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Schwester auf den Weg, um nach dem Bruder zu sehen. Schreckensbleich kam sie wieder zurück und meldete, daß sie die blutbefleckten Kleider des Bruders gefunden habe, diesen aber nicht. Nun ging der Vater fort und dieser fand den Knaben als Leiche im Schnee. Er war von Hunden, die benachbarten Bauern gehören, angefallen und zerrissen worden. Die Geschichte klingt fast unglaublich, und doch ist sie wahr. Die näheren Umstände des gräßlichen Vorfalls bedürfen aber noch der Aufklärung.
Berlin, 6. Febr. Der deutsche Landwirtschaftsrat hat gestern Abend im Kaiserhof einFestmahl veranstaltet, dem Reichskanzler Graf Bülow und die Minister von Rheinbaben, von Hammerstein und von Podbielsky beiwohnten. Der Vorsitzende, Graf Schwerin-Löwitz eröffnete die Reihe der Trinksprüche. Er führte aus, die Regierung habe es jetzt in der Hand, durch ihre weiteren Schritte das erschütterte Vertrauen der Landwirtschaft entweder wieder wesentlich zu befestigen oder vollends zu vernichten. Nachdem der zweite Vorsitzende, Freiherr von Soden, den Grafen Bülow und die preußischen Minister begrüßt, erhob sich der Reichskanzler zu einer längeren Ansprache über Zollpolitik und Landwirtschaft. Er führte u. a. aus: Es sei unbestreitbar, daß der neue Zolltarif der Landwirtschaft wesentliche Vorteile bringe. Er könne sich nicht darüber aussprechen, wann die Handelsverträge gekündigt werden würden, das aber könne er sagen, daß er bei den Handelsvertrags-Verhandlungen die Interessen der Landwirtschaft mit besonderem Nachdruck vertreten werde. Mit dem verstärkten Zollschutz allein sei es aber nicht getan. Er gedenke dabei an concrete Maßnahmen, vornehmlich an die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse auf dem Lande durch den Bau neuer Schienenwege und befestigter Straßen, an eine kräftige innere Kolonisation, an die Hebung des technischen Betriebes der Landwirtschaft, namentlich auch in den Kreisen des kleinbäuerlichen Besitzes, an eine intensive Förderung des landwirtschaftlichen Bildungswesens, des Genossenschaftswesens, der Landes-Meliorationen, an eine Hebung der Viehzucht besonders durch stärkere Bekämpfung der Viehseuchen mit den neueren Erfahrungen der Wissenschaft. Aber auch durch solche gemeinsame positive Arbeit sei eine praktische Förderung der Landwirtschaft möglich, nicht durch Spielen mit unerfüllbaren Illusionen, nicht durch künstliche Züchtung eines Kleinmutes. Graf Bülow schloß mit einem Hoch auf die deutsche Landwirtschaft und den deutschen Landwirtschaftsrat. — Besonderen Beifall hatte die Stelle gefunden, an der der Reichskanzler die Versicherung abgab, daß bei Verhandlungen über die neuen Handelsverträge das Interesse der Landwirtschaft ganz besonders gewahrt werden solle. Nach dem Reichskanzler sprach Graf Ballcstrem, der ebenfalls auf die Landwirtschaft toastete. — Nach Aufhebung der Tafel weilten die Minister noch einige Zeit zwanglos unter den Mitgliedern des Landwirtschaftsrates.
Berlin, 6. Feb. Aus Wien wird der Morgenpost berichtet: Aus Salzburg wird telegraphiert: Die toskanische Familie verharrt bei ihrer Weigerung, die Kronprinzessin hon Sachsenzu empfangen. Sie habe jedoch gestern infolge dringender teligraphischer Bitten der Prin
zessin, ihre Bereitwilligkeit erklärt, durch eine Mittelsperson mit ihr zu verhandeln, vorausgesetzt, daß sie ohne Giron eintrifft. Die großherzogliche Residenz darf sie unter keiner Bedingung betreten. Es wurde ihr die Villa ihres Bruders Erzherzog Peter in der Nähe von Salzburg eingeräumt. — Der Genfer Korrespondent des „Neuen Wiener Tageblatt" telegraphiert, der Advokat Lachenal habe der Kronprinzessin in mehrstündiger Konferenz dringend geraten, sich von Giron zu trennen. Dann bestehe die Möglichkeit eines Arrangements ihrer Angelegenheiten in angemessener Form. Im gegenwärtigen Falle müsse sie sich auf Kollisionen gefaßt machen.
