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Neuenbürg, Mittwoch den 9. August 1905
63. Jahrgang.
vermischtes.
Vom Schwarzwald, 3. Aug. Wohl der älteste Kirchenban des Schwarzwaldes ist die protestantische Kirche zu Peterzell (Amt Villiugen), welche nach einem vollständigen Umbau am Sonntag wieder ein- geweiht wurde. Der stehen gebliebene Turm reicht ins 13. Jahrhundert zurück, und die an ihm befindlichen Mauerschlitzen lassen als Schießscharten auf die ehemalige Befestigung schließen. Während des Umbaus wurde auch eine aus dem 12. Jahrhundert stammende Malerei freigelegt und in die Altertums- sammluug nach Villiugen verbracht. Die Gründung der .Zelle St. Peters", der äußersten Station des ehemalraen Klosters Reichenau, reicht in die Zeit unmittelbar nach Karl dem Großen zurück. In der Kirche, die schon wiederholt umgebaut wurde, soll nach mündlicher Ueberlieferung einmal Melanchthon gepredigt haben. Vom ältesten Bau aus der karolingischen Zeit find nur noch wenige Reste vorhanden. Den gotischen Chor, in dem sich noch ein gotisches SakramentshäuScheu befindet, schließt ein romanischer Triumphbogen ab mit dem Datum einer Renovation 1603, und vom Chor auS führt eine niedrige Tür, deren Sturz mit frühromanischem Bildwerk verziert ist, in die gewölbte Sakristei. Für jeden Altertums- freund bildet die Kirche in dem im oberen Brigachtal idyllisch gelegenen Ort Peterzell eine Sehenswürdigkeit.
Nürnberg, 4. Aug. Eine Zigarre rauchte an einem Aprilsonntag während des Gottesdienstes der 20 Jahre alte ledige Bäckergehilfe Maier auf der zweiten Empore der protestantischen Kirche zu Gräfen- berg. Es wurde deshalb gegen Maier Anklage wegen Vergehens Wider die Religion erhoben. Die Strafkammer vermochte in Maiers Ranchexzeß nur groben Unfug zu erblicken und ahndete diesen mit 14 Tagen Haft.
Bon der bayrischen Grenze, 7. Aug. Fest an Hexen glaubt der größte Teil eines Orts bei Immen- stadt. Als das Kind eines der „ersten Leute" des- selben erkrankte, holte dieser sofort einen „Wunder- doktor" herbei und ließ sich von ihm sagen, das Kind sei total verhext. Der Hexe würden aber bald die Füße wegfaulen. Als nach einiger Zeit eine Nachbarin an den Füßen erkrankte, stand fast bei jedermann fest, daß sie die Hexe sei und allseitig wurde sie gemieden. Der Vater des KindeS wies sie sogar barsch aus dem Hause, nachdem dieses ge- storben war und sie, wie dies üblich ist, an der Leiche beten wollte.
Pforzheim. (Aberglauben.) Man sollte es »icht für möglich halten, daß es im Jahr 1905 noch
so abergläubische Leute gibt, wie in einer benachbarten Gemeinde L. Vor ungefähr 3 Wochen er- hängte sich dort ei» Landwirt. Kaum war er einige Tage beerdigt, so gings schon wie ein Lauffeuer durch das Dorf: der F. kommt wieder als Geist! Ja, es behauptete sogar so eine alte Dorfbase, sie habe ihn gesehen, wie er morgens von seinem Hause nach dem Kirchhof gegangen sei. Eine andere sagt wieder, er habe ihr gerufen, als sie am Haus vorbeiging. Ja sogar Männer sagen und glauben solchen Unsinn. In einem Nachbarort behauptet so ein alter Hexenbanner und Teufelaustreiber, er habe, als er nachtS durch das Dorf ging, den Geist gesehen. (Vielleicht war hier wieder der Alkohol schuld.) Wenn mal ein Fuhrmann schläft und die Pferde bei Nacht in der Nähe des Hauses von F. stehen bleiben, so heißt es gleich, der Geist habe sie gebannt und augehalten. Die Weiber der Nachbarschaft getrauen sich abends nach Glockenläuten nicht mehr zum Hans heraus. Und so geht es weiter, Furcht und Schrecken überall! Und das im Jahre 1905!
Bismarck über Rußland. Noch ein Wort über Rußland. Rußland gleicht einem starken und gesunden Manne, der von einer Krankheit befallen ist. Wenn er Rat annehmen und zwei oder drei Tage zu Hause bleiben will, wird er unmittelbar wohl werden und so stark wie je; aber wenn er darauf bestehen will, auszugehen, umherzuspazieren und draußen Geschäfte zu erledigen, als wenn er wohl wäre, wird sich seine Krankheit fest auf ihn legen, und vielleicht wird er sterben. Zwei oder drei Tage im Leben eines Mannes bedeuten zehn, zwanzig oder dreißig Jahre im Leben einer Nation. Rußland muß „zu Hause bleiben". Es hat eine große Zukunft; seine höchsten Adeligen find intelligent und ehrenwert, seine Bauern sind die besten Kerls in der Welt; in der Mitte ist es faul, der Beamtenadel ist ein giftiges Geschwür, welches seine Eingeweide hinwegfrift. Bismarck (Poschinger, Tischgespräche).
