Zu der in der ersten Oktoberwoche in Hamburg stattfindenden Generalversammlung des deutsch-evang. Bundes wurde als Delegierter des württ. evang. Bundes neben anderen Pfarrer Siegel-Schömberg bestimmt, auch wurde die Tagesordnung der am 18. Oktober in Stuttgart tagenden Delegierten- Versammlung Württembergs ausgemacht und von Professor Hieber interessante Mitteilungen gegeben über das Wachstum der Bundessache in den einzelnen Ländern, unter denen das Königreich Sachsen die erste Stelle einnimmt. Die Sitzung als ganze genommen ließ so die unbeteiligten Zuhörer einen Blick tun in die weitverzweigte, schwere aber auch reich- gesegnete Arbeit, die zum Besten unseres Vaterlandes und zur Verteidigung unseres Glaubens der evang. Bund entfaltet.
Doch nun der Festtag selbst! Schon der Vormittagsgottesdienst mit der Predigt über den Wert, den Preis und den Dienst des Himmelreichs nahm auf ihn Bezug, denn eine Schilderung der Gotteswerke, die heute den Aufbau des Gottesreichs be- treiben, kann den evang. Bund nicht mehr unerwähnt lassen. Und nun kamen sie nacheinander, die Versammlung im Schloßgarten, im Gasthof zum Bären, in der Turnhalle, im „Anker" und in der „Sonne."
Trotz des zweifelhaften Wetters fand sich vormittags 11 Uhr eine große Versammlung im lieblichen, romantisch gelegenen Schloßgarten ein. Den Anfang machte der eindrucksvolle Gesang des hiesigen Liederkranzes, die Hymne: „Herr, unser Gott." Es folgte der frische Willkommgruß des derzeitigen Inhabers des Schloßgartens, Frhr. v. Gaisberg. Daran schloß sich an die kräftig zündende Festrede des Stadtpfarrers Traub von Stuttgart, der hiemit das Fest namens des Hauptvereins eröffnete.
Als evangelischer Bund — so führte er aus — sind wir hier bei einander, evangelisch, weil wir nicht lassen können von unserem Gott, von unserem Glauben und unserer Freiheit, verbündet, weil Einigkeit nur uns stark machen kann gegen die machtvollen Feinde. Denn der alt böße Feind ist immer noch der gleiche, nicht ruhiger und nicht toleranter als zu Luthers Zeiten. Torheit ist es, vom jetzigen Papst als von einem „religiösen" Papst zu sprechen. Pius X. hat in seiner Allokution vom 9. November 1903 ausdrücklich erklärt: Religiöses und Politisches lassen sich nicht trennen. Nirgends ist, wie manche Katholiken selbst zugeben, für diese besser gesorgt als bei uns. Aber sie sind nicht damit zufrieden. Alle geschichtlichen Rechte unserer evang. Kirche sollen aufg-hoben werden. Hierin kommen die offene Hetze und die stille Wühlarbeit zusammen. Darum hier in Gottes freier Natur nach dem Vorbild unterer Ahnen, die zur Beratung ihrer Anliegen zum Ting sich sammelten, laßt uns fragen: Was ist unsere Aufgabe Rom gegenüber? Zuerst Kenntnis des Feindes. Es handelt sich nicht um Kleinigkeiten oder um ein Theologengezänke. Es sind immer die Gleichen; sie haben den furchtbaren 30jährigen Krieg über Deutschland heraufbeschworen, haben nach Bismarcks Zeugnis den Krieg von 1870/71 mitverursacht, um Preußen zu stürzen. Wer's einmal in der eigenen Familie verspürt hat, der kann etwas sagen von ultramontaner List und Gewalttätigkeit. Aber dann kommt die Erkenntnis oft zu spät. Sodann Kenntnis dessen, was wir haben. Wir besitzen den lauteren Glauben, eine Kirche, die sich freut der persönlichen Selbständigkeit ihrer Glieder, Luthers Bild, der als Fels des Heils nicht wankte. Jeder Beruf ist ein Gottesdienst, auch die Ehe eine Vorschule fürs Himmelreich. Gefangen