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Neuenbürg, Samstag den 13. Januar 1900.
Deutsches Reich.
Mehr National-Gefühl.
Der Deutsche hat einen eigentümlichen Hang zur Bewunderung des fremden und zur Geringschätzung des eigenen Wertes. Während sich der Engländer mit Stolz auf dem ganzen Erdenrund einen Sohn Englands nennt, und der Franzose nur Franzose, der Spanier nur Spanier ist, kann sich mancher Deutsche nicht genug thun in der Nacheiferung fremder Sitten und fremden Wesens. Es ist dies ohne Zweifel das unglückliche Erbteil aus der Zeit der deutschen Ohnmacht und Erniedrigung.
Unfern Voreltern mag man die Sucht, sich mit fremden Federn zu schmücken, um in ihrer Umgebung mehr zu erscheinen, immerhin vergeben. Unter den Wirkungen des 30jährigen Krieges aufgewachsen, befanden sie sich vor den Trümmern der einstigen vaterländischen Größe und waren so zermalmt durch den Gang eines fürchterlichen Schicksals, daß sie auf mehrere Geschlechter hinaus das Zutrauen zu sich verloren hatten und unwillkürlich durch den gleißenden Glanz des französischen Hof- und Gesellschaftslebens geblendet wurden. Dieses war damals leider tonangebend für die ganze Welt geworden, weil König Ludwig XIV. sein Zeitalter zu beherrschen verstand.
Das französische Beispiel konnte am wenigsten seine Wirkung auf die von führender Stellung auf einen bescheidenen Lebensstand gedrängte deutsche Nation verfehlen; auch sie strebte unwillkürlich nach einer Verfeinerung ihrer Lebensart, ihr Fehler war nur, daß sie das französische Vorbild für echt ansah und gleich ganz in sich aufnahm. Doch das lag im Geiste der Zeit, und später entbehrte das deutsche Volk zu lange eines gemeinsamen Vaterlandes, um seine nationale Eigenart stolz zur Schau zu tragen.
So ist es gekommen, daß sich bei uns fremde Sitte von einem Geschlecht zum andern übertragen hat, und daß sich auch die Zeitgenossen noch immer mit einem Ballast undeutschen Wesens in der Sprache, in den Geschmacksäußerungen und Lebensgewohnheiten schleppen, der in einem schroffen Gegensatz zu der gegenwärtigen Weltstellung und dem Wohlstände Deutschlands steht. Es ist selbst den geistlich Freiesten im Volke schwer, sich von den angeerbten Untugenden zu befreien, denn die Fremdsucht hat auf unser Sprache so verwüstend gewirkt, daß wir für viele Begriffe keinen deutschen Ausdruck mehr haben. Andererseits dünkt vielen ein mit fremden Worten wiedergegebener Gedanken, ein Titel u. s. w. erhabener, als wenn sie ihn gut deutsch nennen. Ist das nicht thöricht?
Dasselbe gilt von unfern Moden, in denen sich viele zu blinden Nachtretern des Auslandes machen und Millionen als Zoll ihrer Schwäche in die Fremde wandern lassen, obwohl wir bei der Vervollkommnung unserer Güter-Erzeugung eher den auswärtigen Völkern ein Beispiel des guten Geschmacks in der Bekleidung und sonstigen Lebensführung bieten könnten. Namentlich ist die sogenante „Engländerei" bei uns in neuester Zeit so üppig ins Kraut geschossen, daß sich das deutsche Auge davon unwillig abwendet. Wer sich auf der Höhe des Lebens dünkt und recht „fein" gelten will, kleidet sich englisch, speist englisch, spielt englisch.
Fordern wir nicht durch solche Thorheiten den Spott des Auslandes heraus? Was bei unfern Vätern entschuldbar erscheint, ist bei dem heutigen Geschlecht durchaus zu verwerfen. Wir erfreuen uns wieder eines machtvollen deutschen Vaterlandes, und wer es geringschätzt und dafür sich durch Nachäffung des Fremden, besonders des englischen Wesens ein höheres Ansehen zu geben sucht, verfällt mit Recht dem Fluch der Lächerlichkeit. Das deutsche Volk wird seine Weltstellung nur behaupten können, wenn es sich die Eigenart seiner natürlichen Anlagen wählt,
und wenn jeder das Wort des Großen Kurfürsten beherzigt: „ Gedenke, daß du ein Deutscher bist!"
