dem Lehrer vorbeugend. „Hat denn der Lektions plan des von Ihnen besuchten Seminars auch die Disziplin der Anatomie des menschlichen Körpers aufzuweisen gehabt, he? Gewiß nicht, denn sonst müßten Sie unbedingt w'ssen, was das Herz ist. So will ich's Ihnen, als Ihr erster Schulvorstand, sagen und erklären, was das Herz ist. Merken Sie gut aul: das mensch liche Herz ist — na — hm! — ist alles Andere, nur das nicht, was hirnverbrannte Poeten. Romanschreiber und verliebte Narren aus ihm machen möchten. Das ist das Herz, verstanden? Und nun, wenn ich bitten darf, ferner nicht mehr ein Stückchen „Muskelfl-isch" in ernste Dinge hineingemischt, um die es sich hier handelt."
Er erhob sich und schritt einige Mal im Gemach aus und ab, vermutlich um seiner Erregung Herr zu werden.
Nachdem ihm dieses mit Hilfe einiger Nasen spenden, die er sich inzwischen.geleistet halte, so ziemlich gelungen war, blieb er vor dem Lehrer stehen.
„Sie sollen meiner Tochter Susetle schrift lich entiagen, Herr Frcimund" , sprach er ge messen, indem ei den beschriebenen Bogen vom Tisch langte. „Diese Eiklärung, laut welcher Sie auf Susetlen's Hand feierlich verzichten, wird, wenn Sie unterschreiben, Ihnen insofern zum Hebel deS Glückes werden, als sie, die Ur künde nämlich, mich verpflichten soll, bei der bevorstehenden Lehrerwahl für Sie zu stimmen Wollen Sie also Ihren Namen darunter setzen?" schloß er mit erhobener Stimme, indem er dem Lehrer den Bogen entgcgenhielt.
„Das werde ich nre und nimmer thun, Herr Rentmeister!" sagte Freimund mit blitzenden Augen. „Nichts in der Welt wird mich dazu bewegen, mein Höchstes und Heiligstes, meine Liebe, um dieses „Linsengericht" eines zeitlichen Borteils zu verhandeln."
Herr Spangendorf hatte das Schriftstück mehrfach zusammengesetzt, das er dem Lehrer in die äußerste Bcusttaschc schob, indem er sagte:
„Sie haben fünf Tage Bedenkzeit, denn am sechsten ist Lehrerwahl. Handeln Sie, wenn ich Ihnen als Freund raten soll, nach Vernunft, ergreifen Sie den Ihnen gebotenen Vorteil. Da me,ne Tochter hier so wie so nicht in Frage kommen kann, insofern >ch über deren Hand be reits anderweitig verfügt habe, so werden Sie klug thun, wenn Sie der Stimme des Verstandes Gehör schenken und die von mir verlangte Förmlichkeit ertüllen. Punktum! — Und nun kommen Sie, mit mir aus das gute Gelingen des Fürsten- festes ein Gläschen anzustoßen."
(Fortsetzung folgt.)
Der kürzlich verstorbene Seiltänzer Karl Blondin
zeigte schon in allerfrühester Jugend Anlage zu seinem spateren Berufe. Im Jahre 185 l sah ihn in Paris ein Agent der Ravelschen Akrobatentruppe, und er schloß sofort mit ihm ein Engagement für Amerika ab.
