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London, 25. Juni. Obwohl die Verschieb­ung der Krönung jetzt überall bekannt ist, bringen doch Gefährte aller Art noch ständig Menschenmassen in die Stadt, welche sich die Dekorationen ansehen wollen, an deren Entfern­ung nun Scharen von Arbeitern beschäftigt sind. Viele Leute hatten sich eben zum Besuch Londons frei gemacht und müssen nun zusehen, so gut sie können, die Tage zu verbringen. Das Verhalten der großen Mehrheit ist durchaus musterhaft, doch fehlt es auch nicht an Ausschreitungen von Elementen, die sich stets finden wo große Men­schenmassen versammelt sind.

Madrid, 26. Juni. Im Militärlager von Carabonchel (ein Madrid benachbarter Ort) er­folgte heute eine Schlagentzündnng. Zahlreiche Menschen liegen unter den Trümmern. Ein dichter Rauch bedeckt das Lager. In ganz Madrid und den umliegenden Ortschaften wurde die Detonation vernommen. Zahlreiche Fenster­scheiben wurden zerbrochen.

Valparaiso (Chile), 26. Juni. Gestern früh stürzte eine Brücke über den Rio Claro bei Talca ein, als ein Personcnzug darüber fuhr. Eine große Anzahl Zuginsassen wurde getötet, andere, denen es gelang, auf das Verdeck der in den Fluß gestürzten Wagen zu klettern, wurden gerettet.

Unterhaltender Heit.

Um einen Widder.

Novelle von Karl Bienenstein.

10 (Nachdruck verboten.)

Als der Hofstetter fort war. kam die Hosbäueriu mit der trüb dienenden Kerze m die Stube und stellte sie auf den Tisch. Während sie sich hier und da zu schaffen machte, warf sie ab und zu einen Seitenblick auf ihren Mann, der durch ein Fenster in die Nacht hinausblickte. Dann sagte sie aus einmal:Geh, mir hat der Hofstetter doch recht erbarmt!"

Recht bleibt Recht!" klang es schroff zurück.

Die Hofbäuerin erkannte, daß hier jedes weitere Wort umsonst sei und schwieg daher. Und wenn sie die Sache so recht genau nehmen wollte, so hatte ihr Mann im Grunde genommen nicht Unrecht. Der Hos- stetter hätte ihn sicher im gleichen Falle nicht geschont. Das hatte sich ja damals gezeigt. Und sie war zu­frieden.

Am nächsten Tag fuhr der Hosbauer mit Toni zum Bezirksgericht und brachte seine Klage vor. Die Ein­sicht der Akten des Falles Hofstetter contra Hosbauer ergab nach den gemachten Aussagen, daß jener einen falschen Eid abgelegt haben müsse.

Nach einigen Wochen kam es zur Gerichtsverhand­lung. Jeder der beiden Bauern hatte einen Advokaten, die ihre Sachen so gut führten, daß der Fall vor das Geschworenengericht des Kreises kam.

Wieder verstrichen Wochen, bis die Verhandlung wieder ausgenommen wurde.

Schon bei der ersten Sitzung wurde die Schuld des Hosstetters klar und das Urteil gesprochen. Er hatte sich des Meineids schuldig gemacht, da er dazumal beschwor, daß er vom Widder nichts wisse. Der Ver­teidiger gab sich wohl alle Mühe zu beweisen, daß es kein Meineid gewesen sei, denn der Hofstetter hätte ja wirklich vom Widder nichts weiter gewußt, aber es half nichts. Der Staatsanwalt ging auf die Spitz­findigkeit nicht ein und ebenso nicht die Geschworenen. So bekam der Hofstetter 3 Jahre Gefängnis.

Als das Urteil verkündet wurde und der Hofstetter wie von einem Axthieb getroffen, stöhnend zusammen­brach, da ging wohl dem Hofbauern ein Stich durchs Herz. Es flirrte und tanzte vor seinen Augen. Ein so hartes Urteil hatte er weder gewollt noch erwartet. Ein inniges Mitgefühl mit seinem unglücklichen Nachbar quoll in ihm aus und seine Augen wurden feucht.

