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Unterhaltender Teil.
Pierre St. Robert.
Eine Erinnerung an den Feldzug 1870/71 von I. B. M u s ch i.
Es war am 29. August 1870, als eine größere Abteilung deutscher Truppen in Bar-lc- duc einmorschierte, um dort Quartiere zu beziehen. Das war an jenem Tage sehr schwierig zu bewerkstelligen, da die besseren Stadtteile bereits von Truppen belegt waren und man selbst die höher gelegene Kaserne zur Einquartierung benützt hatte. Vorläufig waren die meist armen Bewohner des Bergviertels von Bar le-duc mit Einquartierung verschont geblieben, aber auch sie mußten nun die Lasten des Krieges mittragen. Später zeigte cs sich freilich, daß gerade für diese Armen die Last keine sehr große in Bezug auf Opfer war, daß sich vielmehr die mehrtägige Unbequemlichkeit sehr gut bezahlt machte. Die Einquartierten sorgten in der Regel für ihre Quartiergeber in reichlicher Weise mit, so daß die Armen meist während dieser Zeit förmliche Feiertage hatten. Nachdem die obenerwähnte Truppenabteilung untergebracht schien, kam noch ein ziemlicher Trupp Malader und Nachzügler, die sich ebenfalls nach Quaticren sehnten: in den meisten Fällen war schon vorgesorgt und es bedurfte nur eines freundlichen Führers, um die entlegenere Gebirgsstadt und die angewiesene Straße autzusindcn. Bar-le duc ist zwar nur eine Stadt von 18 000 Einwohnern, aber immer- hin so weitläufig gebaut, daß einem Fremden das Suchen des Quartiers nicht allzu leicht wird. Unter den Nachzüglern des Truppes befand sich auch ein Offizier mit seinem Burschen; man hatte für ihn nicht Quartier gemacht, weil man glaubte, er sei in St. Aubin oder Ligny zurückgeblieben. Die Abteilung hatte Tags zuvor einen tüchtigen Marsch über Foug, Void nach Saulx gemacht, ohne daß derselbe aber anstrengender gewesen wäre, als viele andere vorher. Ewald v. Hels hatte jedoch zurückbleiben müssen und schrieb seinen matten Zustand der Marschcrmüdung zu; als aber auch beim Fahren derselbe sich nicht besserte, da fühlte er wohl, daß irgend eine ernste Krankheit bei ihm im Anzuge sein müsse. Er sträubte sich gegen diese Erkenntnis, so lange er ging und suchte mit seiner Truppe gleiche Tagcsroute zu halten. Nun war er mit den Nachzüglern in Bar-le-duc angelangt und fand, daß er sich selbst auf der Maire um ein Quartier bemühen müsse; denn seinen sonst so willigen und fleißigen Burschen konnte er n'cht senden, da dieser, ein echtes Kind vom Lande, mit der französischen Sprache auf sehr gespanntem Fuße lebte und sich trotz aller Mühe nicht im ge- ringsten verständlich machen konnte. Der kranke Offizier unternahm daher die mühsame Wander ung zum Etoppenkommando, von dort zur Mairie, eroberte für sich und seinen Hans ein Quartier- billet und trat sodann todmüde die Wanderung nach der Bergstadt an. Schon jetzt mußte er sich auf seinen Burschen stützen, kaum aber hatte er die Hälfte des dicht mit Häusern besetzten Mont erstiegen, als ihn die Kräfte verließen. Gerade vor dem Krämerladen des Bürgers Maillot verlor er das Bewußtsein und Hans sing ihn in seinen Armen auf. Der Vorfall erregte Aussehen, die Straßen waren belebt und der Laden von Einkäufern zahlreich besucht, wie das beim Einmärsche von Truppen zu sein pflegt; cs sammelte sich sonach um den Ohnmächtigen bald ein ziemlicher Kreis von Neugierigen in der rue Laint lloan. Man fragte den bestürzten Hansj, wo seines, Herrn Quartier sei, doch dieser verstand die Leute nicht und erzählte ihnen Dinge, welche sie nicht verstanden.
Da machte sich ein großer robuster Mann Platz durch die Menge und fragte in barschem Tone: „Was giebt's da? — Man gab ihm Auskunft und bedauerte allseitig zu arm zu sein, um den Kranken ausnehmen zu können.
„Ach was zu arm! Ich bin auch nicht reich — und Mancher von Euch hat mehr als ich; aber bin ich gleich nur ein Ouvrier in der Blouse, so habe ich doch ein Herz, das mir sagt, daß hier sogleich geholfen werden muß, und helfen will ich. Leute greift an und schafft den Deutschen in mein Haus hier."