An einem Sonntage des Jahres 1855 befand sich die Truppe an dem gewaltigen Niagarasall. Scherzweise wurde auch Blond in gefragt, ob er sich wohl getraue, den Niagarasall aus einem Seile zu überschreiten. Nach kurzem Besinnen sagte Blondin, er habe soeben den Gedanken selbst erwogen, und er wolle es thun. Der Kunstreiterdirektor und alle seine Kollegen lachten ihn aus und meinten, daß es ihm doch wohl bei der Breite des Falles (500 m) und angesichts der Tiefe (80 m) wohl kaum mit der Sache Ernst sein könne. Verschiedene Kollegen fingen nun an, ihn zu verspotten — er sei ein Renommist, hieß es — jedoch Blondin ließ den Gedanken nicht mehr fahren. Als nun noch zum Ueberflusse eines Tages ein spöttisch gehaltener Artikel in einer großen Zeitung erschien, der die Mitteilung brachte, Blondin wolle den Niagarasall überschreiten und der überall erheiternde Wirkung machte, verließ Blondin mit seiner Frau die Truppe, um sein Unternehmen ins Werk zu setzen. Sein Direktor hielt ihn sür „übergeschnappt" und ließ ihn ziehen.
Blondin begab sich nach dem kleinen Ort Niagara- Falls, und suchte durch Vermittlung die Genehmigung der Behörden sür sein Vorhaben zu gewinnen. Nach echter Uankeeart lautete die Weisung: „man lebe in einem freien Lande, Jeder könne machen was er wolle und wenn er sich absolut den Hals brechen wolle, so sei dies eine Privatsache." Ebenso genehmigte die kanadische Behörde das Unternehmen.
Nun ging Blondin ans Werk und unterhandelte. Der Grundbesitzer auf kanadischer Seite wollte die bei der Produktion zu erz elenden Einnahmen mit Blondin teilen: B. ließ sich diese Wuchcrbedingung gefallen. Aus bestem Hanf ließ er ein Seil zum Preise von 1300 Dollars (5200 -«) anfertigen; ein Amerikaner, Hamblin,
den die Sache interessierte, schoß die Summe vor, und nach Fertigstellung des Seiles wurde es unter großen Schwierigkeiten über den Wasserfall gespannt. Im Sommer 1859 zuerst am 30. Juni ging dies Wagnis vor sich.
Etwa 25 000 Menschen waren Zeugen der Ueber- schreitung, die Blondin in 5 Minuten bewerkstelligte. Am 4. Juli wiederholte er die Vorstellung, diesmal mit verbundenen Augen und indem er einen Schubkarren vor sich her scbob. Am 19. August folgte das Hauptstück, der tollkühne Mann trug einen anderen Menschen auf seinen Schultern über das Seil. Monatelang vorher präparierten sich beide täglich stundenlang aus das furchtbare Wagestück, indem sie fortwährend die donnernd dahinschießenden Wassermassen anstarrten, um sich an den nervenerschütternden Eindruck zu gewöhnen. Und doch wurde der Mann, den Blondin über das Seil trug, in der Mitte desselben vor Sckrecken und Aufregung so nervös, daß er schrie und zappelte. Eine grausige Situation. Aber Blondin bedeutende seinem Gefährten, daß, wenn er sich nicht sofort ruhig verhalte, er ihn in den Strom werfen würde. Dies half. Der Mann, der die Entschlossenheit Blondins kannte, ward vor Schreck wie gelähmt und ließ sich in diesem Zustand ruhig weiter tragen. — Bis in den September wiederholte er diese Leistung fortwährend und mit immer neuen überraschenden Variationen und Zuihaten. Bald machte er seinen Gang mit verbundenen Augen, bald in einem großen Sack, bald mit einem Schubkarren. Bei einer anderen Gelegenheit erschien er als sibirischer Sträfling, an Händen und Füßen mit Ketten belastet. In der letzten Vorstellung am Schluffe der Saison unterbrach er seinen Gang d s Abends in der Mitte des Falles und stellte sich, von großem Feuerwerk umstrahlt, auf den Kops. Im folgenden Jahre gab er eine neue Reihe von Vorstellungen , wieder mit neuen Abwechslungen. Als damals im September der Prinz von Wales sich unter den Zuschauern befand, ging Blondin mit Stelzen über das Seil und erbot sich außerdem, den englischen Thronerben auf dem Rücken hinüber zu tragen, was indessen mit Dank abgelehnt wurde.
