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Position und Briefe Esterhazys fielen in seine Hände. Picquart, der sich die Akten des Prozesses Dreyfus verschafft hatte, verglich die Briefe Esterhazys mit dem Dreyfus zugeschriebenen dorckereau. Die Handschrift schien derart iodentisch, daß Oberst Picquart daraus schloß. Esterhazy müsse der Verfasser des doräereau sein. Er stellte Nachforschungen an, die seine Ueberzeugung bekräftigten. Darauf begab er sich zu dem zweiten Generalstabschef General Gouse. um ihm zu erklären, daß DreyfuS unschuldig sei. General Gouse suchte Picquart von seiner Ueberzeugung abzubringen und schrieb ihm sogar Briefe, die Scheurer-Kestner besitzt. Da Picquart nicht aufhörte. Schritte zu Gunsten von Dreyfus zu thun, wurde er nach Tunis versetzt. Der Dossier Scheurer Kestners erwähnt dies alles und kommt zum Schluß: Esterhazy hat das Schriftstück angefertigt, wegen dessen Dreyfus verurteilt worden ist; Esterhazy hat dies gethan, um vom Kricgsministerium als Preis für die Denunziation des Dreyfus Geld herauszulockcn. Wenn andere Dokumente gegen Dreyfus hervorgebracht werden, so sind diese wahrscheinlich auch von Esterhazy gefälscht.

Die infolge des großen Glasbläser-Aus- standes in Carmaux gegründete sozialistische Glasbläserei inAlbi ist endgiltig ver- kracht und die Arbeiter haben in den letzten Wochen ohne Lohn arbeiten müssen. Sie treten nun wohl sämtlich wieder in den Dienst der Glasbläserei, deren Leiter, Resseguier. seinerzeit ihrem Ausstand so tapferen Widerstand geleistet hat. Die Sozialisten haben da durch ihr Vor­gehen üble Dinge angerichtet und die Arbeiter um bedeutende Summen Geldes gebracht.

Mailand, 23. Nov. Im Zuchthaus von Pallanza meuterten gestern 200 Strafgefangene, verbarrikadierten sich in 3 Arbeitssälen und zerstörten alles, waS sie erreichen konnten. Ein großes Aufgebot von Karabiniers und Militär konnte bis zu später Abendstunde des Aufstandes nicht Herr werden. Es werden Truppenverstärkungen in Pallanza erwartet.

Hlnterhattender Heil.

Die Brüder Contarelli.

Ein Drama aus der Artistenwelt von Oscar Linden.

(Schluß.)

Ellen's Ausspruch geschah unbewußt. Sie fühlte für Giovanni mehr als sie ihm zeigte, und nun verriet sie mehr als sie wollte mit diesen Worten.

Dem Eifersüchtigen jedoch boten sie neue Nahrung seiner Leidenschaft.

Ein flammendes Rot flog über seine schönen Züge als er erwiderte:

Sie scheinen für meinen Bruder mehr zu hegen, als kollegiale Freundschaft, Miß und ich beneide Giovanni darum, denn mich selbst setzen Sie gewaltig zurück, wo Sie doch wissen, wie"

Ellen ließ ihn den Satz nicht vollenden. Sie wußte, was er sagen wollte. Schon oft hatte er darauf Anspielungen gemacht, und immer war sie seinen Drängereien geschickt ausgewichen.

Nun ärgerte sie sich darüber, daß sie vor­hin sich von ihrem momentanen Fühlen Hinreißen ließ.

Signor Contarelli!- sagte sie ernst und sah ihm in's Gesicht. Ihr Auge traf ihn voll und ganz. Er senkte das seine zu Boden.

Ellen!"

Es kam im flehenden Tone von seinen Lippen.

Einen Moment fühlte sie Mitleid mit ihm.

Verzeihen Sie. Pietro! Doch ich kann nicht anders. Ich kann Sie nicht erhören!"

Aber meinen Bruder! Ihm bringen Sie das entgegen, was Sie mir verweigern," zischte Pietro.

Sie sind im Irrtum," erwiderte Ellen halb­laut.Giovanni ist mir nicht mehr als Sie, Pietro!"

Sie lügen, Miß!" rief der Artist ihr zu. Umsonst fürchtet man nicht für Jemanden, dem man fremd gegenübersteht. Fürchten Sie nichts!