Berlin, 6. Febr. Der „Lokalanzeiger" meldet aus Newyork: Der englische Botschafter hat in Washington gegen Bowens Auftreten scharf protestiert. Staatssekretär Hay erklärte, die Union könne dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Man möge eine Beschwerde an Castro richten. Bowen sei zur Zeit nicht Beamter der Vereinigten Staaten. — In Newyork heiße es, die verbündeten Mächte seien abgeneigt, mit Bowen weiter zu verhandeln; sie wollten den Streitfall vor das Haager Schiedsgericht verweisen, falls ein neuer Versuch, Roosevclt für das Schiedsrichteramt zu gewinnen, fehl schlüge. Bowen erklärt, einen etwaigen neuen Versuch, Roosevelt dazu aufzufordern ohne Erlaubnis Venezuelas für eine Beleidigung. Er würde einen solchen Vorschlag ablehnen. — Deutschland fordere, so heißt es weiter, 5500 Pfund als erste Zahlung. Sobald diese bezahlt, die Schiedsrichter ernannt und das Protokoll unterzeichnet sei, werde es die Blockade aufheben.
Genf, 6. Febr. Advokat Lachenal und I)r. Zehme, die Vertreter der Kronprinzessin Luise, machen folgende Mitteilung: Giron hat heute abend Gens mit dem Pariser Schnellzug verlassen, um sich zu seiner Familie nach Brüssel zu begeben, wo er morgen nachmittag eintrifft und sich nieder- lassen wird. Giron hat alle Beziehungen zur Kronprinzessin aufgegeben, um ihr die Wiederaufnahme des Verkehrs mit ihren Kindern zu ermöglichen.
Petersburg, 6. Febr. In der Newski- spinnerei haben gestern 2000 Arbeiter die Arbeit eingestellt. Sie verlangen Lohnerhöhung. Der Verwaltungsrat hat die Fabrik bis auf Weiteres geschlossen.
London, 6. Febr. Nach dem in Windsor heute früh ausgegebenen Bulletin schreitet die Besserung im Befindendes Königs in sehr befriedigender Weise fort. Der König unternimmt heute eine Ausfahrt.
Vermischtes.
Vom Hotelleben. Wie Mr. Labouchere in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift verrät, besteht unter den Hotel-Portiers auf dem Kontinent ein Kommunikationssystem, dem gegenüber die Gäste hilflos dastehen, und das schon so manchem argen Verdruß bereitet hat. Die Portiers informieren sich nämlich gegenseitig über den Charakter der Gäste, soweit er sie interessiert, d. h. soweit Trinkgelder in Frage kommen, durch die Art und Weise, in der die Zettel auf das Gepäck aufgeklebt sind. In einer gewissen Lage deutet der Zettel an, daß besondere Aufmerksamkeit der Bedie
nung von dem Eigentümer des Koffers in effektvoller Weise anerkannt wird, in einer anderen Stellung, daß jede Aufmerksamkeit vollständig verschwendet ist.
Zarter Wunsch. Der Lehrer der zweiten Klasse einer Mädchenschule in Hannover beging vor einigen Tagen seinen Geburtstag. Die Schülerinnen der Klasse schenkten dem Lehrer eine große Torte, die aus einer Porzellanplatte, mit Krapfen umgeben, ihm überreicht wurde. Das Geschenk war begleitet von einem Briefe, der folgenden Wunsch enthielt: „Dieses schenkt die zweite Klaffe — und wünscht guten Appetit — Verzehren Sie die ganze Masse — und Ihre Frau und Kinder mit." — Guten Appetit!
Oeffentliche Sitzung
der
Handelskammer Calw
am
Dienstag, den 1ü. Kebruar 1903.
Tagesordnung:
1) Abnahme der Rechnung und Etat,
2) Entwurf eines Gebäudeversicherungsgesetzes,
3) Verstärkung des Beirats der Verkehrsanstalten
durch Vertreter des Handwerks,
4) Weltausstellung in St. Louis 1904,
5) Sonstiges.
Calw, 7. Februar 1903.
Der Vorsitzende: Kommerzienrat Zoeppritz.
Standesamt Kakw.
Geborene.
2. Febr. Emma Karoline, Tochter des Eugen Wilhelm
Bodamer, Fabrikarbeiters hier. Getraute.
31. Jan. Johann Jakob Staiger, Schreiner in Cannstatt nnd Margarete Hennefarth von hier. Gestorbene.
3. Febr. Ernst Aug. Schäfer, Postassistenten Sohn,
4 Jahre alt.
3. „ Johanne Katharine geb. Weiß. Witwe des
Johannes Rühm, Tuchmachers hier, 81 Jahre alt.
Gottesdienste
am Sonntag Sepiuagestwä, 8. Februar.
Vom Turm: 272. Predigtlied: S2, Der Herr ist gut rc. 9'/- Uhr: Vormitt.-Predigt, Herr Dekan RooS. 1 Uhr: Christenlehre mit den Töchtern. 5 Uhr: Predigt, Herr Stadtpfarrer Schmid.