Die Ansprache, welche der Kaiser bei der Jahrhundertwende an die Offiziere der Berliner Garnison im dortigen Zeughaus gehalten hat, ist schon in Kürze von uns erwähnt worden; sie beherrscht neben den Beschlagnahmungen deutscher Kriegsschiffe durch England die politi- tische Erörterung ausschließlich. Was nun die Anschauungen des Kaisers und des Reichstags über die Vermehrung der Flotte betrifft, so ist ja über das Ob auch bei der Reichsvertretung kein Zweifel, nur das Wie giebt Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten. Darin stimmen alle deutschen Politiker ohne Ausnahme der Parteien überein, daß, wenn die Verstärkung der Kriegsflotte in überzeugender Weise als notwendig und unabwendbar nachgewiesen ist, eine imponierende Majorität dafür eintreten wird. Zu einem wirklichen, tiesergehenden Konflikt will es keine Partei kommen lassen, da alle Parteien darin einig sind, daß dem deutschen Reich bei der gegenwärtigen und künftigen Gestaltung der Weltpolitik diejenige Einfluß- und Machtsphäre gesichert werde, die ihm gebührt. Wenn das Zentrum geschlossen für die neue Vorlage eintritt, so ist an der Annahme der Vorlage überhaupt nicht zu zweifeln. Inzwischen wird, da es sich um eine imponierende Vermehrung der deutschen Kriegsflotte handelt, auf die von den Engländern beliebte Beschlagnahme deutscher Schiffe hingewiesen, welche, wie man annimmt, Wohl nicht erfolgt wäre, wenn eine imponierende deutsche Seemacht sich nachdrücklich ins Zeug hätte legen können. Doch abgesehen davon legten diese Beschlagnahmungen nur ein weiteres Zeugnis für die Rücksichtslosigkeit der englischen Politiker ab. John Bull sieht in allem, was ihm nicht gerade in den Kram paßt, Kriegskontrebande. Dabei wird ganz übersehen, daß England zu allen Zeiten nur das Geschäft und seinen Vorteil im Auge hat und daß es sogar lediglich um geschäftliche Vorteile zu erringen, Kriegskontrebande an die Feinde des eigenen Landes geliefert hat! Und dieses selbe England, welches jetzt in frevelhaftester Weise in Südafrika einen Krieg vom Zaune gerissen hat, thut, als ob es allein und ausschließlich die Weltmeere zu beherrschen und zu beaufsichtigen hätte! Die Beschlagnahmungen bilden eine förmliche Rechtswidrigkeit gegenüber dem deutschen Reich; unwillkürlich gedenken wir angesichts dieses Vorgehens der jüngsten heuchlerischen Versicherungen des Hrn. Chamberlain betr. das freundschaftliche Verhältnis zwischen England und dem Deutschen Reich. Das war Freundschaft im englischen Sinne!
Die silbernen 20-Pfennig-Stücke sind nicht, wie vielfach geglaubt wird, seit 1. Januar außer Kurs gesetzt. Die Einziehung dieser, in Norddeutschland unbeliebten, in Süddeutschland dagegen gern gesehenen Münze folgt erst nach und nach. Es sind deshalb die öffentlichen Kassen angewiesen, diese Stücke nicht wieder in den Verkehr zu bringen, sondern zur Einschmelzung zurückzubehalten. Schon jetzt wird diese Münze nicht mehr geprägt. Voraussichtlich werden die 20- und 50-Pfennig-Stücke in anderer Größe und Legierung hergestellt werden.