Hoher Gerichtshof," sprach er vortretend,ich er­laß dem Hofstetter die Stras'."

Er wollte noch etwas sagen, aber der Richter fiel ihm barsch ins Wort:

Sie haben hier nichts zu erlassen! An dem Urteil kann nichts mehr geändert werden."

Ich bitte, hoher Gerichtshof!" versuchte der Hof­bauer noch einmal, denn er wollte um jeden Preis das Urteil abschwächen.

Aber da schnitt ihm von der Anklagebank des Hof« stetters Stimme scharf ins Ohr:Hofbauer, thu' Dich nicht so verstellen. Deine Rach' hast gestillt, jetzt kannst doch zufrieden sein. Mußt Dich nicht auf den Weich­herzigen Hinausspielen!"

Noch in späteren Jahren konnte sich der Hofbauer nicht erinnern, wie er aus dem Gerichtssaal hinaus und wieder heimgekommen war. Seit dem Gerichtstag - aber gab es auch für ihn etwas, was ihn nie mehr ganz sroh werden ließ. Er fühlte, daß er einen Menschen zu Grunde gerichtet hatte.

Man hatte dem Hofstetter ein paar Wochen Zeit gelassen bis zum Antritt seiner Strafe, damit er seine Wirtschaft ordnen könne. So nahm er denn einen alten Knecht aus, von dem er wußte, daß er erfahren und grundehrlich sei, damit er seine Stelle vertrete. Sonst war der Hosstetter merkwürdig gefaßt. Keine Klage, ja nicht einmal ein böses Wort über den Hos­

bauer entschlüpfte seinen Lippen. Er wollte stark sein. Die drei Jahre würden wohl auch vorübergchen und dann sollte ein ganz neues Leben beginnen.

Beim Abschied jedoch, als sein Weib an seinem Halse hing und herzzerbrechend schluchzte, als die Kinder um ihn jammerten, daß es einen Stein hätte erbarmen können, da schnürte ihm ein namenloser Schmerz und eine entsetzliche Angst die Kehle zusammen. Eine Welle kämpfte er aber mit den Thränen, dann aber ging es nicht mehr; auS der übervollen Brust rang es sich los wie das Röhren eines totwunden Tieres und da wollte er sortstürmen. Aber sein ältester Bube warf sich mit ausgebreiteten Armen in der Thüre aus die Knie und schrie mit herzzerreißender Stimme: Vater, nicht fortgeh'n!"Mein lieber Vater, nicht tortgeh'n!" Und als der gequälte Mann noch ein paar Schritte vorwärts that, da warf der Knabe die Arme um seine Kniee, preßte sein brennendes Gesicht mit knirschenden Zähnen daran und ließ nicht los.

Und der Hofstetter lehnte seine Stirn an den Thür­pfosten und weinte wie ein Kind. Dann riß er sich jäh los und schritt in den glutzitternden Septembertag hinaus, ohne Mut, ohne Hoffnung.

Von nun an ging es im Hosstetterhaus still und traurig her. Jedes ging schweigsam seiner Arbeit nach und wenn auch mit der Zeit die brütende Dumpf­heit wicb, es war doch immerhin nur ein leeres, licht­loses Dasein, welches die Hosstettcrleute mehr ertrugen als lebten.

Am meisten ging der Hosstetterin die Einkerkerung ihres Mannes zu Herzen. Schlaflose Nächte, die sie durchweinte und durchbetete, zehrten an ihrer Gesund­heit. Noch vor Weihnachten schied sie dahin.

Diesmal brannte kein Christbaum im Hosstetterhaus, das seinen Bewohnern selbst ganz fremd vorkam.

Nun es war auch schon ein fremdes Haus. Dem Drängen der Gläubiger nachgebend, wurde das Haus von Gerichtswegen aus die Gant gebracht; ebenso übernahm die Behörde die Vormundschaft über die Kinder. Das bischen Vermögen, das nach Abzug aller Schulden übrig geblieben war, wurde in eine Spar­kasse gelegt, wo es bis zur Ankunft des Vaters bleiben sollte. Diesen selbst hatte man von den Veränderungen kurz benachrichtigt.