Sonnerotag, 12. Februar.
8 Uhr abends - Bibelstunde im VereinShauS, Herr Dekan Roos.
HteLkameteil.
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blick hinaus. Indem er ging, sagte er zu seinem Freund: „Lasse ihn ununterbrochen spielen, bis ich zurückkomme."
Zwei Minuten nachher war er schon wieder im Lokal.
„Jetzt ein Makestob wie vorhin," flüsterte er.
August schob die Kugeln genau so wie vorhin und Bührings Notizbuch spazierte in seine Tasche zurück, ohne daß er die geringste Ahnung von dem Vorgefallenen hatte. Aber der Brief mit dem grünen Umschlag war fort.
Das Spiel wurde mit wechselndem Glück fortgesetzt. August war vorsichtig, um nicht das Mißtrauen seines Mitspielers zu erregen, und als sie um 12 Uhr die Röcke anzogen und gingen, hatte keine Partei einen nennenswerten Gewinn zu verzeichnen.
*
^ *
„Wollen Sie um fünf Uhr im Rotkelchen mit mir zusammentreffen. Ich darf nicht zu Ihnen kommen, um nicht wieder erkannt zu werden. Ich habe das Gewünschte. B. I."
Hell legte den Brief mit einem vergnügten Lächeln in sein Taschenbuch. „Verteufelt geschickter Burschei" murmelte er halblaut, zog seinen Ueberrock an und ging hinaus. Im „Rotkelchen", einem kleinen Restaurant bei den Stationen traf er Bitte-Jens, der mit seinem Gehilfen vom vorigen Tage auf ihn wartete.
„Nun, haben Sie den Brief?"
„Natürlich, hier ist er!"
Jens reichte ihm den mysteriösen Brief in dem grünen Umschlag. Hell untersuchte ihn sofort. Kein Zweifel, es war der rechte. Er sah sogleich, daß zwei Karten in dem Umschlag lagen und schob ihn darum in die Tasche.
„Sehen Sie, hier haben Sie Ihre Bezahlung. Berichten Sie mir nun, wie Sie verfahren sind. Jens erzählte genau seine Taten und machte keinen Hehl daraus, welche wertvolle Beihilfe August ihm geleistet hatte.
„Hier, mein Freund, da habm Sie einen Fünfzigerschein für Ihr ausgezeichnetes Billardspiel."
„Tausend Dank, mein Herr! Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen."
Die beiden Jndustrieritter verneigten sich in tiefster Untertänigkeit und verabschiedeten sich. Als Hell allein war, nahm er den Brief wieder zur Hand.
Er fand ganz richtig die erwähnten Karten, Herzaß und Spaten-Acht. Weiter enthielt der Umschlag jedoch nichts. Die Karten waren augenscheinlich alt und abgenützt, aber nicht ein Zeichen, nicht einen Buchstaben konnte er auf demselben finden. „Aber wo ist denn der abgesandt worden?" murmelte er ärgerlich bei sich selber. Das muß man wohl am Poststempel erkennen können."
Er nahm den Umschlag, fand aber zu seinem großen Verdruß, daß gerade das Stück, auf dem die Freimarke gesessen hatte, abgerissen war. Nur die Adresse war da. „Herr Henry Olsvig, „Gluckhenne", Kopenhagen." Die Schrift war steif und altmodisch. Das war der einzige Fingerzeig, den ihm dieser so teuer bezahlte Brief geben konnte.
„Du bist wirklich ein vorsichtiger General, Freund," sagte er zu sich selber. „Es wird mir eine besonderes Vergnügen sein. Dich einmal überlisten zu können."
*
Er ging nach Hause, wechselte die Kleidung und als „Viehhändler Malmberg von Söderstorp" trat er wieder in die „Gluckhenne", wo Marie ihn seit mehreren Tagen vergeblich erwartet hatte und ein bischen geärgert, ihm Vorwürfe wegen seines langen Ausbleibens machte.
„Sie können nun übrigens Wohnung erhalten," sagte sie einschmeichelnd. „Der Norweger ist gestern Abend verreist."
„Was sagen Sie?" Hell sprang auf.
„Ja, er kam gestern herab und wollte bezahlen, aber im gleichen Augenblick. als er sein Taschenbuch öffnete, wurde er bleich wie eine Leiche und begann zu fluchen. Dann bestellte er Tinte, Feder und Papier und schrieb einen Brief hier im Kaffee."
„Wie lautete die Adresse?"
„Das weiß ich wirklich nicht. Er legte ihn selber in den Briefkasten, dann ging er in sein Zimmer und einen Augenblick nachher kam er mit seinem Koffer in der Hand zurück und sagte, daß er abreisen müsse. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen." (Fortsetzung folgt.)