Der Prinz als Hirt. Eine höchst aben- teuerliche Geschichte ereignete sich jüngst auf einem Londoner Polizeirevier. Ein junger Schotte war verhaftet worden, weil man vermutete, daß er durch falsche Vorspiegelungen habe Geld erlangen wollen; er gab an, daß er ein Prinz aus dem berühmten Hause Condö, ein Mitglied des bourbonischen Fürsten- geschlechtes, ei» Abkömmling der Polnischen Adels- familie Sobieski und der Häuptling der schottischen Clains Ailpain und Mac Lennan sei. Der sonderbare Fremdling war vor etwa 3 Wochen zum ersten im Süden Englands gesehen worden und hatte in
verschiedenen Dörfern Beschäftigung als Schafhirt gesucht. Er trug ein schottisches Hochlaudskostüu, und erregte durch sein bescheidenes und schüchternes Wesen, sowie durch die Vornehmheit und Feinheit seines Aussehens das Interesse eines Pfarrers, der ihn aufnahm und mit Geld ausstattete. Später jedoch wurde er mißtrauisch und ließ ihn gefangen nehmen. Der junge Mann nennt sich Sheamus Sobieski Bourbon Abrach; er erzählt, daß seine Ahnen schottische Häuptlinge gewesen seien, daß die einzige Tochter des Hauptes der Familie einen Prinzen von Condö geheiratet habe, daß dann beim Ausbruch der französischen Revolution das damalige Haupt der Familie nach Polen ausgewandert sei und dort eine Sobieski geheiratet habe. Nach dem Fall Napoleons sei seine Familie nach Schottland zurückgekehrt und habe hier ein völlig zurückgezogenes Hirtenleben in den Ruinen ihres alten Schlosses geführt, bis eine Reisesehnsucht nun den Jüngling aus dieser Abgeschlossenheit herausgeführt habe. Von dem Glanz und der Vornehmheit seines Geschlechtes schien der Jüngling nichts zu wissen.
Unlautere Lockmittel. Im Schaufenster eines großen Warenhauses in Leipzig war, wie das „Leipz. Tagebl." berichtet, ein hochfeines Batistkleid zu dem geringen Preis von 13 ausgestellt. Ein Ehe- Paar begab sich in das Geschäft, um das Kleid zu kaufen, erhielt aber die Mitteilung, daß das Kleid bereits verkauft sei und man nur übersehen habe, es aus dem Schaufenster zu entfernen. Der Herr verlangte aber unter allen Umständen die Aushändigung des Kleides, indem er die 13 ^ bereit hielt. Als längere Verhandlungen erfolglos blieben, suchte der Herr die Hilfe eines Schutzmannes in Anspruch zu nehmen, erhielt jedoch nur die Adresse der zuständigen Behörde. Hierauf begab sich der Mann nochmelS in das Warenhaus, wurde jedoch aufgefordert, daS Geschäft zu verlassen. Als er der Aufforderung nicht nachkam, wurde ein Schutzmann geholt, der die Anzeige wegen Hausfriedensbruchs einleitete. Ein zahlreiches Publikum hatte sich alsbald angesammelt, das lebhaft Partei für das Ehepaar ergriff.
Dieser Tage erschien, wie das „N. Wien. Tgbl." erzählt, abends im Polizeikommissariat Leopoldstadt. Wien der aus Deutschland nach Wien zugereiste Kaufmann Heinrich Beerholdt und brachte zur An- zeige, daß er am 18. Juli die ungarische Sängerin Josefine Weiner geheiratet habe. Schon am Tage nach der Hochzeit sei seine Gattin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden. Er habe nichts von ihr gehört, bis vor zwei Tagen ein Brief von ihr eintraf, in dem sie eine Zusammenkunft mit ihm im
Die Graphologi«.
Novelle von C. v. Dorn au.
2! - (Nachdruck verboten.)
II.
Fichtenberg i. Thüringen, 30. Juni.
Liebste AgneS!
D» wirst meinen Brief aus Berlin erhalten haben, den ich am Tage vor meiner Abreise schrieb, bist also auf Dein Schicksal vorbereitet und erschrickst hoffentlich »icht, schon wieder ein Schreiben von mir in den Händen zu halten.
