Unterhaltender Teil.
Ein Dämon.
Kriminal-Novelle von Ernst v. Waldow.
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Frau Marie ließ sich mechanisch darauf nieder, sie sah sehr bleich und abgespannt aus.
Da öffnete sich die Thür des Vorzimmers und Willfrieds schlanke Gestalt erschien in den Rahmen derselben.
Mit einem freudigen Ausruf erhob sich die Witwe, lebhafte Röte färbte die eben noch so blassen Wangen, und sie rief mit zitternder Stimme:
„Willfried, teurer Freund, schützen Sie eine verlassene Frau! O, jetzt atme ich wieder auf, da ich Sie in meiner Nähe weiß."
Doch anstatt die ausgestreckte Hand zu ergreifen, trat Willfried mit einem so unverkennbaren Ausdruck des Abscheus zurück, daß Marie, entsetzt über die Strenge und das Ber- dammungsurteil, welche aus den sonst so sanften Augen des jungen Mannes sprachen, sich, eine Stütze suchend, an die Lehne des Sessels klammerte.
Der Schmerz jedoch, den ihr diese Zurückweisung verursachte, gab der energischen, Willensstärken Frau ihre volle Kraft zurück; in Thränen ausbrechend, sprach sie mit der ganzen Innigkeit, deren ihre melodische Stimme fähig:
„Ist es denn möglich, welch' böser Zauber hat in wenigen Stunden mir die Herzen der Menschen zu entfremden vermocht, auf deren Treue ich gebaut wie auf des Ewigen Güte?"
„Wenden Sie sich an des Ewigen Gnade, und flehen Sie ihn an, daß er Ihnen ein milder Richter sein möge!" unterbrach sie Willfried mit strenger Stimme.
„Willfried — mir das — und weshalb? Was that ich, daß Sie mich verdammen? Auf die völlig grundlose Anklage eines aberwitzigen alten Mannes, der gestern noch darauf geschworen, daß Katharine in einem Anfall von Geisteskrankheit ihren Vater erdrosselt, und der jetzt behauptet, ich habe die That begangen, verurteilen Sie mich ohne jeden Beweis, ja ohne auch nur zu hören — ist das gütig, ist das auch nur gerecht?"
Die düstere Miene des jungen Mannes hellte sich nicht auf bei diesen beweglichen Worten, im Gegenteil, um den fein geschnittenen Mund zuckte es, aus den großen, dunklen Augen schoß ein Blitz des Hasses und der Verachtung, als Willfried jetzt erwiderte:
„Statt der lügenhaften Versicherungen Ihrer Unschuld sollten Sie durch ein offenes und reuevolles Geständnis die beleidigte Gottheit zu versöhnen und Ihr Unrecht, soweit dies noch möglich, gut zu machen suchen."
„Wenn ich Ihnen aber schwöre, daß ich fälschlich angeklagt, daß ich eine unschuldig Verfolgte bin, von der sich selbst die abwenden, deren Pflicht es wäre, sie zu schützen — wenn ich dies bei dem allmächtigen Gott schwöre, werden Sie mir auch dann noch mißtrauen, Willfried?"
Marie hatte in ihrer großen Auflegung, und völlig mit dem jungen Manne beschäftigt, an dessen schönem Antlitz ihre Blicke unverwandt hingen, es ganz übersehen, daß Steinau das Gemach still verlassen hatte.
Eine Antwort erwartend schwieg sie jetzt, Willfried jedoch schauerte zusammen und die Hand äbwehrend ausstreckend, sagte er warnend:
„Freveln Sie nicht — häufen Sie nicht Schuld auf Schuld, anstatt Ihr Gewissen durch ein Bekenntnis zu erleichtern."
„Willfried!" rief Marie, außer sich gebracht durch diese Entgegnung, „Sie werden mit Thränen der Reue mir einst diesen schwarzen Verdacht abbitten — ich bin unschuldig an dem Tote meines Gatten!"
„Werden Sie auch den Mut haben, Marie von Wallenberg, dies dem Zeugen gegenüber zu behaupten, den ich Ihnen stellen werde?" tönte die Stimme des Gerichtsrats Sternau.
Die Witwe wandte sich hastig nach dem Sprecher um, er stand auf der Schwelle der Thür, die in das Schreibzimmer des Verblichenen führte.
