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eitage zu Ar. 90 des Anzthäters.
Neuenbürg, Samstag den 12. Juni 1897.
Ausland.
Der fünfte Weltpostkrongreß in Washington. Gegenwärtig tagt bekanntlich in Washington der fünfte Weltpostkongreß, zu dem Vertreter von fast allen Staaten des Erdballs entsendet sind, und dessen, für eine Dauer von sieben Wochen berechnete Beratungen dazu dienen sollen, weitere Verbesserungen im internationalen Postverkehr zu schaffen sowie den Beitritt der wenigen noch außerhalb des Weltpostvereins stehenden Staaten anzuregen. Der am 6. April 1850 zunächst nur zwischen Preußen und Oesterreich abgeschlossene Post- vereinsvertrag, dem aber bald Bayern, dann die anderen deutschen Staaten mit selbständigen Posteinrichtungen und schließlich auch die Thurn- und Taxissche Postverwaltung beitrat, bildet gewissermaßen den Ursprung des heutigen Welt postvereins. Die großen Erfolge, welche durch diesen Postverein erzielt wurden, veranlaßten die Bereinigten Staaten von Nordamerika, den Versuch zur Gründung eines sämtliche Staaten umfassenden, internationalen Postvereins zu machen. Zu diesem Zweck trat am 11. Mai 1863 in Paris eine Konferenz zusammen, aus welcher Belgien, Costarica, Dänemark, Frank- reich, Großbritannien, die deutschen Hansastädte, Italien, Niederland, Oesterreich, Portugal, Preußen, die Sandwich-Inseln, Spanien, die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Nordamerika vertreten waren. — Wenn nun auch die Gründung einer allgemeinen Postunion nicht zu Stande kam, so wurden doch bestimmte Grundsätze vereinbart, welche bei Abschluß internationaler Postverträge als Unterlage dienen sollten. Erst im Jahre 1873 wurden auf Ver- anlassung des damaligen General-Postdirektors Stephan durch den Bundesrat der Schweiz die Regierungen von Griechenland, Belgien, Türkei, Portugal, Dänemark, Niederlande, Spanien, Italien, Frankreich, England, Oesterreich, Schweden, Rußland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu einem Postkongrcß nach Bern eingeladen. Da sich aber drei Staaten, Rußland, Frankreich und die Türkei, zunächst noch ablehnend verhielten, so mußte der Kongreß bis zum folgenden Jahre vertagt werden, doch nahmen dann auch noch Aegypten, Rumänien und Serbien außer allen vorgenannten Staaten an demselben teil. Das Ergebnis dieses Kongresses war die Gründung eines „Allgemeinen Post- Vereins", dem alle Staaten, welche an den Beratungen teilgenommen hatten, beitraten, und die wesentlichste Errungenschaft des Vertrages war die völlige Freiheit des Transits, wodurch die politischen Grenzen, welche früher die hauptsächlichste Erschwerung in der Behandlung der Korrespondcnzgegenstände verursacht hatten, für den Postverkehr völlig verschwanden. Der im Oktober 1874 in Bern unterschriebene Vertrag wurde zunächst nur für drei Jahre abgeschlossen und trat am 1. Juli 1875 in Kraft. Im folgenden Jahre traten Britisch-Jndien und die französischen Kolonien dem Verein bei. Bis zum Juli 1877 traten dann noch die britischen Kolonien Ceylon, Straits-Settlements, Labuan, Hongkong, Trinidad, Britisch Guyana, Bermuda- Inseln, Jamaica und Mauritius, ferner sämtliche niederländischen, portugiesischen und spanischen Kolonien, Japan und Brasilien zum Verein hinzu. Die Aufnahme der vorstehend genannten Länder in den „Allgemeinen Postverein" bedeutete einen Zuwachs von 234000 Quadratmcilen mit 85000000 Einwohnern, sodaß also das Gesamtgebiet des Vereins am 1. Juli 1877 1 100000 Quadratmeilen mit 700000000 Einwohnern umfaßte. Die Gesamtbevölkerung der Erde wird bekanntlich auf 1400000000 Seelen geschätzt. Nach vielen Beratungen wurde Anfang Juni 1878 ein neuer Vertrag unterzeichnet, in welchem auch über den Austausch von Wertbriefen und Postanweisungen Bestimmungen ausgenommen waren. An Stelle der bisherigen Bezeichnung
„Allgemeiner Postverein" trat die Benennung „Weltpostverein". Auf dem jetzt in Washington tagenden Kongreß haben schon Korea, China und der Oranjefreistaat um Ausnahme in den Weltpostverein gebeten. Nach Anschluß dieser drei Reiche sind als Vereins-Ausland nur noch Betschuanaland, Rhodesia, die Cookinseln und die Tonkainseln zu betrachten. Ueberhaupt kein eigenes geordnetes Postwesen haben die nachstehend aufgeführten Staaten: Abessynien, Afghanistan, Arabien, Belutschistan, China, Kaschmir. Korea, Ladakh (Tibet), Marocco, die Samoa-Jnseln und Sarawack.
