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Vizepräsident deö Senats, Scheurer-Kestner, hat dem Ministerium Namen genannt, welche der Fälschung in der Prozeß Angelegenheit Dreyfus dringend verdächtig sind, diese Namen aber der Oeffentlichkeit noch nicht bekannt gegeben, weil er dem Kriegsminister versprochen hatte, damit 14 Tage zuzuwarten, bis der Kriegsminister selbst Aufklärung gegeben habe. Nun hat aber der Bruder des gefangenen Dreyfus, Math. Dreyfus auS Mühlhausen, einen französischen Offizier mit ungarischem Namen, Major Esterbazi offen des verübten Hochverrats angeklagt. Ein anderer französischer Offizier, der von einem Blatt der falschen Herstellung jenes berüchtigten BordereauS, auf Grund dessen Dreyfus verurteilt worden war, beschuldigt wurde, hat energisch protestiert und verlangt, vor das Kriegsgericht gestellt zu werden, damit er sich von dem Verdacht reinigen könne. Inzwischen hat auch die Frau des unglücklichen Dreyfus eine ganze Reihe von Briefen ihres Mannes im Facstmile und ebenso das erwähnte Bordereau veröffentlicht, woraus zu ersehen sei, daß Dreyfus das Bordereau nicht geschrieben haben könne. Vielleicht ent- schließt sich das französische Ministerium jetzt doch zu einer Wiederaufnahme des Prozesses gegen Dreyfus. — Die französischen Artilleriewerkstätten beeilen sich Hals über Kopf um die neuen Schnellfeuer-Geschütze herzustellen. 100 Batterien sind mit den neuen Kanonen schon ausgerüstet.
Paris, 18. Nov. Der vom Kriegsminister Billot mit der Untersuchung des Falles Dreyfus beauftragte General Pellieux verhörte gestern Mathieu Dreyfus und heute früh den Grafen Esterhazy.
Der österreichische Botschafter, Freiherr von Calice in Konstantinopel, hat der türkischen Regierung ein förmliches Ultimatum vorgelegt, wie die türkischen Behörden in Mersina (Klein- Asien) in rechtswidriger Weise gegen den österr. Staatsangehörigen und dann auch gegen das österr. Konsulat vorgegangen wären und die anfänglich zugesicherte Satisfaktion seitens der Pforte nicht geleistet wurde. Jetzt verlangt Oesterreich die Absetzung des Mali von Adana und des Mutessarifs von Mersina. Freiherr von Calice hat gedroht, wenn ihm keine bindende Zusage, betr. der geforderten Genug- thuung gegeben werde, so werde er am Donners- tag dieser Woche abreisen. Oesterr. Kriegsschiffe sind auch bereits unterwegs nach Mersina. Selbstverständlich werden die Türken gegen eine so energische Haltung von Seiten der Oesterreicher keinen weiteren Widerstand leisten.
Ko n st an t i n o p e l. 18. Novbr. Der österreichische Botschafter Frhr. v. Calice erhielt um 1 Uhr nachts eine Note der Pforte, betreffend die Erledigung seiner sämtlichen Forderungen und Beschwerden. Der Zwischenfall gilt als beigelegt.
Auf der Insel Kuba haben die Aufständischen jetzt richtig die Autonomiezugeständ- niffe der spanischen Regierung abgelehnt, und es wird dem neuen Oberkommandanten Marschall Blanko nichts anderes übrig bleiben, als den Aufstand ebenso rücksichtslos zu bekämpfen, wie sein Vorgänger, General Weyler.
Washington, 17. Novbr. Präsident Mac Kinley Unterzeichnete den jüngsten Welt- postvertrag, der ab 1. Jan. 1898 in Kraft tritt.
New'Aork, 17. Nov. Aus Guayaquil in Ecuador wird gemeldet, die Stadt Loreto sei durch einen Wirbelsturm zerstört worden. Nur wenige Gebäude seien stehen geblieben. Der Verlust an Menschenleben sei groß.
Anterhattender Teil.
Auf Chiemsee.
Historische Erzählung aus Bayerns Vergangenheit von E. Escherich.
Zur Zeit da der letzte Herzog vom Stamme Agilolf's über Bayern herrschte, regte sich auf den lindenüberschatleten Auen der Chiemseeinseln ein lebhaftes Treiben.
Schon seit Thassilo I. hatten dort mönchische Ansiedelungen gestanden, durch Thassilo II. waren
sie in richtiger Erkenntnis klösterlicher Bedürfnisse zu zwei reichbegabten Stiften vereinigt und ihre Leitung in die Hände des gelehrten Dobda gelegt worden.