Einstweilen wurden die Kinder in der Nachbarschaft untergebracht. Die Unglückssälle, welche dieselben be­troffen hatten, brachten ihnen die Sympathie und das Mitleid aller Nachbarn, von denen jeder einHof- stetterisches" haben wollte, so daß leicht die dreifache Anzahl versorgt worden wäre.

Seit der Hofstetter wußte, daß sein Weib tot sei, war er ganz still und ruhig geworden. Er hatte keine Thränen mehr. Mit größter Apathie vegetierte er dahin und verfiel sichtlich von Tag zu Tag. Oftmals trug nun der Gefangenwärter das spärliche Essen fort, ohne daß der Hofstetter auch nur einen Bissen verkostet gehabt hatte. Ein Tag um den andern verstrich in mechanischer Arbeit.

So waren endlich auch die drei Jahre um und der Hofstetter wurde dem Leben zuriickgegeben. Er hatte aber den Begriff von dem Werte desselben verloren. Nicht einmal seinen Kindern hatte er mitgeteilt, wann er komme, obwohl sie ihn in einem Briefe darum baten.

Wieder war es ein Septembertag, als er zum ersten mal seine eigenen Wege gehen durste. Aber sein Schritt war unsicher, schwankend, sein Auge blickte müde wie sonst. Die srische Luft that ihm weh.

Er konnte es nicht begreifen, das es jetzt anders sein sollte, als in den drei verflossenen Jahren. Wie ein Traumgebilde erschien ihm der Zug, der ihn brausend der Heimat zuführte und nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, als er gedankenlos die Rasing ent­lang ging und den Berg zu seinem früheren Haus Hinanstieg, daß er einst diesen Weg als freier Mann, als Herr von Grund und Boden begangen habe.

(Fortsetzung folgt.)

Vermischtes

(Der Sieg der Blouse.) In Paris hatte man die Absicht, der Blouse in dieser Saison den Garaus zu machen. Ihre Stelle sollte das sogenannte Habit Louis XV. einnehmen, die kurze Taille, die hinten mit einem kleinen Schößchen versehen und vorn mit Hilfe von Spitzen- und Chiffonwesten reich garniert ist. Für elegante Zwecke neigen die Modedamen denn auch dieser neuen Idee zu. Aber sieghaft bewährt sich dennoch die Lebenskraft der Blouse. Sie erbringt den Beweis, daß eine Mode nicht gemacht werden, daß sie auch nicht aufs Geratewohl vertrieben werden kann. Im Jahre 1890 wurden die Blousen Mode. Man trug sie mit den viel geschmähten, überaus stoffreichen Ballonärmeln. Es bildete sich bei den Frauen eine wahre Blousen- und Herrenhemdmanie aus. Der glatte Rock nnd die seidenen, wollenen oder baumwollenen ziemlich glatten Blousen dazu gaben dem Anzuge das Gepräge des Männerkostüms. Interessant ist es, die Wandlungen zu verfolgen, welche die Blouse seit jener Zeit erfuhr. Heute erinnert sie nicht mehr an ihr ursprüngliches Modell. Sie ist so duftig und bauschig geworden, wie die Feder sie gar nicht zu beschreiben vermag. Nur aus leichten Seiden, Spitzen, Entredeux, Batisten,

Gazen und den neuesten Errungenschaften aus. Seidenleinen und Satin bestehen sie. Fältchen und komplizierte Durchbruchnähte bilden ihre Verzierung. Große Kragen decken die Schultern. Zu den meisten dieser luftigen Blousen ist eine besondere farbige Untertaille erforderlich. Das Männliche, das ihr eigen war, ist gänzlich verwischt. Große Schleifen, Bänder und Cravatten sorgen dafür, daß der Charakter der Frau zum Ausdruck gelangt. Aber leicht ist es nicht, sich mit Hilfe der Blousen geschmackvoll zu kleiden. Es gehört ein ausgeprägtes Farbengefühl dazu und Sinn für Harmonie, um den Rock und die Blouse, den Gürtel und die Cravatte untereinander in Einklang zu bringen.