Ihrem Liebling wird kein Malheur geschehen! Dafür werde ich schon sorgen. Miß Ellen!"

Er lachte hell aufundverließ die Kunstreiterin

Diese stand wie betäubt einige Miauten noch in der Manege, dann klingelte der Inspizient und rief sie zur Probe. Umsonst. Heut? wollte Ellen nichts gelingen. Eine innere Unruhe hatte sie erfaßt und als die Probe zu Ende war. seufzte sie, gleichwie von einem Alp befreit auf.

Unablässig dachte sie an Pietro's Worte, und je mehr sie deren Sinn erforschte, desto banger wurde dem Mädchen. Was es sich seit Monaten nicht eingestehen wollte, das wurde ihr jetzt klar. Ellen liebte Giovanni! Sie ahnte, daß dem Geliebten Gefahr drohe und diese wollte sie von ihm abwenden. Rettung für ihn! DaS bat sie momentan sich flehend und inbrünstig vom Schicksale aus. Unruhig verblieb das Mädchen den ganzen Tag und selbst abends bei der Vorstellung besaß Miß Davons nicht die sonstige Ruhe und Selbst­beherrschung. Sie suchte Giovanni allein zu sprechen. Sie wollte ihm eine Warnung zu- kommen lassen. Ihre Bemühungen waren frucht­los. Keine Minute wich heute Abend Pietro von der Bruders Seite. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt und Ellen fand für ihr Vor­haben keine Gelegenheit. Nur einen Moment glaubte sie zu bemerken, daß Pietro ihren geheimsten Wunsch ahnte, denn sie sah. wie er höhnisch ihr sein Gesicht zuwandte und ein ganz eigentümliches Lächeln um seine Lippen glitt.

Mit schwerem Herzen unterließ Ellen ihren Vorsatz und nach dem Ende der Vorstellung verließ sie in höchster Eile den Zirkus, um zu Hause noch einmal nach einem Mittel der Warnung zu suchen.

Die Galavorstellung siel glänzend aus.

Direktor C. hatte dem Publikum Schaustücke vorgeführt, wo Eines das Andere in den Schatten stellte.

Nun sollte die Hauptnummer des Abends: Die fliegenden Menschen." dargestellt von den Brüdern Contarelli, zur Aufführung kommen.

Gespannt harrte das Auditorium auf das Erscheinen der beiden Artisten. Indessen spielte sich in der Garderobe derselben eine sonderbare Szene ab.

Giovanni bekam kurz vor der Nummer, welche er mit Pietro ausführen sollte, einen Zettel in die Garderobe gesandt.

Führen Sie die Nummer nicht aus. Es droht Ihnen Gefahr. Hüten Sie sich."

Keine Unterschrift nannte Giovanni den Warner.

Pietro hatte unterdessen draußen die Aufsicht über die Spannung des Sicherheilsnetzes über­nommen und kam nun in die Garderobe finster und ernst.

Ohne ein Wort zu sprechen, gab Giovanni dem Bruder die anonyme Warnung.

Keine Fiber zuckle in Pietro's Antlitz, als sein Auge die Schrift überflog.

Unsinn!" sagte er kurz.

Die Schelle des Inspizienten rief.

Beide Brüder traten, vom Beifallssturm der Menge empfangen, in die Manege.

Ohne eine Sekunde Zeit zu versäumen, begannen sie ihre Produktion.

Minutenlanger Beifall unterbrach jeden einzelnen Tric.

In diesem Momente, wo sich Pietro zum dritten Male zu Giovanni hinüderschwang, zischelte dieser dem Bruder in's Ohr:

Ellen liebt Dich. Giovanni! Ich aber selbst bin von ihr gehaßt. Nun wähle zwischen mir und ihr!"

Giovanni suchte sich an dem Seile hängend, von den ihn wie Eisenklammern umarmenden Händen des Bruders zu befreien.

Bist Du toll! Pietro! Laß los!" keuchte der Aeltere.

Nein! Nein! Du mußt mit mir in die Tiefe, Giovanni! Keiner von uns soll Ellen haben!"

In diesem Augenblicke durchhallte ein markdurchdringender Schrei von tausenden von Kehlen ausgcstoßen, die weite Arena.