, Ich bin gestern Abend glücklich hier einpassiert. Fichtenberg schien sich wirklich Mühe gegeben zu haben, meine unwürdige Person mit den höchsten Ehren zu empfangen, als ich mich ihm im offenen Wagen von der Bahnstation aus näherte. Es lag so friedlich eingebettet in das enge Tal, rings ringe- schlossen von den herrlichen, grünen Nadelwäldern, die ihm seinen Namen gegeben haben. Die Sonne lvarf feurige Strahlen auf eine gewaltige Gewitter- wand, die langsam im Osten davouzog, und die roten Ziegeldächer des Dörfchens glänzten wie lackiert — E mußte am Nachmittag sehr stark gewittert haben. Der kleine Gebirgsbach, der Fichtenberg durchstießt, ehe er in die Ebene hinaustritt, war trübe, gelblich und hoch angeschwollen. Die Linden an der Chaussee leuchteten förmlich, die alte Eiche am Eingänge des Dorfes reckte einen Ast wie einen Triumphbogen über die Straße, die Glocken des heimkrhrendeu Viehes
läuteten melodisch, und auch die obligaten Festjung, frauen fehlten nicht bei dem feierlichen Empfange. Weiß gekleidet waren sie allerdings entschieden nicht, dafür hatten sie die allerschönsten Flachsköpfe, die himmelblausten Augen und die rosigsten Mäulchen, in denen freilich meist verlegen ein Zeigefinger steckte.
Das friedliche, freundliche Bild hatte meiner ver- schüchterten Seele wohlgetan, und erquickt atmete ich die wunderbare Luft ein und dankte im Stillen dem alten Freunde, der mich hierher gesandt. Als mein Wagen aber vor der Tür des Kurhauses hielt, dessen stattlicher, schiefergedeckter Bau etwas oberhalb des Dorfes aus dem Waldesgrün sich abhebt, klopfte mein Herz wieder recht ängstlich. Ach, ich war ja seit mehr als drei Jahren so wenig mit anderen Menschen- lindern in Berührung gekommen und hatte in meinem kleinen retiro an der Schwelle der Riesenstadt so einsam gelebt wie ein Einsiedler in der Wüste! Und da saßen nun in der Veranda des Kurhauses eine mich schier unübersehbar dünkende Menge von fremden Menschen, die alle mit mehr oder weniger verhüllter Neugierg den Neuankömmling begrüßten
Ich gestehe Dir, daß ich eine Minute lang die größte Lust hatte, umzukehren und schleunigst wieder zum Bahnhof zurückzufahren. Aber die etwas un- verschämte Art und Weise, mit der eine ganz in der Nähe sitzende junge Frau mich durch die Lorgnette anstarrte, gab mir meine Fassung zurück. Ich ver- ließ den Wagen und ging mit völliger äußerer Ruhe und dem gewissen Ausdruck im Gesicht, den Ihr in der Pension stets mit „Klara zieht ihre hochmütige
Nase!" bezeichnete, zwischen all diesen gaffenden Leuten hindurch. — Aus der Haustüre kam mir eine Dame entgegen, die der Kutscher mit lautem „Guten Abend, Frau Doktor'" begrüßte, ehe er umdrehte. Sie empfing mich mit einer ruhigen Freundlichkeit, die mir Wohltat, entschuldigte ihren Mann, der iuS Dorf zu einer Kranken gerufen sei, und führte mich selbst in mein Zimmer, das bereit stand, da ich mich schon vor einigen Lagen auf Anraten des Sauitäts- rats angemeldet hatte. „Wenn Sie in einer halben Stunde wieder herunterkommen wollen, liebes Fräulein Rehfeld," sagte sie, „so kann ich sie noch ein wenig mit den Herrschaften bekannt machen, ehe wir zu Tisch gehen." Sie verließ mich dann, und während mein Gepäck heranfgebracht wurde, trat ich an das geöffnete Fenster und genoß den köstlichen Ausblick. Nur ein großer Rasenplatz trennt hier das Haus vom Walde, und die herrlichen Baumrieseu da drüben schienen mir ein freundliches .Willkommeul" zuzu- nicken. Das gab mir ein Gefühl der Sicherheit: „Ihr bleibt mir, wenn mir die Menschen hier nicht ge- fallen!" rief ich, nickte fröhlich wieder und schritt später mit etwas klopfendem Herzen zwar, aber doch getröstet die große Treppe hinunter.
Im Vorsaale unten begegnete mir eine kleine, sehr bewegliche Dame mit einem abschreckend häßlichen, Haubenartigen Hute auf dem Kopfe, unter dem zwei lustige, schwarze Augen mich anblitzten. Sie kam anscheinend aus dem Walde, trug in der einen Hand einen Knotenstock, in der anderen einen prachtvollen Wald- blnmenstrauß, und ein Riesenplaid über der Schulter.