Zweites Blatt.
Zweites Blatt.
Der Lnzwäler.
1
Neuenbürg, Donnerstag den 1. Januar 1903.
61. Jahrgang.
Zum Jahreswechsel.
Abermals stehen wir an der Scheidegrenze zweier Jahre, wiederum ist mit dem Jahreswechsel jener bedeutsame Moment im ewigen Kreislauf der Zeit eingetreten, der wie kein anderer im Jahre uns zu innerer Einkehr und Selbstprüfung mahnt, der zugleich zu Rückblicken auf die Vergangenheit und zu Ausblicken in die Zukunft auffordert. Hat uns das alte Jahr die Hoffnungen und Erwartungen erfüllt, mit denen wir in dasselbe eintraten, hat es das Füllhorn des Glückes und der Freuden dieses irdischen Daseins über uns ausgegossen, oder ward uns in seinem Laufe allerlei Mißgeschick und Ungemach beschieden, zeitigte es für uns Enttäuschungen und Kümmernisse, Leid und Sorgen? Wohl, jetzt können wir uns selbst die Antwort hierauf geben, und wissen nun, ob das alte Jahr die frohen Erwartungen, mit denen wir dasselbe begrüßten, rechtfertigte, oder ob es unsere Wünsche und Hoffnungen enttäuscht hat, indem es uns des Schicksals dunkle Lose anstatt der heiteren Lose zu Teil werden ließ. Wenn uns die letzteren fielen, so sollen wir trotzdem nicht mit Gefühlen der Ueberhebung und eiteln Selbstbewußtseins hinein in den anhebenden neuen Zeitabschnitt schreiten, sondern vielmehr in dem demütigen Bewußtsein, daß alles Glück dieser Erden wandelbar ist, mußten wir aber ein Jahr — der Kümmernisse, der Leiden, der Sorgen erleben, so sollen wir an seiner Wende frischen Mut und frisches Vertrauen fassen und mit diesen Empfindungen das neue Jahr getrost begrüßen. Nimmermehr jedoch wird es uns vergönnt sein, im Voraus zu schauen, was der Zukunft Thor geheimnisvoll unseren Blicken noch verbirgt, vergebens ist all unser Mühen, zu ergründen, ob uns Heil, Erfolg und Segen, ob Mißgeschick, Not und Unheil beschieden sein werden. Daher sollen uns Gottvertrauen und gläubige Zuversicht, gepaart mit ernstem Pflichtbewußtsein und echtem Mut beseelen, wenn wir den Weg in das im ungewissen Dämmerscheine or uns liegende neue Jahr Hineinschreiten. Glaube, ^iebe, Hoffnung, Fleiß und Treue, sie seien die Leitsterne, die uns diesen Weg erhellen — dann wird uns sicherlich das neue Jahr für unser Thun und Lassen zum Segen gereichen!
Neujahr.
Ein neues Jahr — ein unbeschrieb'nes Blatt!
Noch leuchtet dir es schneeig rein entgegen,
Du weißt nicht, was es dir zu bringen hat,
O geh' behutsam aus den sremden Wegen!
Nimm einen Stab, der auch im finstern Thal Dich stützt und leitet zu gewissem Tritte,
Nimm eine Leuchte, deren reiner Strahl Den Psad erhellt sür jeden deiner Schritte!
Ein ewig Ziel behalte sest im Aug',
Vor welchem lausend Jahr als Tag entschwinden; Nicht rechts noch links — nur Aufwärtsblicken taug', Den einen Weg hinauf, den gilt's zu finden!
Und deine schwache Hand, die lege sest In Gottes ewigtreue Baterhände!
Erfahr' es, daß er nie sein Kind verläßt!
Vertrau' ihm! — wie er auch dein Leben wende!
Daun wird das Blatt von diesem neuen Jahr,
Wenn wieder die Sylvesterglocken läuten,
Vor deiner Seele Augen licht und klar,
Ein hundertfältig' Dankgebet bedeuten.
Helene Gräfin Watdersee.
Bus SlaSt, Bezirk uns Umgebung.
Neuenbürg, 29. Dez. Der hiesige Militärverein hielt am Stephansseiertag im „Bären" seine Christ baumseier unter Mitwirkung der Feuerwehrkapelle in altgewohnter Weise ab.