Ausnahmsweise schien Hans den französischen Arbeiter zu verstehen, er legte sogleich Hand an, und ward Ewald v. Hels in die Wohnung des Blousenmannes geschafft, welche aus zwei kleinen Stuben bestand. Des Arbeiters Frau, eine junge zierliche Gestalt, war über den Gast etwas erschrocken; sie hatten zwar noch keine Einquartierung, aber wie sollten sie auch die Leute befriedigen können! Zwar hatte die Frau etwas Vermögen in die Ehe eingebracht und das Häuschen in der ruo Laint llean war ihr Eigentum, aber seit der Krieg ausgcbrochen, war die Fabrik, in welcher ihr Mann Beschäftig ung fand, geschlossen worden. Sic war zu ver- ständig, um ihm daher einen Vorwurf zu machen, sie hoffte wie die andern Alle, auf die Wiederkehr besserer Zeiten und ließ es sich deshalb gefallen. daß man in der Zwischenzeit von ihrem Erbgute zehrte. Sie war eine Frau, die sich mit seltenem Geschicke rasch in Alles finden konnte und darum auch ihr verdrießliches Erstaunen unterdrückte, als ihr Mann und ein deutscher Soldat einen kranken Offizier in ihr Haus trugen.
„Hier, Babichon," rief er der jungen Frau zu, „hilf mir das Bett für den Kranken bereiten!" Babichon that ohne Widerrede, was er wünschte.
Die kleine Frau wußte zwar, daß ihr Mann durch Weggabe des Bettes seine eigene Bequem lichkeit aufopferte, doch dachte sie, es müsse so sein in der schweren Kriegszeit; hätte sie freilich gewußt, daß Pierre St. Robert die Deutschen freiwillig in sein Haus genommen, sie wäre vielleicht nicht so ruhig gewesen, zumal der Verdienst in den schlechten Zeiten schmal war. So ward Ewald bei dem Samariter i» der Blouse untergebracht und sorgsam gepflegt, wobei allerdings der treue Hans eine bedeutende Behilfe leistete.
Die Truppenabtcilung des kranken Offiziers zog ab, neue Truppen langten an, um nach kurzer Rast gleichfalls weiter zu ziehen, dem großen Ziele „Paris" zu, und Ewald befand sich noch immer in der Pflege der Ouviiers- Leute. Man hatte den Offizier in ein Lazareth überführen wollen, aber St. Roberts Bitten gelang es. daß man den Kranken in dem Arbeiterhause ließ. Pierre St. Robert war eben ein eigentümlich gearteter Mensch; er hatte manches trotz seiner Jugend in der Welt erfahren, er las eifrig und dachte über das Gelesene nach. In solcher autodidaktischer Weife hatte er sich Ansichten gebildet, die ihn über die Rohheiten seines Standes erhoben und menschenfreundlich machten; er dünkte sich erhaben über die damals in Blüte stehende Art von Patriotismus und suchte stets dahin zu wirken, den täglich grosser hervortretenden Nationalhaß zwischen Deutschen und Franzosen in seinem Einflußkreise zu mildern. Er wollte Freund und Feind als Menschen behandelt wissen und aus dieser Ansicht floß auch seine Samariterthat; er kannte den aus geringfügigen Ursachen entspringenden patriotischen Fanatismus noch nicht. Die jugendliche, kräftige Natur des Deutschen überwand die Macht der Krankheit, die nur ein leichter Typhusanfall war, und bald kamen die Tage des Wiederkehr enden Bewußtseins und des Gefühls, daß die Gesundheit wieder ihren Einzug in den Körper halte.