Im Juni 1861 trat der nun weltberühmte Seiltänzer in London im Kristallpalast auf, erhielt für die ersten zwölf Vorstellungen 1200 Pfund t— 24000 Mk.) und band sich darauf zu einem längeren Vertrag. Es war ein Seil 52 Meter hoch durch die ganze Länge des Hauptschiffes gezogen und Blondin führte darauf die unglaublichsten Dinge aus. Auf Stelzen Purzelbäume aus dem Seil schlagen, gehörte zum regelmäßigen Programm. Er kletterte über den Rücken eines Stuhles, kochte aus einem kleinen Ofen eine Omelette, ging mit den Füßen in Körben spazieren, kurz, war auf dem Seil wie auf ebener Erde zu Hause. Die Sicherheit seiner Füße und sein Gleichgewicht spotteten jeder Beschreibung. In den Verhandlungen seines Agenten mit der Geschäftsleitung des Kristallpalastes wurde den Direktoren angst und bange, als von 50 Metern Höhe die Rede war. „Aber wenn er fallen sollte," warf einer von ihnen ein. „Fallen?" ries der Agent, „das kann er gar nicht."
Es ließe sich noch manches von Blondin erzählen, allein er war ja auch auf dem Festlande keineswegs unbekannt. Er hatte sich verhältnismäßig früh zurückgezogen und lebte in Ealing, wo er sich em Haus gebaut und Niagara Hause getauft hatte. Dann trat er um 1880 herum wieder auf und zeigte, daß er noch ganz der Alte war. Zuletzt hat er sich im August vorigen Jahres in Belfast auf dem Seile gezeigt und seine 72 Jahre mit gutem Anstand getragen.
(Enttäuschung.) Vater (um Geburtstage seiner Tochter): Du hast Dir ja immer ge- wünsch!, Zither spielen zu können. Hier schenke ich Dir eine Akkordzither, die man in einer Stunde ohne Lehrer spielen lernt. — Tochter (schluchzend): Ach, und gerade auf den Lehrer habe ich mich so gefreut!
Telegramme.
Essen a. R., 28. Febr. Die „Rheinisch Wests. Ztg " teilt mit: Auf zahlreichen Zechen des Ruhrkohlengebiels überreichten die Arbeiter gemäs den Bokumer Beschlüssen des christlichen Bergarbeiterverbandes verschiedene Forderungen, u. a. eine lOprozent Lohnerhöhung.
Canea, 28. Febr. In Beantwortung der gestrigen Proklamation der Admirale übermittelten die Aufständischen dem Admiral Conivaro eine von mehreren Führern Unterzeichnete Note, in welcher erklärt wird, alle Bande zwischen Kreta und der Pforte seien zerrissen, und die kretische Bevölkerung werde keine andere Lösung annehmen, als eine Union mit Griechenland. Oberst Vassos hat das Versprechen gegeben, bei den Aufständischen in Selino vorstellig zu werden, damit die mit ihren Familien in dem dortigen Fort eingeschlossenen Türken abziehen können.
Canea, 28. Febr. (Reutcrmeldung.) Die jüdischen Einwohner verlassen in großer Zahl die Stadt. Bew iffnete Muselmanen durchziehen fortdauernd die Straßen. In Candia bewaffnete der Gouverneur nach der Proklamation der
Admirale, in welcher die Einstellung der Feindseligkeiten gefordert wurde, muselmanische Frei- lwllige, welche mit den regulären Truppen aus- ziehen, um die christlichen Ortschaften anzugreifen. Bei beiden Teilen, den Muselmanen und den Christen, gab es mehrere Tote. Die Befehlshaber der Stationsschiffe erhoben beim Gouverneur Vorstellung.
Canea, 28. Febr. (Neueste Meldung der Agence Havas): Seit heute früh finden in der Entfernung von 1 Stunde von der Stadt zwischen Griechen und Baschiruken Gefechte statt. Die Ortschaften Nevkuru und Tsikalaria stchen in Flammen. Eine Abteilung türkischer Kavallerie ist zum Schutze der benachbarten Orte abgesandt worden.