Auf der seicht aus dem See steigenden Frauenwörth beteten fromme Nonnen, und sie woben gelben Lein zu feinem Gespinnst und stickten bunte und goldene Fäden hinein, dieweil auf der größeren, mit steileren Ufern aus den Wellen ragenden Insel manch' gelehrter Mönch sich mühte, die Kunst des Lesens und Schreibens schalkhaften Schülerlein beizubringen.
An einem lichten Spätsommertag im Jahre des Heiles 784 da schon die Abendsonne am westlichen Horizont hinabzusinken sich anschickte, stund im Grasgarten der Herrenaue ein alter Mönch, eifrig beschäftigt, aus Bienenkörben goldene Waben zu schneiden. Zufrieden sah er auf die Fülle von Wachs und Honig, und seine bärtigen Lippen summten ein leises Lied.
Es klang nicht wie LMs eleison, vielmehr nach fröhlichem Wandersang, wie ihn der Mann wohl einst gesungen haben mochte, bevor er in schwarzer Kutte, auf kleiner Scholle, sich Jmmen- zucht ergeben halte.
Neben ihm kauerte ein junger Scholastikus der äußeren Schule am Boden, bemüht, aus einem vor ihm liegenden Bündel Schilfhalme Rohrfedern zu schneiden. Aber die Arbeit wollte nicht gedeihen; unruhig flogen ihm die Blicke nach den Bergen der Ferne, und oft ging der Schnitt daneben, nicht unselten in die Hand des Jünglings.
Kopfschüttelnd hielt der Mönch im Singen inne. „Untüchtig bist Du, Sigbot, selbst zur leichtesten Arbeit. Wie willst Du dereinst Ruhm und Ehre gewinnen?«
Der Scholastikus sprang auf, daß Werkzeug und Schilf in's Gras rollten. „Bessere Beschäftigung habe ich mir erhofft; denn ich bin nicht zur Schule gekommen, Gnffel zu schneiden und Maulwurfsarbeit zu thun, wenn Andere mit wildem Schwertschlag um Feld und Wald und reichen Goldschatz Würfel spielen. Gleich einer Leuchte hat mir die Wissenschaft vor- geschwebt, da ich mich ihr angelobte; ich aber soll nur das Oel herbeitragen, das Feuer zu unterhalten. Nichtig ist solch' ein Geschäft und ganz unwürdig eines kräftigen Helden!«
Der Mönch sah unzufrieden auf den Schüler: „Ein Knabe bist Du. ohne Erfahrung und Klugheit, sonst würdest Du Dich nicht wenn auch geringer Verrichtung sträuben. Bon Stufe zu Stufe nur klimmst Du empor zum hohen Sitz der Gelehrsamkeit, die mit strahlendem Antlitze tronl, unnahbar Jedem, der den beschwerlichen Weg zu ihr scheut.«
Widerwillig ließ sich Sigbot nieder und nahm die weggeworfene Arbeit wieder auf. „Hart ist es für den Edlen seinen Nacken demütig in's Joch zn beugen,« sprach er wehmütig. „Ihr solltet's selber wissen Vater Berthold, denn auch Ihr seid aus freiem Blut.«
Berthold schnitt die letzte Honigwabe aus dem Stock. „Unverständig sprichst Du! Da ich mich dem Herrn ergab mit Leib und Seele, that ich ab alle irdischen Gedanken und eitlen Wünsche; wie ich sollte mein Herz noch jetzt an Vergangenen hängen? Auch Dir wäre besser, minder an Deine Abstammung zu denken, denn an Deine Unwissenheit, Du trotziges Schülerlein!«
Der Mönch schickte sich an zu gehen. „Und noch eins! „Wenn meine Mitbrüder wieder im Abendchor pfalmieren, trage Sorge, daß kein gellender Falkenschrei die Andacht mehr stört; er könnte sonst leicht in Herrn Dobda's Ohr haften bleiben, der vorwitzigen Vögeln gern die Schwungfedern kürzt.«
„Er ging, mit den Augen blinzelnd, durch den Hof nach den Vorratshäusern.
Sigbot blieb auf seinem Platz. „Seine Warnung will ich beherzigen, denn ehrlich ist seine Meinung.« sprach er zu sich selber Im nächsten Augenblick warf er seinen Kopf herum, dann sprang er empor.
Auf dem mittleren Weg, der von den Lehrgebäuden nach dem Obstgarten führte, schritt ein anderer Mönch einher. Hoch war seine Gestalt, und ehrfurchtgebietend sein Wesen trotz
früher Jugend. Ueber ernsten, dunklen Augen ragte eine weiße Stirn; dunkle Locken fielen auf den Nacken.