Mit Beginn des neuen Jahres erscheint die Verwendung älterer Wechselformulare, die am Eingang noch den Vordruck der Jahreszahl 18 tragen, insofern bedenklich, als aus der hierdurch notwendig werdenden Korrektur eines wesentlichen Wechselbestandteiles Einwendungen von seiten Wechselverpflichteter erhoben werden könnten, die darauf ausgehen, darzuthun, der Wechsel habe die Veränderung nach der Begebung durch sie erlitten und sei sonach ihnen gegenüber unverbindlich. Soweit solche Formulare noch zur Verwendung gelangen, wäre daher darauf zu achten, daß die Korrektur in der Weise vor
genommen wird, daß Einwendungen der erwähnten Art die Aussicht auf Erfolg möglichst benommen ist. Es könnte dies vielleicht in der Weise geschehen, daß die Jahreszahl 1900 vor dem Vordruck 18.. und von diesem erkennbar getrennt, in Zahlen voll ausgeschrieben wird. Immerhin wäre auch dieses Verfahren unter Umständen geeignet, zu Rechtsstreitigkeiten Anlaß zu geben und empfiehlt es sich daher, die alten Formulare mit Beginn des neuen Jahres überhaupt nicht mehr zu verwenden, sondern nur solche, die die Jahreszahl 1900 vorgedruckt enthalten. Wechsel, die in dieser Richtung zu Beanstandungen Anlaß geben, würden also Bankgeschäfte weder ankaufen, beleihen, noch zum Inkasso übernehmen können.
Heidelberg, 3. Januar. Die Zahl der hiesigen Feuerbestattungen hat im verflossenen Jahre bedeutend zugenommen, sie betrug nämlich 151 gegen 125 im Jahre 1898. Auch die Zahl der Orte, aus denen Leichen hierher verbracht wurden, ist erheblich gestiegen. Die höchsten Zahlen weisen folgende Städte auf: Wiesbaden 35, Heidelberg 20, Frankfurt 12, Stuttgart 9, Mannheim 8, Darmstadt, Freiburg i. Br. und Karlsruhe je 6, Mainz und München je 5, Baden 4 u. s. w. Dieser Zunahme des letzten Jahres dürfte aber in Zukunft, nach Errichtung der Crematorien in Mannheim und Offenbach a. M., ein bemerkenswerter Rückgang folgen.
Mannheim, 9. Jan. Wir haben kürzlich gemeldet, daß der Sunlight-Seifenfabrik-Aktien- Gesellschaft, welche von Engländern gegründet und in England geführt, in Mannheim eine Seifenfabrik bauen will, durch das Landgericht Mannheim verboten worden ist, die Sunlight- Seife als ein deutsches Fabrikat auszugeben. Diesem Verbot haben die Engländer zuwider gehandelt, indem sie durch eine Firma in Dortmund, welche ihre Seifen vertreibt, eine Annonce erließen, welche den Schein zu erwecken suchte, als ob die Sunlight-Seife in Mannheim fabriziert werde und ein deutsches Fabrikat sei. Die Sunlight-Engländer wurden für diese Ueber- tretung von dem badischen Landgericht in Mannheim zu 1000 ^ Geldstrafe verurteilt.
AnLerhattender Heil.
Der Liebestrank.
Novelle von F. Arneseldt.
(Nachdruck verboten.)
I.
In einem geräumigen, wohleingerichteten Zimmer seines, auf der Dom-Insel belegenen Wohnhauses saß an einem Sommermorgen der Fabrikbesitzer Benno Harms mit seinem Neffen beim ersten Frühstück. Die Fenster standen offen, ein würziger Duft von Lindenblüte erfüllte das Zimmer, der Blick schweifte über den Hof in einen altmodischen, ein wenig verwilderten Garten und zwischen den Bäumen hindurch auf einzelne Stellen des dahinter liegenden, im Scheine der Sonne blitzenden Flusses.
Benno Harms war ein Mann im Anfang der Fünfzig, von robuster Gestalt und gesundem Aussehen, mit stark ergrautem Bart und Haar. In seinen recht scharf hervortretenden Zügen prägte sich neben Intelligenz ein starker Eigenwille aus; Bitterkeit und Menschenverachtung schienen doch mit eirkem Hange zum behaglichen Lebensgenuß gepaart zu sein.
Sein Neffe, der Gerichtsassessor Harms, der seit einigen Wochen sich zum Besuch beim Onkel aufhielt, blickte voll kecken Lebensmuts in die Welt.
„Meine Ferien gehen zu Ende, ich halte es für besser, wenn ich schon morgen nach Berlin zurückfahre, Onkel", begann der Neffe, indem er aufstand und sich an einem in der Nähe stehenden Rauchtisch eine Zigarre anzündete.
„Thut mir leid," brummte Harms, ohne von der Zeitung aufzusehen und ohne in seinen