sind wir im Wort, aber darum frei nach außen. Auf dieser Grundlage wurde groß Wissenschaft und Kunst, Bildung und Kultur. Ein Gelehrter hat neulich dem Gustav-Adolf-Verein eine Summe Geldes vermacht in der Absicht, damit der Kultur zu dienen. Mit dem Evangelium schwinden unsere besten Kräfte. Seine Behauptung bringt auch dem Katholizismus Segen. Mit dem Evangelium find aufs engste verbunden die Helden der Reformation, voran der derbe Luther, im Vergleich mit dem nach dem Zeugnis des Altkatholiken Döllinger und des Züricher Drchters Konrad Ferdinand Meyer niemand so tief in die deutsche Volksseele geschaut. Auf Grund solcher Kenntnis träumen wir nicht mehr von der Möglichkeit eines Bündnisses zwischen uns und Rom etwa gegen die Sozialdemokratie. Recht hat Bismarck, wenn er sagte: Ihr meint, die Jesuiten seien die Klippe für die Sozialdemokratie; ich sage, sie werden vielmehr ihre Verbündete werden. Das beweisen die letzten Wahlkämpfe in Bayern. Hierin lassen wir uns auch durch Stöcker nicht daraus bringen. Ein Münchener Blatt gab neulich unter dem Hinweis auf die vielen gemeinsamen Lehren dem Verbrüderungsgedanken Ausdruck, aber wir hätten nichts davon, als daS Vorrecht, zuletzt
aufgezehrt zu werden. Darum gilts fest auf dem Plane zu sein. Dazu bedarf es aber Protestanten- geist, mehr protestantische Festigkeit. Es war ein schönes Wort unseres jetzigen Kaisers: Er liebe die Leute nicht, die immer sagen: Ja — aber; vielmehr halte er es mit denen, die sagen: Ja — also! Nur muß es auch in die Praxis umgesetzt werden. Bei dem jüngsten Bergarbeiterftreik unterschreibt der Kurator von Bonn den Ausruf für die notleidenden Bergleute und wird darüber vom Kultministerium zurechtgewiesen, dabei hatten die Bischöfe tausende von Mark gespendet, ohne gerügt zu werden. Der Kurator war eben kein Bischof, nur ein preußischer Beamter. Nötig ist mehr Parität! Und nötig mehr protestantisches Ehrgefühl! Nur nicht immer: Gebt ihr ein wenig nach, so geben wir ein wenig nach. Das sind, sagt Luther, Schuster, die Scherben zusammenflicken. Nein! Mehr Festigkeit z B. auf dem Gebiet der Mischehen! Als dem König von Preußen einst die Krone von Polen geaen Verzicht aus seinen Glauben angeboren, hat er erklärt: da sei Gott vor, daß ich meinen Heiland verleugne! Als eine Nichte des freisinnigen Königs Friedrich des Großen sich mit einem Russen vermählte, erklärte der König: Es ist unwürdig, die Konfession um äußerer Stellung willen zu wechseln. Und endlich: mehr Einigkeit unter den Evangelischen! Zwar keine Uniformierung! Manigfaltigkeit zeigt Lebenskraft. Aber bei aller Weitherzigkeit bildet das Evangelium den Boden zur Einheit gegen den gemeinsamen Feind. Würde es sich um gleichgültige Dinge handeln, so könnten wir stille sein. Allein es gilt das höchste. Seht, obschon 2/to von Deutschland fast schon evangelisch war, seufzte unser Luther doch: „Wir blinde Deutsche, die uns immer die Wahrheit rauben lassen." Darum keine falsche Zufriedenheit! Durch die Wolken brach damals die Sonne. Sie soll nimmer verdunkelt werden. Wir stehen fest auf der Wacht, fest wie die Berge, grün wie die Tannen, fromm und frei. Und Gott ist unsre Burg. — Auf dieses mutige Zeugnis erscholl als mächtiges Echo aus der Versammlung der reformatorische Siegesgesang: „Ein' feste Burg ist unser Gott" und der frische Wind trug die Töne über die rauschenden Tanne», über das ehrwürdige Schloß hinauf zum Himmel.
