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Ländliche Fortbildungsschulen ohne Debatte angenommen waren, wird die Sitzung geschlossen.
Stuttgart. 1. April. Gestern Nach mittag fand hier eine sehr gut besuchte Sitzung des Landes Ausschusses des „W ürtt. Wirls- vereins" statt. Auf der Tages-Ordnung stand die Frage, ob sich der Verein mit den Vorschlägen der Volkspartei in Sachen des Umgeldes zufrieden geben und auf eine weitere Aaitation verzichten oder an seiner Forderung auf vollständige Abschaffung des Umgeldes und vollständigen Ersatz des Ausfalles durch die zu erwartende Steuerreform festhalten soll. Der Vorschlag der Volkspartei geht dahin, die Wirte sollen freiwillig einen Teil des Ausfalles decken, wenn das Umgeld mit seinen Konirollbestimmungen abgeschoffl wird. Sämtliche Abgeordnete waren zu der Versammlung geladen; es erschienen etliche 30. Der Verband habe bis jetzt 70 Vereine mit ca 6000 Mitgliedern, welche alle für Abschaffung des Umgeldes eintreten. Redner zählt die Geschickte der einzelnen Eingaben auf und berichtet, Kammerpräsident Payer habe ge sagt, die im Beobachter kürzlich erschienenen Artikel über die Umgeldfrage gehen von der Volkspartei aus. Die Wirte sollen diese Vorichläge an Nehmen, sonst erreichen sie voraussichtlich gar nichts. Der geschäitsführende Ausschuß empfehle die Annahme des Vorschlags der Volkspartei. Wirt Bossert Cannstatt spricht gegen diesen Vorschlag. Stelzer-Mühlacker schildert die Verhältnisse in Baden. Wenn das Umgeld in Württemberg aufgehoben werde, so koste der Wein nicht weniger. Fehle Ravensburg spricht für Annahme des volksparteilichen Vorschlags. Jeder Wirt würde gerne jährlich mindestens 20 Mark extra bezahlen, damit das Umgeld wegfalle. Feuchter-Hall spricht sür eine allgemeine Wein- steuer (vielfacher Widerspruch), die Bezahlung des Umgeldes hält Redner nur sür gerecht, so lange auch die Branntweinsteuer bestehe. (Vielfache Schlußrufe). Der Vorsitzende berichtet, Payer habe ausdrücklich gesagt, daß wahrscheinlich eine Mehrheit der zweiten Kammer sür den erwähnten Vorschlag sich finden und auch die Regierung damit einverstanden sein werde. Schramm-Stuttgart: Die Wirte halten in einer heute vorzuschlagenden Resolution in erster Linie an der völligen Abschaffung des Umgeldes fest, wollen aber den erwähnten Vor schlag der Volkspartei annehmen, falls er Gesetz werde. Haager-Reutlingen erklärt sich wiederholt gegen jedes Kompromiß. Belting Stuttgart: Wenn man den Vorschlag nicht annehme, so erreiche man die radikale Forderung erst recht nicht. Landtagsabgeordneter Mayser- Ulm: Die Volkspartei werde für das Kompromiß stimmen und sich bemühen, auch die andern Parteien für diesen Vorschlag zu gewinnen. Man könne gar nicht wissen, ob und wann wieder eine Kammer ebenso zusammengesetzt sei, wie die jetzige Haager-Reutlingen konstatiert, daß alle bei den letzten Wahlen gegebenen Versprechungen der jetzigen Abgeordneten festgenagelt worden seien. Bossert-Cannstatt: Die Bolkspartei stelle immer den Grundsatz auf «Gleichheit Aller vor dem Gesetz " Ihr jetziger Vor schlag widerstreite diesem Grundsatz. Landtags- abg. Hcning würde gern das Umgeld ganz ab- schaffen, aber in der Kammer habe er gesehen, daß es so nicht gehe. Die künftige Kammer werde vielleicht anders aussehen, als die jetzige, jedenfalls wisse man nicht, was sie beschließen werde. Die Wirte sollen jetzt zugreifen und sich mit dem Erreichbaren begnügen. Landkags- abg. Schach (Zentr.) kann nicht im Namen seiner Fraktion sprechen. Infolge der günstigen finanziellen Lage des Staates könne man jetzt an die Umgeldsfrage herantreten. Aber der Landtag kann nur Wünsche an die Regierung bringen. Wenn jetzt die Wirte einig seien, werde sich wohl auch im Landtag eine Mehrheit sür den Kompromiß finden. Man könnte dann die Steuerbeamten, die bisher mit dem Umgeld beschäftigt waren, bei der Steuerreform ander wärtig untrrbringen, wodurch 200000 Mark erspart würden. Die Wirte sollen jetzt die dar- gereichte Hand annehmen, sonst erreichen sie auf viele Jahre hinaus gar nichts. Es sei allgemeine Ansicht, daß die nächste Kammer nicht
mehr so zusammengesetzt sein werde, wie die heute. — Nach weiteren Meinungen für und gegen die vorgeschlagene Rtsolution wurde dieselbe schließlich mit großer Mehrheit (50 gegen 8) angenommen.