* Birkenfeld. Bei der neulichen Bürgerausschuß-Wahl haben von 336 Wahlberechtigten 213 abgestimmt; zum ersten Mal war eine solch starke Beteiligung, da sich 2 Parteien, die Bürger- Partei und die Arbeiterpartei, gegenüber standen; erstere brachte ihre Kandidaten (5 Landwirte) bis auf einen durch, die Arbeiterpartei brachte dagegen von ihren Kandidaten nur zwei, eigentlich nur einen, durch, weil der andere auch von der Bürgerpartei übernommen war. In aller Stille rüstete sich elftere und kam Mann sür Mann zur Wahlurne, während von der Arbeiterpartei Manche nicht abstimmten.
Die Schriftleitung des Schwarzwaldvereins teilt mit, daß der in den letzten Wochen auf der Langenbrander Höhe errichtete Aussichtsturm nunmehr besteigbar ist. Die Schlüssel zum Turm hält bis aus Weiteres Hr. Oberförster Bühler in Langenbrand und der Kassier des Bezirksvereins, Hr. Schultheiß Feldweg in Höfen, in Verwahrung.
Vom 10. Januar an gestalten sich die Posteinrichtungen für die Gemeinden Gräfenhausen, Ottenhausen, Arnbach, sowie Ober- und Unterniebelsbach folgendermaßen:
1. Die Landpostbotenfahrt zwischen Ottenhausen u. Neuenbürg über Arnbach-Gräfenhausen-Obernhanseu:
Ottenhausen
Arnbach
Sonniaqs fußqehniö ab 6.30
Wevtlaqs
6.00
„
7.05
6.55
Gräfenhausen
„
7.30
7.30
Obernhausen
Neuenbürg
„
7.50
8.00
an
8.25
8.55
Neuenbürg
ab
9.00
10.30
Obernhausen
„
9.40
11.50
Gräfenhausen
10.00
12.20
Arnbach
„
10.25
1 05
Ottenhausen
an
11.00
1.45
2) Der werktägliche Landpostbotengang (neu) von Ottenhausen über Arnbach nach Neuenbürg und zurück: Ottenhausen ab 2.30 Arnbach „ 3.15
Neuenbürg an 3.55
ab
4.15 5.10 5 55
Neuenbürg Arnbach Ottenhausen an Nach der Hohmühle hat der Bote um 6.25 abends abzugehen.
3) Der Landpostbote für die Orte Ober- und Unterniebelsbach hat seinen Gang über Grafenhausen und Obernhausen nach Neuenbürg auszudehnen und
Oberniebelsbach Gräfenhausen Obernhausen Neuenbürg
Neuenbürg Obernhausen Gräfenhausen Oberniebelsbach Neuenbürg
Die Oelmühle wird nach Beendigung des Bestelldienstes in Unterniebelsbach auch Werktags bedient.
ab
Sonntaqs
11.00
Werkiaq'
1.25
„
11.10
1.35
an
11.40
ab 2.25
ab
- —
2.45
an
—
3.20
ab
—
3.40
„
—
4.35
„
11.50
5.10
„
12.40
6.05
an
12.50
6.15
Zum Wechsel der Jahre.
Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.
Schiller (Sprüche des Eonsucius).
Heller Jubel tönt in die dunkle Nacht hinaus.
— Sylvester! — Wie das klingt und singt und scherzt und lacht! Die Gläser tönen gegeneinander, und schöne Wünsche werden denFreunden von Freunden dargebracht. Warum ist man doch so fröhlich? Weil ein Jahr Abschied nimmt von uns. — Oder
— nehmen wir nicht Abschied von dem Jahr, das hinter uns zurückbleibend versinkt in das tiefe Grab der Vergangenheit, der Ewigkeit? Und warum freuen wir uns dessen? Das Scheiden bringt doch sonst nur Herzeleid. Oder war uns das alte Jahr so wenig hold, daß wir froh sind, es hinter uns zu haben? Oder freuen wir uns, weil es uns gutes gebracht hat und weil wir besseres von der Zukunft erhoffen? Vielleicht trifft beides zu, vielleicht auch sind wir nur fröhlich aus alter Gewohnheit. Der Wechsel der Zeiten an sich ist doch nichts besonderes, er vollzieht sich fortwährend und die Stunden und Tage jagen sich, wie die Wellen im Strom.
Rastlos und gleichmäßig wandelt die Zeit dahin, wir achten nur nicht darauf. Wohl sehen wir auf dem Zifferblatt der Zeit die Zeiger über die Teilstriche der Tage, Wochen und Monate dahineilen, doch wir beachten es kaum. Erst wenn beide Teile sich treffen bei dem großen Punkt, in dem Augen blick, wo der Hammer aushebt, die Mitternachtsstunde zu melden, wo ein feierlicher Choral das Ende des alten und die Geburt des neuen Jahres verkündet, da kommt es uns zum Bewußtsein, daß unsere alte Erde wieder einmal ihren Rundgang um die Sonne vollendet hat.