Canea, 28 Febr. (Meldung der Agence Stefanie): Während des gestrigen Tages fanden,
1 Stunde von R Ihmo entfernt, Kämpfe zwischen eingeborenen Muselmanen und Christen statt. Beide Teile erlitten erhebliche Verluste. Zwei anwesende Kompagnien türkischer Truppen griffen nicht in den Kampf ein. Die Muselmanen zogen sich zurück.
Saloniki. 28 Febr. Reutermeldung. Hier ist ein Befehl der Pforte eingetroffen, die Entsendung von 72 Rhedifbataillonen nach der Grenze zu beschleunigen.
Konstantinopel, 28. Febr. In Kailar an der Bahn Saloniki Manastir soll ein Hauptquartier und ein Lager für die türkischen Truppen errichtet werden. Nach Adrianopel sind bereits heute 62, nach Saloniki 70 Wagen mit Geschützen, Gewehren und Munition abgegangen. Von Muradlic aus wurden gestern 4 und heute 5 Militärzüge mit 1400 Mann und 200 Pferden nach Saloniki abgesandt. Von morgen ab bis auf Weiteres wird der Personenverkehr auf der Bahn Dedeogatsch Saloniki mit Ausnahme von zwei direkten Zügen in der Woche eingestellt.
Athen, 28. Febr. Die Deputiertenkammer hielt auch heute noch eine Sitzung ab. Die Mitglieder der Opposition traten zu einer Plenarsitzung zusammen und beschlossen einen Protest an den Kömg zu richten, in welchem erklärt wird, angesichts des gegenwärtigen parlamentarischen Streiks habe der König die Pflicht zu handeln, um der Verfassung Achtung zu verschaffen; andernfalls erkläre die Opposition, sie könne keinesfalls sür die Frage verantwortlich sein. Alle Führer der Opposition Unterzeichneten den Protest. — Das Dekret betreffend die Einberufung der Reservisten des Jahres 1891/92 wurde gestern Abend veröffentlicht.
Athen, 1. März. (Agence-Havas-Meld- ung) aus Kanea vom 28. Februar.' Um
2 Uhr 40 Min. nachmittags fand in Hera- kleion ein Kampf zwischen Türken und Aufständischen statt. Letztere wurden von dem Führer Korakas befehligt. Die Christen wurden zurückgeschlagen, die Türken behaupteten ihre Stellungen. Um 3 Uhr 40 Min. wird aus Kanea gemeldet: In Malaca oberhalb Tsikalaria wurden die Türken von den Christen eingeschlossen. Sie leiden Mangel an Lebensmittel. Als gestern die Türken unter Bedeckung von Nizams Kanea verließen, um den einge- schlossenen Lebensmittel zu bringen, entspann sich ein Kampf, wobei einige Türken und Nizams gelötet wurden. Eine türkische Fregatte gab auf die Aufständischen 2 Kanonenschüsse ab, stellte aber das Feuer auf Befehl des Kommandanten der fremden Schiffe ein. Die Türken mit den Lebensmitteln mußten sich zurückziehen. Die Ortschaften Tsikalaria und Nerokuru wurden von den Baschibozuks in Brand gesteckt.
Rom, 1. März. Die Agence Stefani meldet aus London vom 28. Februar: Die Botschafter in Konstantinopel und die Gesandten in Athen vereinbarten nunmehr den Wortlaut der der Türkei und Griechenland zu überreichenden Kollektivnolen. Die Noten werden wahrscheinlich morgen überreicht. Es wird bestätigt. daß die für Griechenland bestimmte Note eine 4tägigeFrist für Rückberufung des Geschwaders und der Truppen von Kreta stellt.
yzW- Mit einer Beilage von C. Breitmeyer,
Losgeschäft Stuttgart.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.