Die drohende Gefahr amerikanischer Zollerhöhungen einerseits und die notwendigen Abänderungen der Festsetzungen unseres deutschen Generaltarifs andererseits nötigen fast sämtliche Zweige unserer Industrie, ihr Interesse auf das Schärfste zu überwachen und ihre Wünsche der Regierung bei Zeiten kund zu geben. Nach der augenblicklichen Lage der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Amerika ist anzunehmen, daß Deutschland sich gezwungen sehen wird, in nächster Zeit Gegenmaßregeln zu treffen. Einer der wundesten Punkte in diesen Beziehungen sind aber die Zollverhältnisse bezüglich der Ein- und Ausfuhr von Fahrrädern von und nach Amerika. Der „Bund der Industriellen" hat daher Veranlassung genommen, im Interesse seiner Mitglieder aus der Fahrradbranche, sowie aller Fahrrad- und Näh- maschinen-Fabrikanten Deutschlands überhaupt, rechtzeitig das Augenmerk der Regierung durch eine Eingabe an das Auswärtige Amt auf notwendige Aenderungen unseres bezüglichen Abkommens mit den Vereinigten Staaten und event. auch mit Frankreich und Oesterreich.Ungarn zu richten. Die Eingabe beruht im Wesentlichen darauf, daß, weil in amerikanischen Kapitalistenkreisen der Gedanke erörtert wird, die Erzeugnisse der amerikanischen Fahrradfabrikcn durch Errichtung zahlreicher Filialen als Abzahlungsgeschäfte an das konsumierende deutsche Publikum zu verkaufen, wie dies zum großen Schaden der einheimischen Fabrikation mit den Näh Maschinen der Singer Company bereits geschieht. In der gleichen Gefahr befinden sich unsere Fahrradfabriken, deren Zahl täglich wächst. Die deutsche Fahrradfabrikation hat einen schweren Kampf zu führen, weil die hohen Zollsätze des Auslandes den ExportzumTeil unterbinden, während andererseits der deutsche Einfuhrzoll kaum nennenswert ist. Bekanntlich nehmen die Vereinigten Staaten Nordamerikas 35°/» vom Werte, also durchschnittlich 60 vlL an Zoll für ein Rad, während nach dem deutschen Zollsatz bei 24 «kL auf 100 nur 3 bis 4 Einfuhrzoll auf ein ausländisches Rad entfallen; die Folge davon ist, daß Deutschland mit billigen amerikanischen Fahrrädern überschwemmt wird, dagegen nach den Vereinigten Staaten nicht liefern kann. Deutschland muß seinen eigenen Markt der amerikanischen und englischen Konkurrenz offen und die Preise der inländischen Fabrikation empfindlich Herabdrücken lassen. Während noch vor wenigen Jahren der Preis für ein gutes deutsches Rad 350 ^ betrug, ist der Preis heute schon auf 170 bezw. 230 -M für bessere Räder gesunken. Nur wenige allererste Marken werden im Klein verkauf noch mit 300 abgesetzt. Aus den obigen Gründen erscheint eine Abhilfe im Inter- esse unserer deutschen Fahrrad-Jndstrie dringend erwünscht; die Lage derselben würde schlechterdings haltlos werden, sobald der Plan der Gründung eines amerikanischen Fahrrad-Syndikats in Deutschland zur Ausführung gelangt. Da ohnehin zu erwarten steht, daß die Reichsregierung die Mac Kinley-Bill und die beabsichtigten Erhöhungen wichtiger Positionen des Zolltarifs der nordamerikanischen Union mit Zollerhöhungen für Waren amerikanischer Her
kunft beantworten muß, erscheint die Erwartung gerechtfertigt, daß dieselbe in erster Linie den Eingangszoll auf Fahrräder so erhöhen wird, daß unserer einheimischen Fahrradindustrie, die heute bereits 25 bis 30 Tausend Arbeiter beschäftigt, der eigene Markt erhalten bleibt.