Doch warum der Jubel? Und wem gilt er? Dem vergangenen oder dem kommenden Jahre?
Bevor wir an die Schwelle herantreten, die uns von einem neuen Abschnitt unserer Zeitrechnung trennt, verweilen wir einen Augenblick und wenden den Blick rückwärts, sinnend Prüfend. Wir fühlen den Ernst des Augenblicks, in dem der Jubel verstummt. Wie fern liegt die Nacht, in der uns wie heute die Glocken das neue Jahr einläuteten I Und was liegt zwischen dem einst und jetzt! — Eine kurze Spanne Zeit nur und doch so reich an Geschehnissen, an guten und an bösen Stunden! Und was für Gedanken und Empfindungen kommen uns mit der Erinnerung an das, was einstmals war und nie wieder sein wird!
Was jedem einzelnen das Jahr brachte, waS es ihm nahm, das wird nicht verzeichnet in dem Buch der Geschichte, das steht nur in der Erinnerung Buch, dem einzige», was wir hinüberretten aus der Vergangenheit in die Zukunft, und das einst vielleicht mit uns erlöschen und verschwinden wird sür immer.
Was uns das Jahr genommen hat?
Wenn wir versammelt sind in feierlicher Stunde und uns umschen im Kreise unserer Lieben, ach, vielleicht bemerken mir so manche Lücke. Noch vor Jahresfrist war wohl noch jemand fröhlich und voll Hoffnung unter uns, der heute nicht mehr das volle Glas erhebt, sondern still unter dem grünen Rasen ruht. Vielleicht ist er uns sehr teuer gewesen und hat ein Stück unseres eigenen Lebens mit hinabgenommen in die Gruft. Vielleicht grünte und blühte der Baum seiner Hoffnungen so schön, so voll Kraft wie der unsere. Aber des Winters eisiger Hauch streifte die Blätter und Blüten ab in einer Nacht, da sich die Erde über ihm schloß, um ihn nie wieder heranszugeben. Nun brennt die Wunde, die noch nicht vernarben will, und eine Thräne des heißen Schmerzes fällt in das Glas, das in Deiner Hand zittert, rurd nicht mitklingen kann i» dem Aceord
der Freude, von der die stille Nacht widerhallt. Und leise kommt dir vielleicht der Gedanke: „Wer mag wissen, ob übers Jahr nicht auch Du fehlen wirst und ob man auch Deiner gedenken wird einen Augenblick lang."
Doch die Zeit nimmt nicht nur das Gute, sondern auch das Böse mit sich hinweg. Wie viel Menschenkinder mögen noch vor einem Jahre die Neujahrsnacht durchwacht haben in Sorge oder schwerer Bedrängnis, die heute das Leid vergessen haben, unter dem sie sich damals verzagend beugten. Ward nicht auch vielleicht von Deiner Seele ein Stein gewälzt, der Dich zu erdrücken drohte?
Die Zeit nimmt aber nicht nur, sie bringtauch!
Mit bangen Zweifeln sahen wir der Zeit der Ernte entgegen, wenig Raum gebend der Hoffnung, als die Ungunst der Witterung sich nicht wenden wollte. Und doch sind die Scheuern gefüllt mit den Früchten des Feldes! — Schwer litten Handel und Industrie unter dem Druck der Zeit und der schaffende Fleiß kam vielfach um sein Recht. Und dennoch sind wir hindurchgekommen unter den drohenden Polken, hinter denen der Himmel wieder blaut, dem Schaffensfreudigen zum Trost.
Ewig still steht die Vergangenheit.
Nichts haben wir von ihr zu erwarten und zu hoffen, viel aber zu lernen. Wie dunkel die Zukunft vor uns liegt, so hell beschienen vom Sonnenglanz der Zeit leuchtet uns die Vergangenheit. Wieviel böses sehen wir da, oas wir gern der Zeit an- rcchnen möchten, das aber doch unfern Fehlern, unserer eignen Schuld zuzuschreiben ist. Das Vergangene läßt sich nicht zmückrnfen, nicht ringe- schehen machen.
Wohl aber können wir aus der Erkenntnis des Bösen die Lehre des Guten schöpfen. Wir wissen, daß cs nicht leicht ist, sie zu lösen. Deshalb wollen wir uns sammeln, uns rüsten mit Kraft und gutem Willen. Dazu aber diene die Gegenwart!