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Sobald Marie sich nur dem Gerichtsrat gegenüber sich befand, war sie Herrin ihrer selbst, das Gefühl war da durch den berechnenden Verstand im Zügel gehalten. Ohne sich auch nur zu bedenken, richtete sie sich stolz und kampfbereit auf und die Hand an das Kruzifix legend, sprach sie mit lauter Stimme und dem Ausdruck innerster Ueberzeugung, ohne zu schwanken:
„Bei dem Gekreuzigten schwöre ich, daß ich unschuldig bin an dem Tote meines Gatten!"
Die Schwörende hatte die Blicke ihrer großen, leuchtenden Augen wie beteuernd erhoben, jetzt ließ sie dieselben langsam herabgleiten, um sie vorwurfsvoll auf den beiden Anklägern ruhen zu lassen — aber — was war das — Blendwerk der Hölle oder Sinnestäuschung — hatten die Angst, der Schmerz sie wahnsinnig gemacht, daß sie Gestalten sah, wo nichts, wo leere Luft war, oder gab es wirklich eine Gottheit, eine strafende, rächende, die durch ein Wunder Tote belebte und aus ihrem Sarge steigen ließ, um Zeugnis abzulegen gegen ihre Mörder?
Wehe — dort in dem Rahmen der Thür, wo eben noch der Gerichtsrat gestanden, war die Gestalt des Ermordeten erschienen, gehüllt in ein dunkles Gewand, das starre Auge fest und anklagend auf sie, seine Mörderin, gerichtet.
Und horch — tönte da nicht ein Laut von den blassen Lippen, es war ihr Name:
„Marie!"
Der zitternde Ton erschütterte die Verbrecherin mehr, als dies die Posaune des jüngsten Gerichts vermocht hätte, ihre weit geöffneten Augen schloßen sich, Totenblässe deckte die Züge des starren Antlitzes.
Anfangs hatte sie ein Gespenst zu sehen vermeint und war entsetzt zusammengeschauert vor der übernatürlichen Erscheinung. Schatten aber können kein belastendes Zeugnis vor Gericht ablegen, können nur das Gewissen des Mörders wecken — solche Qualen hätte Marie ertragen — ein anderers war es mit der Aussage eines Lebenden und wie erst die Erkenntnis ihr Hirn durchzuckte,- daß hier der Totgeglaubte wirklich und lebendig vor ihr stände, da packte Verzweiflung sie und brach ihren kecken Mut — mit einem wilden Aufschrei sank sie auf ihre Knie und verhüllte das Gesicht.
Der Gerichtsrat trat zu dem Totgeglaubten und stützte die schwankende Gestalt, indessen Willfried der gebrochenen Frau zudonnerte:
„Ah — ist die unbarmherzige Mörderin, die kühne Heuchlerin, die Frevlerin am Heiligsten endlich verstummt — wagt sie es nicht, diesem Zeugen gegenüber ihre Unschuld zu beteuern?"
Ein dumpfes Aechzen war die einzige Antwort der Knieenden.
Der Alkoholismus u. die Aufgaben der Gesellschaft zur Bekämpfung desselben.
II.
Ueber die unsäglichen Nachteile des Alkoholismus für die Wohlfahrt der einzelnen Familie, der Gemeinde und des Staates ließen sich ganze Bände schreiben. Wo ist eine Gemeinde und sei sie auch noch so klein, in der sich nicht eine Familie befindet, deren Glück dadurch vernichtet worden ist, daß der Mann dem Trünke ergeben war. Forschet nach den Gründen, die diese oder jene Familie ins Armenhaus gebracht haben, und ihr werdet als letzten die Trunksucht des Mannes finden. Die immer mehr überhandnehmende gewohnheitsmäßige Trinkerei ist die Hauptquelle nicht nur der Einzel- sondern auch der Massenarmut. Giebt doch das deutsche Volk jährlich 2'/s Milliarden Mark für alko- olische Getränke aus. Ein württ. Finanz- eamter hat ausgerechnet, daß das schwäbische Volk in den letzten 3 Jahrzehnten eine Summe für Getränke ausgegeben hat, die mehr als hinreichend wäre, alle Staats- und Hypothcken- schulden zu tilgen. Und wohlgemerkt, diese direkten Ausgaben bilden nur einen geringen Teil der Schäden, welche dem Nationalvermögen durch die Trunksucht zugefügt werden. Wie groß der Einfluß ist, den die Trunksucht auf die Häufigkeit und die Art der Verbrechen ausübt, lehrt die Statistik. Unter 32837 Ge
fangenen befanden sich 13 706 Trinker (41,1-/) und zwar 7269 (22,1"/<>) Gelegenheitstrinker und 6437 (19,6°/,) Gewohnheitstrinker. Hinsichtlich der Art der Verbrechen ließ sich Nachweisen, daß der Mord in 46,1 °/„ der Totschlag in 63,2°/ Körperverletzung schwerer Art in 74,4 °/„ solche leichter Art in 63°/,, Widerstand gegen die Staatsgewalt in 76,3°/,, Vergehen gegen die Sittlichkeit in 77°/, der Fälle im Zustand der Trunkenheit verübt worden waren. Diese Zahlen reden eine deutliche Sprache und zeigen, wie das Volksvermögeu durch Bau und Unterhaltung von Gefängnissen und weiterhin von Armeu- und Krankenhäusern und endlich von Irrenanstalten, die zur Hälfte mit Trinkern besetzt sind, in Anspruch genommen wird. Wollte man erst noch den Verlust an Arbeitskraft, der aus dem Alkoholismus resultiert, in Zahlen umsetzen so erhielte man Summen, welche die anscheinend so glänzenden Staatseinnahmen aus der Besteuerung des Spiritus und der geistigen Getränke weit übertreffen.