Namens der hiesigen Ortsgruppe begrüßte nun Postmeister Lang die Versammlung mit etwa folgenden Worten: Anfangs habe die Wahl des hiesigen Platzes zu einem solchen Fest allerlei Bedenken hervorgerufen, allein die Rührigkeit der hiesigen Einwohnerschaft und die Frische unserer Vertrauensmänner habe alle Bedenken zerstreut. Wir wollen uns durch das zweifelhafte Wetter die Festfreude nicht stören lassen. Denn unabhängig von Wetter und allem äußeren ist Protestantischer Geist. Die Sache unseres Glaubens treibt der evangel. Bund. Er möge es immer mehr tun in positiver Arbeit! Er möge stärker werden nach Mitgliederzahl und nach innerer Kraft! Er möge auch hier wachsen, seine Tagung schön verlaufen und viel Segen stifte»!
Frische Bergluft wehte uns entgegen, als Pfarrer Mahnert aus Marburg mit fröhlichem Gruß aus den kampfumtobten Bergen in Steiermark seine Ansprache begann. Schon auf seiner Reise hierher in Leoben s Straßen habe er in einer Begegnung mit einem Schwaben spüren dürfen, daß Württemberger ei» Herz und eine offene Hand für die Sache des Evangeliums haben. Mögen 'aus jenen 20 die er erhalten habe, bald 2000 o/tl werden! Und nun erzählte er die Reformationsgeschichte seines Steiermark's. Das stumme Spiel, das 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg vor Kaiser Karl aufge- führt worden, hat Luthers Geist mit zum Himmel dringenden Tönen in heiligen Ernst verwandelt. Wie überall, waren auch in Steiermark schreckliche religiöse und kirchliche Zustände herrschend, aber schon 6 Jahre nach Luthers Auftreten durchbrauste es das Land vom Erzgebirge bis zum adriatischen Meer, Landstände und Bürgertum fuhren einmütig zu. Klöster werden leer, Prediger treten auf, Luthers Schriften werden verbreitet. Aber auf dem Marktplatz von Graz wird Hans Haas der Märtyrer gerichtet, während in Windischgraz die reformatorische» Schriften in Flammen aufgehen. Allmählich wird Graz fast ganz evangelisch. 20 Jahre findet kein Fronleichnamsfest mehr statt. Eigene Schule, eigene Universität, blühendes Leben! Aber vom 9. Oktober 1572 erfolgt der Gegenstoß durch die Jesuiten im Verein mit der Regierung. Die Gegenwehr nützt nichts. An den Orten der Reformation wird der Rat aufgelöst und durch Katholiken ersetzt, die Führer werden verbannt, Kirchen in die Luft gesprengt. Wer weiß, wie die Steiermärker ihre Berge lieben, wo ihr Jodler so fröhlich klingt, begreift den Schmerz der Bürger und Köhler, als sie fort müssen.
In der Stille Pflanzt sich das Evangelium fort hinter verschlossener Tür, in verborgenen, unterirdischen Backofen wird das Evangelium gelesen, oft vor der Messe noch im schützenden Wald. Eine Magd birgt ihre Bibel unter dem Stroh einer störrigen Kuh. Welche Treue! Durch das Toleranzedikt des Kaisers Joseph 1781 wirds besser für die 2720 übrig gebliebenen Protestanten. Es werden 2 neue Gemeinden gegründet. Aber noch viele Beschränkungen: Keine Glocken, keine eigenen Kirchenbücher, evangelische Stolgebühren gehören dem katholischen Priester! Erst 1861 unter dem jetzigen Kaiser Franz Joseph kommt die Verfassung. Und nun baut der Gustav-Adolf-Verein in 15 Jahren 5 Kirchen, zuletzt in Marburg an der Drau. Jetzt gehts vorwärts dort! Und Worte fröhlichster Zuversicht bildeten den Schluß des lebhaften Ergusses des frischen Redners, an die sich sehr passend der herrliche Schlußgesang des Liederkranzes „Das ist der Tag des Herrn" anschloß. Gehobenen Geistes zog die Versammlung durch unser romantisches Schloßwäldchen an der epheuumrankten Ruine vorbei in die Stadt hinunter.
