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keit erhalten würde; Voraussetzung sei, daß das Personal aus den Landeskindern genommen werde. Bei der Einhcitsmarke sei eine solche Form ge­funden worden, daß die Selbständigkeit Württem­bergs nicht in Frage gestellt sei und so könnte es auch mit den Eisenbahnen geschehen; es sei doch verfehlt zu sagen, mit Preußen schließen wir über­haupt keinen Vertrag ab. Eine wichtige Beratung habe sodann die Stellungnahme der württemb. Regierung zur Erhöhung der Getreidezölle erfahren. Es sei zu sagen, daß die Kammer im allgemeinen der Landwirtschaft sehr freundlich entgcgenkomme. Tie Regierung wolle die Industrie schützen, zugleich aber auch der Landwirtschaft einen hinreichenden Schutzzoll gewähren. Einem dahin gehenden An­trag haben die freie Vereinigung, das Zentrum und die deutsche Partei einstimmig, von der Volkspartei 7 Mitglieder zugestimmt, dagegen hätten sich die Sozialdemokraten als geschworene Gegner des Schutzzolles auf Getreide bewiesen. Die gegen­wärtige Zeit deute aber darauf hin, daß die Land­wirtschaft nicht untergehen dürfe, wo käme Deutsch­land hin, wenn ein reiner Industriestaat daraus werden würde? Die nächste Tagung des Landtags werde hauptsächlich der Beratung der Steuerreform, (Redner gehört dieser Kommission an) welche ziemlich glatt durchgehen werde, der Gemeindeverwaltungs­reform und der Neuregelung der Verhältnisse der Volksschule (fachmännische Bezirksaufsicht) gelten. Redner ersuchte schließlich die Wähler, sich in allen Fragen vertrauensvoll an ihn zu wenden; er be­trachte sich als Vertreter des ganzen Bezirks und werde jedem Wähler, welcher Partei er auch an­gehören möge, seinen Rat und Unterstützung nicht versagen. Stürmischer Beifall folgte den wohl­durchdachten Ausführungen des Redners. Nach einer kurzen Pause sprach Hr. Schrempf über die Chinapolitik, über das neue Weingesetz (dessen we­sentlichen Inhalt er mitteille), über das Urheber- und Verlagsrecht, über das Privatversicherungs- gesetz, über die Seemannsordnung, über die Thätig- keit der Kommissionen und des Plenums und über den neuen Zolltarif. Bei letzterem handle es sich nicht um etwas ganz Neues, die Grundsätze, ob Freihandel oder Schutzzoll, seien schon früher er­ledigt worden; Deutschland habe jetzt schon Schutz­politik und werde sie auch weiter führen; es frage sich nur, wie wird diese Schutzpolitik weiter geführt? Es handle sich hiebei hauptsächlich um das Verhält­nis zwischen Landwirtschaft und Industrie. Es sei sicher anzunehmeu, wenn heute die Schutzzölle fallen würden, so würde die Industrie in schwerster Weise notleiden, Deutschland würde von anderen Staaten, besonders von Amerika erdrückt werden, gerade von letzterem Niesen würde Deutschland aufs schwerste betroffen. Wenn man sehe, wie Amerika sich im­mer mehr von dem Einfluß Europas frei mache und seine Kapiialkraft in stärkstem Maße anstrenge, so sei dies eine ernste Mahnung an die deutschen Industriellen, auf der Hut zu sein. Wäre Bis­marck am Ruder geblieben, so hätte er die Zölle weiter gefördert, wir befänden uns in einer besseren Lage und der innere Markt wäre befriedigt. Bei dem Zolltarif meine man, es handle sich nur um landwirtschaftliche Zölle, von den 900 Positionen des Jndustrietarifs spreche kein Mensch, man habe sich förmlich verbissen auf die landwirtsch. Zölle.

