jagstkreis 9, Schwarzwald- und Donaukreis 8 Vertreter) mit 11 gegen 4 Stimmen beschlossen. Auch hinsichtlich des Budgetrechts wurde dem Be­schluß der ersten Kammer mit 10 gegen 4 Stimmen beigetreten, die Gleichberechtigung der ersten Kammer bei Erhöhung der Einkommensteuer mit 12 gegen 3 Stimmen abgelehnt.

Reutlingen, 3. Juli. Ueber den Stand der Weinberge ist zu berichten, daß derselbe als all­gemein befriedigend bezeichnet werden kann. Die aufgetretene Peronospora wird seitens der Wein- gürtner durch Bespritzen der Weinstöcke bekämpft, doch ist von fachmännischer Seite, da die Krankheit auch hie und da die Trauben selbst ergriffen hat, ein nochmaliges Spritzen empfohlen worden. Die im Herbst und Frühjahr aufgetretenen Fröste hatten das teilweise Ausbleiben von jungen Reben in den Rebschulen und jungen Anlagen zur Folge.

Reutlingen, 2. Juli. Dieser Tage hat sich hier ein Vergiftungsfall durch den Genuß ver­dorbener Konserven ereignet, der sehr viel Aehnlich- keit mit dem Mainzer Fall aufweist. Die Familie des Zimmermanns Bräutigam erhielt aus einer Pension ein größeres Quantum Erbsen, nach deren Genuß die ganze siebenköpfige Familie schwer er­krankte. Während nun der Vater mit einem leichteren Unwohlsein davonkam, das nach heftigem Erbrechen wieder behoben war, ist ein 12jähriger Knabe ge­storben. Die Mutter und ein 2jähriges Kind liegen ebenfalls schwer erkrankt darnieder, auch die übrigen Mitglieder der Familie sind noch nicht außer Ge­fahr. Es wird vermutet, daß die Speisen durch die Art der Aufbewahrung in einem kupfernen Be­hälter verdorben worden seien; andererseits ver­lautet aber auch, daß es sich hier von Anfang an um nicht mehr ganz einwandfreies Essen gehandelt habe, das deshalb verschenkt worden sei und das dann durch die 24stündige Aufbewahrung gänzlich verdorben worden sei. Der Vater hatte von dem Essen nur ein wenig gekostet, während der nunmehr gestorbene 12jährige Junge mit großem Appetit und dies nun mit dem Leben bezahlen mußte. Ein