Während des zahlreich besuchten, allgemein be- friedigenden Festessens im blumenduftenden Saal des Gasthofs z Bären würzte das Mahl zunächst Professor Dr. Hieber, der Vorsitzende des württemb. Hauptvereins des evang. Bundes, mit einem begeistert aufgenommenen Trinkspruch auf unfern allverehrten König Wilhelm, unfern Landesfürsten, den hohen Schirmherr» unserer evang. Landeskirche, zu dem wir als Evangelische mit Liebe ausschauen und in dem wir in besonderem Sinn den Träger einer evangel. Tradition erblicken, von dem wir wissen, daß in protestantischen Fragen ein Verlaß auf ihn ist, daß sein Rat in die Wagschale fällt, die den Interessen der evangelischen Kirche entspricht- — Oberbibliothekar Dr. Geiger von Tübingen brachte, einleitend mit den Schillerworten: „Wenn gute Reden sie begleiten," den Dank dar allen Beteiligten für die gastfreundliche Aufnahme, die den Festgästen hier entgegengebracht worden. Der evang. Bund habe hier mit seinem heutigen Besuch eine alte Schuld abzutragen, denn schon in den ersten Jahren seines Bestehens habe er hier und im Bezirk guten Boden gefunden, da sich so viele in richtigem Verständnis für die Sache um die Fahne des Bundes gesammelt haben. Redner erinnerte dabei an de» Gründer und langjährigen Vorsitzenden des Bezirksvereins, Hm. Grafen v. Uxkull, und ließ seinen lebhaften Trink- spruch ausklingen in einem 3fachen Hoch auf die Stadt Neuenbürg. Dekan Hermann von Heilbronn gab noch bekannt, daß Pfarrer Mahnert auf seiner Vortragsreise im Lande sich für evangelische Gemeindeabende zur Verfügung stelle. Doch schon läuteten die Glocken zusammen und luden ein zum Festgottesdienst. Fast überfüllt war die geräumige Kirche und es lag andächtige Weihe und Ewigkeitsstimmung auf der zahlreichen Festgemeinde, als der Kirchenchor zur Eröffnung den vertrauensstarken 23. Psalm „Der Herr ist mein Hirte" vortrug.
Nach dem frischen, allgemeinen Gesang hielt Pfarrer Schüle aus Dürrmenz-Mühlacker eine ergreifende Predigt über 1. Thess. 5, Vers 5 und 6: „Ihr seid allzumal Kinder des Lichts und Kinder des Tags; wir sind nicht von der Nacht, noch von der Finsternis; so laßt uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein." So weit Evangelium in uns ist und der protestantische Geist der Freiheit in uns wacht, gehören wir wirklich zu den Kindern des Lichts, die fröhlich forschen, täglich weiter kommen nach allen Seite». Wenn wir aber aus übertriebenem Zartgefühl nicht mehr zu sagen wagen, daß wir evangelisch find, so beschämen uns die neugewonnenen Glaubensbrüder in Oesterreich, die ihren Eintritt in die evangelische Kirche für ihren größten Fortschritt halten und darum nicht mehr zurückschauen wollen, so find wir nicht wert unserer glaubensstarken Ahnen, so setzen wir uns der Gefahr aus, alle unsere geistigen Güter zu verlieren. Darum laßt uns wachsam mit warmen Herzen eintreten für unseren Glauben und furchtlos bekennen in dem opferfreudigen Geist, der unsere Kirche begründete! Wer meint, durch Leisetreten, durch Zurückstellen der eigenen Ueberzeugung, durch Gleichgiltigkeit in Sachen der Religion den Streit vermeiden zu'sollen, lebt nicht in der Wirklichkeit, denn er unterschätzt das allerwirklichste, den Zug des Herzens nach Licht. Darum laßt uns nüchtern sein mit Hellem Auge! Freundlichen Empfang hat die Stadt dem evang. Bund gewährt. Es ist ein Geist hier wie dort. Laßt uns auch ferner einmütig Weiterarbeiten für das Reich des Lichts! — Es sei noch mitgeteilt, daß das Opfer vom Festgottesdienst 165 -/A 75 betrug.