Und doch habe die Landwirtschaft, als früher die Jndustriezölle eingeführt worden seien, geschwiegen und erst dann, als sie gesehen habe, daß sie nicht mehr fortkomme, habe sie auch ihre Forderungen und Wünsche vorgelegt. Der beste Landwirt könne aus seinem Betriebskapital nicht einmal den Zins erhalten: unser Großkapital hüte sich wohl, sich in der Landwirtschaft festzulegen. In was bestehe hauptsächlich das Kapital der Banken? In Obli­gationen und industriellen Werten. Bei der In­dustrie sei das Kapital bereit gewesen, alles zu thun; wenn die Landwirtschaft die Mittel erhalten würde wie die Industrie, so wäre sie in einer ganz anderen Lage. Es handle sich nun darum, dürfen wir die Landwirtschaft der ausländischen Konkurrenz so weit aussetzen, daß sie bankerott wird. Die Einfuhr an Getreide betrage 36'/» Mill. Doppel­zentner; die Einfuhr an Vieh sei kolossal; es könnte schon mit kleinen Mitteln viel für die Landwirtschaft geschehen. Wir Freunde der Landwirtschaft sagen: Deutschland kann kein Industriestaat werden wie England, denn letzteres hat sehr viele Kolonien; der durchschnittliche Wert einer Getreideernte in Württemberg betrage 120 Mill. Mark, landwirt­schaftliche Betriebe seien es 306 643; wenn diese Betriebe nicht existieren können, so erwachse aus diesem Zustand doch ein unberechenbarer Schaden. Von dem bisherigen Schutzzoll habe der Industrielle Vorteil, warum werde dieser Grundsatz nicht auch auf die Landwirtschaft angewendet? Redner schloß mit den Worten: Die Industrie soll erhalten bleiben und ebenso auch die Landwirtschaft, denn letztere ist ein nicht minderer Zweig des deutschen Erwerbs­lebens. Auch dieser mit großer Beredtsamkeit und Ueberzeugung erstattete Vortrag fand lebhafteste Zustimmung. Bei der nun sich anschließenden Dis­kussion ergriffen 2 Mitglieder der national-sozialen Partei, die Herren Postassistent Kauffmann und Professor Beutter elfterer zu längerer Er­widerung das Wort, um ihren politischen Standpunkt zu den angeregten Fragen darzulegen. Diese Ausführungen veranlaßten die beiden Abge­ordneten nochmals die beiden Hauptpunkte ihres Vortrags näher zu erläutern und weitere Aufklärungen zu geben. Der Vorsitzende schloß die von 49 Uhr dauernde Versammlung mit herzlichen Worten der Anerkennung und des Dankes an die beiden Abge­ordneten mit dem Wunsche, daß sie auch fernerhin wie bisher für das Wohl des Bezirks eintreten möchten. Die Versammlung schloß sich diesem Danke unter nochmaligem Beifalle an.

Calw. (Egsdt.) Im Bericht über das am 16. ds. Mts. stattgefundenc Prüfungs-Konzert der Calw er Musikschule bezeichnet der Herr Be­richterstatter im 2. Teil deS Programms die Auf­tretenden als vorgerückte Schüler und Musikfreunde, welches dahin richtig gestellt werden muß, daß auch im zweiten Teil nur Schüler der Musikschule mit­gewirkt haben.

Augsburg, 20. Nov. Das Schwur­gericht verurteilte heute den Raubmör­der Kneißel zum Tode und sprach den Flecklbauern Nie.ger frei.

Tärmst adt, 19. Nov. In der letzten Nacht ist die vor kurzem eingcweihte große Turnhalle

der Turngemeinde Darmstadt mit dem größten Saale der Stadt gänzlich abgebrannt. Nach einer späteren Meldung haben bei dem Brande drei Menschen ihr Leben eingebüßt. Zwei Dienst­mädchen erlitten den Erstickungstod, während die Köchin des Wirtes der Halle bei dem Versuch sich an einem dünnen Seile von ihrem Mansarden- stübchcn heruntcrzulassen, auf das Pflaster stürzte und den sofortigen Tod fand. Ein Kellner erlitt durch Abspringen schwere innere Verletzungen. Die Entstehungsursache deS Brandes ist noch nicht auf­geklärt.

Berlin, 18. Nov. Heute Vormittag fand in den verschiedenen Stadtteilen acht Versamm­lungen der Arbeitslosen statt mit der Tagesordnung:Die gegenwärtige Krise, die Ar­beitslosigkeit, und wie ist Abhilfe möglich?" Es sprachen die sozialistischen Abgeordneten Auer, Fischer, Pfannkuch, Schippe!, Stadthagcn, Wurm, Zubeil und Stadtverordneter Glocke. Die Gesammtzahl der Besucher wird auf rund 10,000 Personen ge­schätzt, unter denen sich auch zahlreiche Frauen be­fanden. Die Versammlungen verliefen ruhig und ohne besonderen Zwischenfall. Mehrere mußten wegen Ueberfüllung polizeilich gesperrt werden. Es wurde eine Resolution angenommen, in welcher die städti­schen Behörden und die Regierung ersucht werden, den Bau von Arbeiterwohnungen in eigene Regie zu übernehmen, mit sämmtlichen geplanten Staats­bauten sofort zu beginnen und die Anfertigung von rollendem Material unverzüglich vorzuuehmen. Fer­ner soll die Reichsregierung ersucht werden, den Antrag Auer und Gen. betreffend Schaffung von Arbeiterkammern und eines Reichsarbcits-Amtes mehr Beachtung und Entgegenkommen zu zeigen, sowie dem Drängen einer kleinen Jnteressenten-Gruppe auf Erhöhung des Zolles auf die notwendigsten Lebensmittel nicht nachzugeben, sondern durch den Abschluß guter Handelsverträge mit anderen Staaten die Wohlfahrt des Volkes und des gesammteu Staats­lebens zu sichern und zu fördern. Diese Resolution soll dem Oberbürgermeister und der Regierung über­reicht werden.