Unterhaltender Teil.
Falsche Spurm.
Criminal-Novelle von Ferdinand Hermann' (Fortsetzung.)
Das Mädchen nickte ihm mit dankbarem Lächeln zu; denn er hatte ihr ein großes Silberstück in die Hand gedrückt; Paul aber schloß mit der Linken den letzten Knopf seines lieber- ziehers, spitzte die Lippen zu einer leicht gepfiffenen Melodie und ging gemütlich die Treppe hinab, um einen unten gerade weiter fahrenden Droschkenkutscher anzurusen, dem er das Ziel der Fahrt, den Pariser Bahnhof, nannte.
Umsonst hatte die Tochter des Apothekers auf den versprochenen Besuch des Referendars geharrt, der ihr die ersehnte Kunde von Julius Ulrich's Rechtfertigung und Befreiung bringen, sollte. Der Nachmittag war vorübergegangen, und der Abend war hereingebrochen; aber noch immer halte sie das kleine Zimmerchen hinter dem Laden nicht verlassen, durch dessen Glasthür sie jeden Eintretenden beobachten konnte. Die Hoffnung, daß Tronow noch kommen werde, hatte sie freilich bereits aufgegeben; aber es war ihr, als müsse sie irgend etwas Anderes, etwas Beängstigendes, Schmerzliches erfahren, und mit bleichem Antlitz und mit pochendem Herzen harrte sie auf ihrem Beobachtungsposten aus. Gegen neun Uhr abends rumpelte langsam eine schwerfällige Droschke durch die sonst stille Straße und machte vor dem Hause des Apothekers Halt. Gleich darauf tönte die Glocke der Ladenthür, ein schlanker, elegant gekleideter junger Mann betrat die Offizin, in welcher der Apotheker allein anwesend war.
Das junge Mädchen glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als es das Gesicht des Fremden erblickte; denn von allen lebenden Menschen hatte sie wahrlich keinen so wenig erwartet, als ihn, den sie nach Tronow's Worten längst in sicherem Gewahrsam glauben mußte. War cs doch kein Anderer, als der Doktor Rellinghausen, den sie gut genug kannte, um sich von vornherein sicher vor jedem Irrtum zu wissen. Ein jäher Schreck hatte bei seinem Anblick ihren Körper gelähmt. Wenn er nicht verhaftet war, wenn er frei umhergehen konnte, dann hatte sich ja auch Tronow's Vermutung — jene Vermutung, auf welcher Julius Ulrich's Rettung beruhte — als eine falsche erwiesen, dann waren ja auch alle ihre Hoffnungen mit einem einzigen Schlage wieder zertrümmert.
„Es schwirrte ihr vor den Ohren und flimmerte ihr vor den Augen, aber dennoch trieb es sie mit unwiderstehlicher Gewalt, zu erfahren, was der Doktor hier bei ihrem Vater wollte. Leise näherte sie sich der Thür und drückte ihr Gesicht so dicht an den Spalt derselben, daß ihr von dem, was im Laden vorging, nichts entgehen konnte.
Paul, der den Apotheker nicht kannte und nicht die leiseste Ahnung davon hatte, daß derselbe in einem gewissen Zusammenhang mit seinen eigenen Angelegenheiten stehe, bat um ein blutstillendes Mittel, da er das Unglück gehabt habe, sich gerade auf dem Wege zum Bahnhof durch einen Fall ein wenig an der Hand zu verletzen und da die an und für sich wahrscheinlich sehr geringfügige Wunde gar nicht aufhören wolle, zu bluten. Der Apotheker wünschte die Verletzung zu sehen; aber Paul bemühte sich vergebens, den durch das geronnene Blut fest- gehaltenen Handschuh von den Fingern zu streifen.
„Ich werde Ihnen eine Schüssel mit warmem Wasser bringen lassen," sagte der Apotheker und trat in das Nebenzimmer, von