Die Brüder Contarelli hatten das Seil losgelassen. Man sah sie zusammen ringen in der Luft, dann fielen beide Männer durch das Sicherheitsnetz auf den Rand der Manege. Pietro hatte das Netz durchschnitten und nun lagen er und Giovanni sterbend in der Manege. Ein düsteres Zirkusdrama fand seinen Schluß.

Ulm. 24. Nov Die geringe Benutzung der Ulmer Straßenbahnwagen hat die boshaften Stuttgarter veranlaßt, die bisweilen dort eben­falls leer fahrenden Wagen zum Unterschied von den besetzten WagenUlmer" zu heißen, auch ist aus diesem Anlaß folgendes Rätsel entstanden: Vorne Einer, hinten Einer, in der Mitte Keiner. Was ist das? Antwort: Ein Ulmer Straßen, bahnwagen!

(Billiges, gefahr- und geruchloses Nacht­licht.) Man streut um den Docht eines brenn- enden Stearinlichtes eine Schicht feinen Salzes. Hierdurch wird die Flamme bedeutend eilige- schränkt» brennt also sparsam, erhellt aber dennoch das Zimmer in genügender Weise. Diese Art Beleuchtung ist besonders für Kinderschlafzimmer sehr zu empfehlen; sie ist billiger, gefahr- und geruchloser als die der Lampen.

(Vorzüglicher Kitt zum Verstreichen der Kachelöfen, Kamine.) 2 Teile feine, rostfreie Feilspänc werden mit 1 Teil vollkommen trockenem Lehm vermischt und diese Mischung mit starkem Essig so lange geknetet, bis die Masse vollkommen gleichartig ist. Dieser Kitt widersteht dem Feuer, da er aber schnell erhärtet, muß man ihn nach der Bereitung sogleich verwenden.

(Waschschwämme zu reinigen) Man legt sie einige Stunden in eine Auflösung von über­mangansaurem Kali (5 Gramm auf 1 Liter Wasser), drückt sie gut aus, bringt sie dann in eine schwache Auflösung von Salzsäure (20 Gramm auf 1 Liter Wasser) und wäscht sie dann in reinem Wasser aus.

(Gebildeter Satz.) Lehrer: Konstant heißt beständig". Darum spricht man z. B. von einer konstanten Bosheit. Silberstein, bilde 'mal einen Satz, worinkonstante Bosheit" vorkommt. Silberstein: Kohns Tante ist seit vier Wochen bei ihnen zu Besuch. Lehrer: Und wo bleibt dieBosheit" ? Silber- stein:Nu, is das noch nicht Bosheit genug?

Witterungsbericht von Rud. Falb. Der schon seit dem 12 Oktober über dem Kontinente lastende Hochdruck macht daS Eindringen der Depressionen unmöglich. Doch glauben wir, daß mit dem kritischen Termin vom 24. November (I. Ordnung) diese konstante Wetterlage gebrochen werden dürfte, indem in der nördlichen Hälfte des Kontinents Regen, in der südlichen mäßige Schneefälle eintreten, während die Temperatur sich immer noch auf verhältnismäßig ziemlich großer Höhe erhält. Als ein auffälliges Ereignis sind die am 25. Oktober im Bogtlande eingetretenen Erd­beben zu verzeichnen. Einer der stärksten Stöße war der vom 7. November und es ist jedenfalls auffallend, daß in denselben Tagen auch der Vesuv neuerdings thätig wurde. Wir hatten in anbetracht dessen stärkere Stöße auch für den 16. und 24 November erwartet» und am 16. ist in der That ein weitverbreiteter Stoß ein­getreten, der an Stärke mit jenem vom 29. Oktober und 7. November verglichen wird. Der Einfluß des Mondes steht also auch bei diesen Erderschütterungen außer Zweifel. Am 22. November gab auch der Erdbebenherd bei Laibach wieder ein Lebenszeichen von sich, indem an diesem Tage in Stein ein sehr heftiger Stoß eintrat. Für die nächsten Tage sind bei verhältnismäßig hoher Temperatur leichte trockene Schneefälle zu erwarten, für das erste Dritteil des Dezember ist in Mittel- und Süddeutschland strenge und trockene Kälte wahrscheinlich.

Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.