Das Urteil der Stuttgarter Strafkammer im Prozeß Schlör gegen den Verleger Lutz und Redakteur Binder ist in den Augen der Juristen ziemlich milde, noch der Ansicht des nicht juristisch geschulten Volkes aber noch sehr hart ausgefallen Der Verleger Lutz, dem das Urteil selbst uneigennützige Handlungsweise zu Gunsten des Bauern Kuhnle zuerkennt, muß neben der Geldstrafe alle Kosten zahlen. Die Zeugengebühren allein belaufen sich auf 2000 viL die Kosten der Rechtsanwälte auf 1700 und t was Lutz sedst an Auslagen zu tragen hatte bis es überhaupt zu dem Prozesse kam, beziffert sich auf mindestens 1000 sodaß einschli.ßllch der erwähnten Strafe die Summe von 5000 »iL für Lutz dafür herauskommt, daß er eine Eiterbeule zum Aufbrechen gebracht hat. Für Schlör wird das dicke Ende jetzt Nachkommen m Form eines Disziplinarverfahrens. Wenn sich das Diszipli narverfahren gegen ihn auf Grund des eben abgespielten Straskammerprozessks sehr billig gestaltet, so dürfte es nicht mehr als recht und billig sein, wenn die Staatskasse dem Verleger Lutz einen namhaften Teil der auf ihn entfallenen Kosten für vernommene Z ugen ab nimmt. Wenn übrigens der Prozeß Schlör-Lutz j tzt wieder dafür ausgejchlachret werden soll, daß die Abschaffung der Lebenslänglichkeit der Oitsvorsteher endlich an der Zeit wäre, so muß auch die Kehrseite der Medaille ins Auge gefaßt werden. Die Lebenslänglichkeit hat mit der Tüchtigkeit und Sittlichkeit der einzelnen Orts- Vorsteher blutwenig zu schaffen. Es ist noch nicht lange her. daß in Konstanz ein badischer Ortsvorsteher, wo man bekanntlich keine Lebenslänglichkeit kennt, wegen noch viel schlimmerer Thaten verurteilt wurde. als Sch'ör sie begangen hat. Auch aus Preußen und Bchsrn» wo die Lebenslänglichkeit der Ortsvorsteher gleichfalls nicht besteht, ließen sich Fälle genug namhaft machen, welche beweisen, daß die periodische Wahl der Ortsvorsteher durchaus kein Hindernis für Einzelne bildet, um Schlechtigkeiten aller Art zu begehen. — Noch mehr als die verkehrte Nutzanwendung aus dem Prozeß Schlör muß das Beginnen zurückgeafiesen werden, den Fall Hegelmayer neben den Fall Schlör als gleichbedeutend und gleichwertig hinzustellen. Dem Heilbronner Oberbürgermeister sind einige menschliche Schwächen nachgewiesen worden, aber keine einzige unsittliche Handlung und namentlich auch nicht der Schalten irgend eines Eigennutzes. Aus dem Prozeß Hegelmayer ist das Gegenteil von dem Prozeß Schlör hervorgegangen. Hegel, mayer steht sittlich und geistig hoch über seinen Heilbronner Gegnern. Es soll der Prozeß Hegelmayer an dieser Stelle nicht noch einmal von vorne aufgewärmt, aber so viel muß gesagt werden, daß das ganze Verhalten der Gegner Hegelmayers einen überzeugenden Beweis dafür erbringt, daß die Lebenslänglichkeit der Ortsvorsteher auch gute Seilen hat.