Als er Sigbot ansichtig ward, schritt er auf ihn zu. „kax Del vodiseum? einen ungestümen Falken Hab' ich zur Abendhora seinen Ruf thun hören; was will mein Gesell?« frug der Mönch.
Sigbot drängte sich nahe an ihn. „Meinem Schwurgesellen habe ich das Zeichen gegeben — der Mönch uud Lehrer darf nichts inne werden.
Bist Du bereit Burkhardt?«
„Ich bin's!« entgegnete der Gefragte, „darum steh' ich hier. „Einst, als wir in der Heimat auf die geteilte Hostie uns Treue schwuren, in Leben und Tod, habe ich nicht geglaubt, daß eine Zeit kommen könne, wo es mir schwer wird Deinem Notruf Folge zu leisten; dennoch ist sic gekommen. Die Heiligen haben mich in ihren Dienst gefordert, auf daß die niedergebrannte Burg meines Vater's sich wieder aus den Trümmern erheben konnte. Altenbcuern's Turm ragt auf's Neue in die Lust. Mit der Kraft meines Denkens muß ich ihnen die Gutthat ersetzten, die sie dem Erbe meiner Ahnen erwiesen.
Ihr Dienstmann und der Lehrer ihrer Schüler bin ich geworden, aber der früher geleistete Eid bindet mich an Dich, auch wenn Dein Thun meiner Klosterpflicht widerstrebt.«
„Weil ich Dich kannte« erwiderte Sigbot, „habe ich Dich gerufen. Aber die Hilfe, deren ich Dich bedarf, ist nicht leicht, unklar liegt mein Schicksal vor mir. Von allen Seiten bin ich belauscht. Rudhart, der Bruder Kellerer, dem die Weingeister alles Geheime zutragen; Berthold, der Jmmenversorger, dem die Kunst eigen, in der Menschen Herz zu sehen, selbst unser ehrwürdigster Herr Abt Dobda, der sonst über den griechischen Studien manches wilde Wort überhört, und manch' kecke That überschaut, blicken mit Argwohn aus mich. Auch mein Zeichen haben sie erspäht. Unsicher bin ich Ihnen, darum haben sie ihr Netz über mich geworfen, wie über die Forelle, die sich draußen im See ^ tummelt und den Klosterherrn, zur Fastenspeise gefangen wird.«
Einen unmutigen Schüler höre ich klagen, wo ich meinen Gesellen in der Not zu finden meinte!« entgegnete der Mönch mißbilligend.
„Auch die Not will ich Dir künden. Noch ist der Mond nicht voll geworden, seit ich am Seeufer faß und den Wellen zusah. Blau und goldblitzend strahlten die Wasserberge im Sonnenflimmer. Lange saß ich jo; da streifte ein Gewand meine Schulter und umblickend gewahrte ich ein Mägdlein, das mit zusammengenommenen Kleidern den schmalen Pfad zwischen hohem Gras und dem steilabfallenden Ufer dahinschritt.
Auch sie wandte das Haupt nach mir und lachend rief sie mir zu: „Willst Du auf die Wasserfrau warten? daß Du drob' die Eßglocke überhörst?«
— Und eh' ich noch eine Antwort gefunden, war sie lachend hinweg geeilt. Seitdem Hab' ich sie öfter gesehen; in der Kirche und im Garten ihres Vaters, des Fischmeisters, und wir haben uns etlichemale neckende Worte zugerufen durch den Zaun.«
Eine hohe Röte flog über Burkhart's Wangen. Er hatte eine Grasblüte gepflückt und , drehte sie gesenkten Blickes zwischen den Fingern.
Sigbot fuhr fort: „Mein Herz aber ! begehrt sie als Hausfrau, obgleich mir die ^ Gelegenheit mangelt, sie um ihre Meinung zu fragen. Im Wachen und Träumen schwebt mir ihre lichte Gestalt vor; ihre fröhliche Augen und ihr lächelnder Mund. Ruhelos wohne ich seitdem im Kloster; mir aber ist solch' Leben verhaßt, und ein Ende will ich machen in Lust oder Leid. Darum gemahne ich Dich an Deine Treue: bringe Du mir Botschaft!«
Ein flüchtiges Lächeln glitt über die Züge des Mönches: „Einen seltsamen Brautwerber hast Du Dir erkoren. St. Benedikt's Kutte als ' Liebesbote ist wie ein Nachtkauz beim Lerchenwirbel. Dennoch will ich Deinen Auftrag aus- richten. Morgen zu gleicher Stunde magst Du hier meiner harren.«
(Fortsetzung folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neue »bürg.