Berlin, 18. Nov. Nach einem Telegramm aus Danzig meldet die dortige Allgemeine Zeitung, daß der im dortigen Militärgefängnis internierte Dragoner Marten kürzlich wieder vernommen worden ist. Zum Revisionsverfahren werde ihm kein Offizial-Verteidiger zur Seite gestellt, doch läßt er seine Sache durch einen Anwalt auf eigene Kosten vertreten.

Berlin, 19. Nov. Nach einem Telegramm des Lokal-Anzeigers aus Bern Unterzeichneten Schwei­zer Frauen zu Händen der englischen Frauen einen Aufruf, worin sie gegen die grausame Behandlung der Burcnfrauen und Kinder protestiren. Sie bitten die englischen Frauen, dahin zu wirken, daß den un­säglichen Leiden der Buren-Frauen und Buren- Kinder und dem grauenhaften Blutvergießen ein Ende gemacht werde. In der gestrigen offiziellen Verlustliste »wird wie der Lokal-Anzeiger aus London meldet, Leutnant Radziwill als gefährlich im Unter­leib verwundet angeführt.

Danzig, 18. Nov. Zn der bekannten Zucker-Raffinerie A.-G. in Nenfahrwaffcr

7. Kapitel.

Ein Bruderzwist.

Als Antony den Wunsch aussprach, das neue Billardzimmer zu sehen und seinen Bruder sowie Lily aufforderte, ihn dorthin zu begleiten, hatte er nur den einen Gedanken, den beobachtenden Augen seiner Mutter zu entrinnen, um wenig­stens einen Blick, ein Wort von dem Mädchen zu erhaschen, das er liebte. Die Anwesenheit Philipps störte ihn nicht im geringsten, weil derselbe ja längst wußte, wie es zwischen Antony und seiner Cousine stand. Daß das sonst stets heitere, junge Mädchen so still und bedrückt aussah und jedes Mal tief errötete, wenn der Blick ihres Vetters sie traf, war Antony aufgefallen und es drängle ihn daher, zu ergründen, ob während seiner Abwesenheit irgend etwas oder irgend jemand zwischen sie getreten. Der junge Lord bemerkte die Unruhe seines Bruders; er erriet den Grund und sann darüber nach, wie er es ihm beibringen solle, daß er seine Ansprüche auf Lilys Hand aufgeben müsse.

Lady Culwarren hatte ihrem Sohn wohl zugeflüstert, es sei alles in Ord­nung und er möge Lily als seine Braut betracht n, aber etwas an Lilys Benehmen ließ ihn an den Worten seiner Mutter zweifeln.

Kaum hatten die beiden Brüder mit ihrer Cousine das Zimmer verlaßen, so bot Antony Lily den Arm, doch im selben Augenblick thar Lord Culwarren dasselbe. In höchster Verlegenheit zog das junge Mädchen die Hand zurück.Ich danke!" sagte sie verwirrt,ich will lieber nicht, Tante Emily ist darin so eigentümlich I"

Beim Himmel, das muß sie allerdings sein!" versetzte Antony lachend. Was kann sie dagegen haben, wenn du deinem Vetter den Arm giebst? Ich habe dich so lange entbehrt, Lily, daß ich mein Recht jetzt nicht aufgeben werde. Man sollte wirklich meinen, wir begegneten uns heute zum ersten Male!"

Jedenfalls hast Du aber keinen Grund, mir deinen Arm zu verweigern," warf Philipp bedeutungsvoll ein.

Lily wurde dunkelrot und sich von ihm abwendend, stammelte sie:Ach, quält mich doch nicht!"

Antony sah sie verwund-rt an und begann dann ein Gespräch mit seinem Bruder:Nun, alter Junge, sind wir endlich wieder einmal beisammen! Ich möchte wissen, ob du mich so verändert findest wie ich dich, wahrhaftig, ich hätte dich auf der Straße nickt erkannt mit deinem Schnurrbart und langem Haar. Ist das die neueste Mode? Und was macht deine Schriftstellerei? An der Eisen­bahnstation sah ich deinen Namen in großen Buchstaben gedruckt."

Ganz recht!" erwiderte der junge Lord in widerstrebendem Tone.Ich fange allmählich an, bekannt zu werden. Mein Gott, man muß doch etwas thun, und seit die königliche Familie selbst sich mit Musizieren, Malen und Schreiben beschäftigt, dürfen wir darin doch nicht Zurückbleiben."

Das stimmt!" nickte Antony.Doch wie fängst du es an? Wer schreibt die Bücher für dich?"

Wie kannst du so etwas fragen?" rief der andere entrüstet.Ich schreibe sie natürlich selbst. Jedermann versteht das nicht, aber wenn man sich in der Gesellschaft bewegt, ist es nicht schwer. Man hört so mancherlei Geschichten; man merkt sie sich, schmückt sie mit eigener Phantasie aus, setzt erdichtete Namen für die wirklichen und der Roman aus dem Leben ist fertig. Je durchsichtiger dabei der Schleier ist, den man über die Personen wirft, je eifriger stürzt sich das Publikum auf das Buch und man kann auf diese Weise bedeutende Erfolge er­zielen."

(Fortsetzung folgt)