Nun saß der weit über seinen Stand gebildete St. Robert stundenlang am Bette seines Gastes und suchte ihn auf olle Weise zu unterhalten. Es konnte nicht fehlen, daß beide Männer dabei auf das Nächstliegende, den Krieg, zu sprechen kamen, und Pierre entwickelte Ansichten, denen Hels zwar nicht beistimwen konnte, die er jedoch vom französischen Standpunkte aus betrachtet, nicht geradezu verwerflich fand, zudem Pierre stets neben seinem französischen Stand- punkte einen höheren internationalen zu betonen wußte. Beide kamen mit ihrer Meinung, wenn auch auf verschiedenem Wege, auf den gemeinsamen Punkt, daß mit der Besiegung Na- poleons der Feldzug zu Ende wäre oder nur noch von kurzer Dauer sein könnte. — Große Dinge waren geschehen, während Ewald krank darniederlag; Napoleon war bei Sedan total aufs Haupt geschlagen, man hatte ihn als Ge-
I fangenen nach Deutschland abgeführt — und das Gros der deutschen Armeen wandte sich Metz und Paris zu. Das gab reichlichen Stoff zu militärischen und politischen Gesprächen zwischen Männern; allein so viel Berührungspunkte dieser Stoff auch gab, St. Robert wurde von Tag zu Tag unmutiger und aufgeregter, als er hörte, daß von einem Friedensschlüsse noch keine Rede sei. daß die Deutschen Paris und Metz immer mächtiger umklammerten, als er in der Stadt vernahm. daß im Süden neue Heere gebildet würden, daß Freischaaren, sogen. Franctireurs, allenthalben auftauchten und sich am Kampfe gegen die deutschen Truppen beteiligen. Er ließ sich seinem Gaste gegenüber nichts von der Sympathie, welche er dem Aufraffen Frankreichs cnlgegenbrachte, merken Es hätte ihn geniert, bekennen zu müssen, daß er in einem Irrtum befangen war, als er glaubte mehr Mensch als Franzose zu sein; er hätte sich geschämt, einzugestehen, daß all' die Grundsätze, die er sich müh- iam angecignet, von einer neuen politischen Konstellation niedergeworfen seien, daß ec mit seiner Humanität Schiffbruch gelitten habe und bereits im Fahrwasser des radikalsten Chauvinismus sich b,finde, nur auf die Gelegenheit harrend, ins Schiff, das man damals schon „Revanche für Sedan" nannte, aufgenommen zu werden. Roberts Bildung war eben eine oberflächliche, welche die Patriotische Entrüstung mit einer Leichligkut hinwegfegle, als wäre sie nie sein Eigen gewesen. Er war daher hoch erfreut, als endlich der Tag kam, an dem Hels ihn verlassen wollte, um seinem Regimente nachzueilen. Ewald ließ es nicht an klingendem Lohne für die Krankenpflege fehlen — und St. Robert nahm das Geld sogar mit einer gewissen Begierde, die seiner Frau auffiel. Sie wußte auch bald, woher diese Gesinnungsänderung kam, und wurde sehr betrübt durch solche Aussichten auf die Zukunft; denn Pierre hatte ihr geradezu erklärt, er warte nur auf die Entfernung des Gastes, um sich sofort dem neugcbildcten Frank- tircurskoips anzuschlüßen Die arme Frau ahnte nur schlimme Folgen von diesem Entschlüsse, aber ihre Macht reichte nicht aus, um den geliebten Mann von dem Plane abzubringen. Der Geist der Zeit riß ihn. wie Tausende, dahin, und die Gattin war die letzte, den Stab über ihres Mannes Beginnen zu brechen, das damals hochvcrdienstlich gepriesen wurde. Die Abschiedsstunde kam und Hels verließ das gastliche Haus mit dem Versprechen. nach erfolgtem Frieden, den man damals für sehr nahe hielt, in Bar- le duc nochmals Besuch zu machen. —
Doch mit dem Frieden wurde es so bald nichts; der Krieg entbrannte nur um so heftiger, neue französische Armeen entstanden, Franktireur- banden durchzogen das Land, und cs schien kein Ende abzusehen. Besonders die auf den kleinen Krieg sich beschränkenden Franktireurs machten die Etappenstraßen unsicher; sie überfielen kleine Trupps, überfielen einzelne Detachements, mordeten Kranke und Schwache, wie sich eben die Gelegenheit bot. Ja, als die Kämpfe um Orleans kurze Zeit für die Franzosen günstig standen, wagten sich die kühnen Männer an größere Unternehmungen und streiften in die Nähe von Versailles, den Rücken der Belagcrungstruppen fortwährend bald da bald dort beunruhigend. Endlich ging man energisch gegen die mit allen Mitteln von Banditen kämpfenden Franktireurs vor, entsandte Detachements, welche den strengsten Befehl hatten, jeden auf der That ertappten Franktireurs kriegsrechtlich erschießen zu lassen. Auch Ewald v. Hels wurde zum Kommandanten eines solchen Detachements ernannt und erhielt Rambouillet als seinen Wirkungskreis angewiesen. Täglich gab es da Scharmützel und es war von Pardon bei diesem Guerillakriege kaum mehr die Rede. Eines Abends verbreitete sich bei dem Hels'schen Detachement die Kunde, daß eine Patrouille hinterrücks von Franktireurs über- fallen und zwei Mann derselben von den Unmenschen an Bäumen aufgeknüpft worden wären. Leider bestätigte sich diese empörende Nachricht im vollsten Maße.
(Schluß folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von L. Meeh t» Neuenbürg.