Tübingen, 29. März. Schwurgericht. Heute haben die Schwurgerichts- Verhandlungen des I. Quartals begonnen. Der Brandstiftung und des Versuchs eines Diebstahls im Rückfall ist angeklagt die 53 Jahre alte, ledige Fabrikarbeiterin Wilhelmine Kurs von Urach. Der Brandstiftung ist die Angeklagte geständig, an den Diebstahlsversuch will sie sich aber nicht erinnern können. Die Geschworenen sprachen sie nur der Brandstiftung schuldig und wurde sie zu vier Jahren Zuchthaus, woran ein Monat Untersuchungshaft abgeht, verurteilt. — Im zweiten Fill wurde die der Kindstötung angeklagte 24 Jahre alte Dienstmagd Christine Renschlec von Oberreichenbach nur der fahrlässigen Tödtung schuldig gesprochen und zu 1 Jahr und 2 Monaten Gefängnis, woran zwei Monate Untersuchungshaft abgehen, verurteilt. — Wegen räuberischer Erpressung verbunden mit schwerem Raub wurden der 19 Jahre alte Taglöhner I. Kotz zu 5 Jahren und zwei Monaten Zuchthaus und der 25 Jahre alte verheiratete Schumacher Veith von Großbetl
lingen, O.A. Nürtingen zu 2 Jahren 9 Mon, Gefängnis verurteilt und jedem die bürgerlichen Ehrenrechte auf 5 Jahre entzogen. — Bei geschlossenen Thüren wurden sodann verhandelt die Strafsachen gegen Jakob Christian Kümmerte, ^ Taglöhner von Dettenhausen, wegen Sittlich» kcitsverbrcchen und gegen Friederike Walter, ledige Dicnstmagd von Neuenbürg wegen Kindstötung. Kummer!« wurde freigesprochen, wogegen die Walter zu 2 Jahren und 6 Mon. Gefängnis verurteilt wurde
Heilbronn, 2. April. G stern mittag um 1 Uhr rückte das von Gmünd hieher versetzte 3. Bataillon Inf-Reg. Nr 132 Kaiser Franz Josef von Oesterreich, König von Ungarn mit klingendem Spiele hier ein. Die Mannschaften werden, da die Kascrnements noch nicht fertig ^ sind und soweit die alten Räumlichkeiten nicht ! ausreichen, zunächst im Ex-rzierhause untergebracht.
Raumünzach, 2. April. Hier ereignete sich am 28. v. Mts. laut „Grenzer" eia schwerer Unglücksfall. 3 Schulkinder aus den benachbarten Waldkolonien Ebersbronn und Kirfchbaumwalen wurden im Walde auf dem Weg zur Schule hieher von den Aesten einer durch den Sturm entwurzelten großen Tanne» welche über die Straße geschleudert wurde, so schwer getroffen, daß bei 2 Knaben wenig Hoffnung auf Erhaltung des Lebens besteht» während das dritte Kind, ein Mädchen, ver« bältnismäßig bisser davonkam. Auf telegraphische Nachricht kam der eine Stunde von hrer in Forbach wohnende Arzt sofort herbei und leistete oie erste Hilfe. Die armen Kinder und deren Eltern werden allgemein bedauert.
Ausland.
Die „Neue Züricher Zeitung" sagt anläßlich der Kaiser Wilhelms-Feier: „Nationale Einheit ist ein unschätzbares Gut, das die Deutschen früher niemals gekannt haben." Das Blatt spricht dann die sehr richtige Ansicht aus, daß eine Erschütterung der deutschen Einheit schon jetzt ganz unmöglich sei.
Die Panama-Enthüllungen in Frankreich nehmen ihren Fortgang, doch richten sie sich vorwiegend gegen Persönlichkeiten, die jetzt nicht mehr im parlamentarischen Leben stehen. In dem Pariser Blatte „Patite Ropu- blique" ist ein Auszug aus der Liste Artons veröffentlicht worden. Laut dieser Liste erhielten: Naquet 150 000, Rouvier 250 000, Maret 90 000, Levrey 15 000, Burdeau 50 000, Goirand 6000, Julien 12 000, Thevcnet 20 000 Franks.
Die B Handlung der griechisch.kreti» scheu Krisis seitens der Großmächte befindet sich abermals in einem unerfreulichen und unerquicklichen Stadium. Von den angekündigten weiteren Zwangsmaßregeln gegen Griechenland ist vorläufig gar keine Rede, einfach, weil eben die Mächte auch hierin wiederum nicht einig sind, auch über sonstige Maßnahmen zur Verhütung des offenen Konfliktes zwischen Griechenland und der Türkei scheint kerne Uebereinstim- mung im europäischen „Konzert" zu herrschen.
Auf Kreta aber drohen die Mächte geradezu in eine kritische Situation zu geraten, die Aufständischen machen sich aus den Bomben und Granaten der internationalen Flotte gar nichts weiter und fahren in ihren Unternehmungen gegen die von den Türken noch gehaltenen kleinen Befestigungen fort. Trotz der Ausschiffung auch von Landtruppen der Mächte auf Kreta ist daselbst die Lage so bedrohlich geworden, datz die Admirale ihre Regierungen um schleunigste Abwendung weiterer Truppen-Abteilungen ersucht haben, doch auch mit diesen Verstärkungen wird kaum viel gewonnen sein. Oberst Bassos, der Kommandeur der griechnchen Expeditionstruppen auf Kreta, hat in einer Zuschrift an die Admirale gegen die Parteinahme derselben für die Türken protestiert. Nach einer Athener Meldung des „Journal de Paris" gedenkt Griechenland am 6. April den Krieg an die Türkei zu erklären.
Mit einer Beilage
des Hamburger Kaffee Import und Bersandt- hauses Adolf Richter L Cie.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.