Welches sind nun die Aufgaben der Gesellschaft angesichts dieser Verheerungen, welche durch den Alkoholismus verursacht werden?
In erster Linie ist es notwendig, durch Belehrung in Wort und Schrift gegen den Mißbrauch geistiger Getränke anzukämpfen. Freilich wird man dadurch allein die Idee der Mßig- keitsbestrebungen ihrem Ziele nicht viel näher bringen; vielmehr handelt es sich in dieser wichtigen Frage darum, wie kann der bei uns zur Sitte gewordene Wirtshausbesuch eingeschränkt werden, bezw. welchen Ersatz will man für ! das Wirtshaus schaffen? In manchen größeren Städten unseres Landes haben wohlmeinende Männer oder Gesellschaften Volks- Kaffeehäuser gegründet, in denen man Kaffee,
Thee, Milch, Kakao, Limonade, kurz alkoholfreie Getränke, sowie einfache Speisen zu billigsten Preisen und in bester Qualität haben kann. Jeder, der ein solches Haus besucht, wird von der Ruhe und Ordnung, die hier herrscht, angenehm berührt und von einem gewissen Abscheu gegen den in den meisten Wirtschaften herrschen- > den ohrenbetäubenden Lärm erfüllt werden. Da- , mit scheint ein Weg zur Lösung dieser in unser gesamtes Volksleben so tief einschneidenden Frage gegeben zu sein. Errichte man in jeder Gemeinde ein Haus, wo man alkoholfreie Getränke und einfache Speisen haben kann und richte man in eben diesem Hause eine öffentliche Volksbibliothek mit Lesesaal ein, so scheint mir ein Ersatz fürs Wirtshaus geschaffen zu sein, eine Stätte, wo man Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse und Gelegenheit zur Bereicherung seines Geistes und angenehmste Unterhaltung ? finden könnte. Gewiß würde mancher bald zu der Erkenntnis kommen, daß man bei einer Tasse l Thee oder Kaffee ebensogut über Gemeinde- und Staats Angelegenheiten sprechen kann als bei Bier und Wein. Ein solches Gemeindehaus, das von der Gemeinde in Regiebetrieb genommen würde, würde eine Quelle des Segens für manche Familie und für die ganze Gemeinde werden und wäre eine Kapitalanlage, die reiche Zinsen einbringen würde. Dadurch, daß mit dieser Einrichtung eine Bibliothek verbunden wäre, würde dieses Gemeindehaus auch sozusagen zum geistigen Mittelpunkt der Gemeinde und manchem wäre Gelegenheit geboten, sein Wissen zu erweitern und seine Einsicht zu vertiefen, gewiß nicht zum Schaden der Gesellschaft. So würde sich nicht nur der sittliche Stand des Volkes heben, sondern auch der geistige und physische; eine größere nationale Tüchtigkeit wäre die unausbleibliche Folge, was bei unserer wachsenden Bevölkerung und angesichts des immer schroffere Formen annehmenden wirtschaftlichen Kampfes von größter Tragweite wäre. Möchten sich in jeder Gemeinde Männer finden, die Mut genug besitzen, den Kampf gegen den Alkoholismus. die größte und im wahrsten Sinne des Wortes „nationale" Gefahr, aufzunehmen! —IT
jBestätigung.j Mutter: „Was das Mädel für Streiche macht! Mir ist das Kind ein Rätsel/
— Vater: „Ja — und zwar ein ungerate nes. '
Nedatttorr, Druck mW Verlag von L. Meeh m Neuenbürg.