(Stachelbeergelee.) Man schneidet die Stachel­beeren auf der Seite auf, nimmt mit einem Hölzchen die Kerne heraus, setzt die Beeren mit viel Wasser auf Feuer, nimmt sie, sobald sie aufsteigen, ab und läßt sie in dem Wasser erkalten; dann gießt man das Wasser ab, frisches darauf, setzt die Beeren nochmals ans Feuer, schüttet das Wasser ab, rührt sie in geläuterten Zucker und schüttet sie in ein auf eine Schüssel gestelltes Haarsieb. Die durchgeflossene Gelee bewahrt man auf.

(Komisch.) Er:Und ich bestehe darauf daß Du bei der Festlichkeit ein geschlossenes Kleid trägst!" Sie:Diese Blöße werde ich mir nicht geben!"

(Trost.) A.:Denken Sie sich, mein Sohn ist schon wieder sitzen geblieben." B.:Trösten Sie sich mit mir, meine 3 Töchter auch."

(Noch schöner.) Frau (als ihr Mann im Rausche über etwas laut skandaliert):Höre mal, Arthur, Du scheinst ja heute einen Brüll­affen zu haben."

(Ja der Eile.) Defraudant (auf der Flucht, als der Kutscher langsam fährt):Denken Sie vielleicht, ich habe meine Zeit auch gestohlen!"

Merkrätsel.

Jedermann, Kerker, Rüge, Zeigefinger, Daudet, Waschseife, Bienenkorb, Dechant, Weinkeller.

Aus jedem der obigen 9 Wörter sind drei aufeinanderfolgende Buchstaben zu merken. Werden diese richtig gefunden, so ergeben sie aneinander­gereiht ein bekanntes Sprichwort.

Auflösung der zweisilbigen Charade in Nr. 96.

Luftschloß.

Mutmaßliches Wetter am 27. und 28. Juni.

(Nachdruck verboten).

Der nunmehr über der ganzen Nordsee, Nordwest­deutschland, Dänemark und säst ganz Skandinavien auS- gebreitete Hochdruck von 770 mm hat die letzte De­pression unter Abflachung auf 760 mm von Livland und Esthland nach Galizien und Ostungarn verdrängt. Eine gleich schwache Depression liegt auch über der Riviera und der Lombardei. Ein neuer Luftwirbel dürste von Westen her bald wieder in Irland eintreffen, weshalb bei vorherrschend östlichen bis nordöstlichen Winden für Freitag und Samstag steigende Temperatur und fast ausnahmslos heiteres Wetter zu erwarten ist.

Am 28. und 29. Juni.

Die Vorposten des gestern angekündigten neuen Luftmirbels aus dem atlantischen Ozean sind mit 760 mm an der Westküste Irlands, sowie m Südwest­frankreich eingetroffen. Demgemäß werden andauernd östliche Winde am Samstag und Sonntag fortgesetzt größtenteils Heiteres Wetter bei warmer Temperatur im Gefolge haben.

Neueste Nachrichten«. Telegramm,

Berlin, 26. Juni. Die AblösungstranS- porte für die ostasiatische Besatzungsbrigade traten heute auf dem DampferPisa" und dem Reichs­postdampferKönig Albert" von Hamburg die Ausreise nach Ostasien an.

Paris, 26. Juni. Ein Mitglied der gestern aus London zurückgekehrten Mission für das Krönungsfest hat einem Berichterstatter mitgeteilt, daß König Eduard zu seinem Sohne, dem Prinzen von Wales, gesagt habe:Vor allem wünsche ich, daß das Bankett der Armen stattfinde und daß man mich ganz besonders bei meinen Gästen entschuldigt, daß ich sie unnütz bemüht habe. Ich hoffe, daß alle in drei Monaten wieder kommen."

Niort, 26. Juni. In der Nähe von Melle entgleiste infolge Schienenbruchs ein Personen­zug. Etwa 30 Personen erlitten Verletzungen, darunter 10 schwere. Mehrere Eisenbahnwagen wurden völlig zertrümmert.

Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg"