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Der englische Ministerpräsident hat auf dem Lordmayorsbankett im Londoner Rathaus (Guildhall) eine große politische Rede gehalten, worin er, wenn man die Rede ihrer diplomatischen Verzierungen entkleidet, die Ab- setzung des türkischen Sultans verkündigte, falls dieser die Ordnung in Konstantinopel und in Armenien nicht alsbald herstelle und die versprochenen Reformen nicht ehrlich durchführe. Dabei versicherte Marquis Salisbury, daß alle Mächte durchaus einig seien gegen den Türken. Dies ist nun leider nicht recht glaublich; denn bereits liegen Nachrichten aus Konstantinopel vor, daß der Einfluß des russischen Botschafters Nclidow beim Sultan stark gewachsen sei, so daß der jetzige Grsßvezier in kürzester Frist wahrscheinlich wieder abgesetzt werde, worauf der russenfreundliche Said Pascha wieder Großvezier werde. Offenbar hat sich Rußland dem Sultan als Beschützer angeboten. Unter solche« Umständen dürfte es den Engländern wenig nützen, daß Italien denselben versprochen hat, es werde mit seiner eigenen Flotte die ohnehin sehr starke englische Mittelmeerflotte (aus ca. 60 Kriegsschiffen bestehend) noch verstärken. Die Engländer haben sich durch ihr scharfes Vorgehen in Konstantinopel eine böse Suppe ein- gebrockt und möchten sie nun Deutschland und Oesterreich zum Auslöffeln präsentieren. In Berlin und Wien bedankt man sich aber höflichst für eine solche Mahlzeit. Nun haben die Engländer auch den Aschantis den Krieg erklärt, in Aegypten tritt ihr zuverlässigster Freund, Nubar Pascha, von dem Posten des Ministerpräsidenten „wegen Krankheit" zurück und jetzt werden wahrscheinlich auch in Aegypten die Feinde der Engländer sich wieder energisch regen.
London, 13. Nov. Da sich die Regierung nun für den Krieg mit den Aschantis entschieden hat, herrscht in Woolwich fieberhafte Thätigkeit zur Herstellung des Kriegsmaterials. Der Oberbefehlshaber des Heeres. Lord Wol- seley, war gestern den ganzen Tag mit der Beratung des Kriegsplanes beschäftigt. 60 Offiziere sind für die Kriegsunternehmung schon auserwählt worden; eine Abteilung Artillerie aus Devonport segelt am Samstag von Liverpool ab.
London, 14. Novbr. Das Vorgehen Oesterreichs in der türkischen Frage erfolgte nach vorheriger Vereinbarung mit den Mächten. Hiesige Regierungskrcise erwarten bestimmt einen friedlichen Verlauf der Dinge.
K o n st a n t i n o p e l, 13. Nov. Erneute Kämpfe mit beträchtlichen Verlusten an Menschenleben, bei denen auch vier amerikanische Missionare getötet wurden, werden aus Malatia im Vilajet Mamuret-Aziz, ferner aus dem Bilajet Siwas und mehreren Punkten des flachen Landes gemeldet. Dagegen sind die Gerüchte vom Ausbruche einer ähnlichen Bewegung in dem östlichen Teile des Vilajets Angora bisher von keiner Seite bestätigt worden.
Aus Cuba treffen immer ernstere Nachrichten für die Spanier ein: Wenn es letzteren nicht gelingt, einen großen Schlag gegen die Aufständischen zu führen — und letztere weichen jeder größeren Schlacht aus — so dürfen die Tage der spanischen Herrschaft auf der Insel Cuba gezählt sein.
New-Iork, 1. Novbr. Aus Colon schreibt man, daß die Arbeiten am Panamakanal im nächsten Frühjahr wieder in größerem Maßstab beginnen werden. Für die Ausgrabungsarbeiten bei Gulebra seien bereits 3000 Mann angeworben. — Am 26. Okt. geriet ein Zug der von South Bend in Indiana abgehenden Chicago- und Grand Trunk Bahn in ein brennendes Moor. Beim Fahren über eine gleichfalls in Flammen stehende Holzbrücke stürzte der Zug hinab und verbrannte vollständig. Von dem Zugpersonal wurden mehrere schwer verletzt. Die Mitreisenden kamen mit dem Schrecken und verbrannten Kleidern davon.
Basel. 12. Nov. Gestern Nacht wurde sämtliches Bahnperjonal des Frankfurter Zuges verhaftet und durchsucht, um festzustellen, ob dem Personal eine Schuld an einem auf der Fahrt an einer Dame begangenen Diebstahl von 50000
Mark zuzumessen sei. Der Verdacht war unbegründet.
Montreux, 13. Nov. Das Gerüst am Neubau des Hotels Rigi-Vaudois in Glion oberhalb Montreux brach zusammen; 6 Arbeiter stürzten von demselben herab, davon waren 3 sofort tot, 2 sind im Krankenhause gestorben und der Zustand des sechsten ist verzweifelt.
New - Iork. 13. Nov. Einer Depesche aus Granada (Mexiko) zufolge ist dort eine große Schule abgebrannt. 150 Schüler befanden sich in derselben. 31 Leichen, darunter die eines Lehrers, sind geborgen. Man vermutet Brandstiftung. Zwei von dem Lehrer jüngst bestrafte Knaben sind verhaftet worden.
vermischtes.
Zur Aufklärung der Frage der geistigen Urheberschaft einer Petition der Landwirts, trauen aus Ratibor, die dem preußischen Landwirtschaftsminister kürzlich überreicht wurde, wird der „Voss. Ztg." geschrieben: Der Minister nahm die überreichte Petition freundlich entgegen. bat um einen Augenblick Zeit zur Lektüre des umfangreichen Schriftstücks und fragte die beiden Damen dann, was es denn mit dem so besonders hervorgehobenen „Antrag Kanitz" für eine Bewandtnis habe: „Nun, Exzellenz, dieser muß in allen Punkten und mit allen Konsequenzen durchgeführt werden, damit der entsetzliche Notstand ein Ende nimmt." — „Sehr wohl, doch bitte ich um Aufklärung darüber, wie das geschehen soll?" — „Nun damit wir bessere Kornpreise bekommen und wir nicht mehr unserm Ruin entgegensetzen müssen." — „Meine Gnädige," wandte der Minister sich zu der bis dahin stumm gebliebenen Begleiterin, „vielleicht haben Sie die Güte, mir zu sagen, was denn eigentlich der Antrag Kanitz besagen will?" — „Ich kann nur in allen Dingen bestätigen, was Frau T gesagt hat, Exzellenz können sich darauf verlassen." — Auf weitere Belehrung, besonders über den Zusammenhang der Doppelwährung mit der Landwirtschaft aus dieser Quelle verzichtend, empfahl der Minister sich den Damen mit dem freundlichen Rate, die Erörterung von finanz- und volkswirtschaftlichen Fragen in Zukunft lieber ihren Männern zu überlassen. —
Diese Minister-Audienz erinnert lebhaft an eine andere, nämlich an folgende heitere Anekdote: Zwei Brauer erbaten sich einst eine Audienz bei einem Finanzminister, um in Steuerangelegenheiten zu petitionieren. Sie wünschten dabei „es möchte gemacht werden wie im Badischen." Auf die sofortige Frage des Ministers „Ja wie ist es denn im Badischen" gerieten beide ob einer präzisen Antwort in große Verlegenheit, es half auch nichts, wenn sie sich auch gegenseitig mit sanften Rippenstößen bearbeiteten. Sie waren überfragt, wenn sie auch vorher einen gesunden Vorschlag zu machen meinten.
Berlin, 12. Nov. Eine hübsche Geschichte erzählen die „Friedrichsh. Nachr." Kürz- lich war, so ersehen wir aus einer längeren Auslassung, Exzellenz v. Stephan in Friedrichshagen, um die Gladenbecksche Gießerei zu besuchen. Auf dem Rückwege verspürte er Hunger und Durst, ging mit seinen Begleitern in eine bekannte große Wirtschaft, war mit Speisen und Getränken recht zufrieden und erfreute durch anerkennende Worte den hochbeglückeen Wirt. Dann kam der Aufbruch. Diensteifrig stürzte der Wirt herbei, um höchsteigenhändig seinem vornehmen Gaste den Mantel anzuziehen, aber o Schreck: inzwischen war der Mantel verschwunden! Bleich und mit schlotternden Knieen machte der entsetzte Wirt der Exzellenz hiervon Mitteilung, doch diese antwortete nur lachend: „Soweit, lieber Freund, haben wirs in Berlin noch nicht gebracht!" Sprachs und ging leichten Jackets zum Bahnhofe.
Seelenfahrt. (Eine bretonische Sage.) Wenn im düstern Novembermonat die Zeit des Totenfestes kommt und die Nacht vor dem Allerseelentage ihre Schatten über Küste und Meer senkt, — dann hört der einsame Fischer am
Strande drei Schläge an seiner Thür. Sie erfolgen so bestimmt, daß er keinen Augenblick zögert, vor die Thür zu treten. Wer hätte auch das Herz, einem solchen Rufe nicht zu folgen? Auf den Wogen schaukelt seine leichte Barke, die eine Kette an das sichere Ufer bindet. Der Fischer steigt hinein und greift zu den Rudern. Und nun fährt er durch die Finsternis. Sein Schiff ist schwer beladen, tief sinkt es ein, aber ruhig zieht es seine Bahn auf den trauten Wogen durch das Dunkel der Nacht. Der Fischer hört das leise Geflüster derer, die nicht mehr sind. Auf einmal wird es still und die Barke leichter. Im Nebelschleier ist eine Insel aufge- taucht, wundersam leuchtend und glänzend: das Eiland der Seligen. Die harrenden Seelen derer, die man am Strande in die Erde gebettet hat. ob müder Pilger des heimatlichen Ufers, oder verunglückte Fremdlinge, die einst die Wellen mitleidig an das Land spülten, die hat der Fischer übers Meer geführt und gesehen, wie sie. mit weißen Leichentüchern angethan, zur seligen Ruhe cingingen. Und still gleitet sein Schiff wieder heimwärts.
Bei der großen Hitze des verflossenen Sommers haben findige Amerikaner die kleinen, durch Elektromotoren betriebenen Ventilatoren, welche dort im allgemeinen im Gebrauch sind, zu Roulettes umgestaltet. Man hat, wie das Berliner Patent-Bureau Gerson u. Sachse schreibt, auf die Flügel dieser Ventilatoren Zahlen geklebt und, nachdem auf einer entsprechenden Zahlentafel Einsätze gemacht worden, den elektrischen Strom plötzlich ausgeschaltet. Diejenige Ziffer, welche die höchste Stellung hatte, erhielt dann den Gewinn. So verbindet sich das Nützliche mit dem Angenehmen.
Die „reitende Artilleriekaserne," der „lederne Handschuhmacher", der „klein gehauene Holzhändler" und der „gebackene Pflaumenverkäufer" haben ein Seitenstück bekommen. In einer Berliner Zeitung wird unter der Rubrik „Verlangt" jetzt eine „wattierte Räder-Arbeiterin" gesucht.
(Mißverständnis.) Portier (im Hotel): „Darf ich zur Ausfüllung der Fremdenliste wohl um ihren Namen und Charakter bitten?" — Fremder: „Ich heeße Gottlieb Schulze und von Charakter bin ich Sie e bissel hitzig aber ooch gleich wieder gut."
(Dringlicher Antrag) Dame: Ihr Heiratsantrag überrascht und beglückt mich zugleich, doch gönnen Sie mir noch 48 Stunden Bedenkzeit. — Freier: Das ist sehr lange, bis dahin könnte ich mir selbst die Sache anders überlegen.
(Leider nein.) „Sie reisen so allein, Ber- ehrliche ... ist Ihnen noch niemals etwas zugestoßen?" — „Leider nein!"
Selbst ist der Maim.
Wenn weiten, weiten Weg man geht Nach einem fernen Ziele,
Und oftmals unentschlossen steht,
Dann fragt man ja wohl viele:
„Ist dies der rechte Weg dahin?"
Und nennt den Ort, nach dem der Sinn War Halb und halb gerichtet.
Und mancher weist dann jenen Pfad,
Ein andrer diese Wege,
Ern dritter weiß noch andern Rat,
Ein vierter bess're Stege;
Je mehr man fragt, je mehr man wird Wohl in der Irre umgeführt Und kann das Ziel nicht finden.
So geht man auch durch's Leben hin Und fragt stets nach dem Glücke,
Und jeder will nach seinem Sinn Uns dazu bau'n die Brücke;
Doch keiner trifft das rechte dann,
Denn jeder weist uns andres an,
Als was wir wollen finden.
Selbst ist der Mann! Drum sucht die Spur Zu seines Glückes Quelle,
Er nie auf einer fremden Flur,
Stets nur in eig'ner Seele! —
Wer selbst nie recht weiß, was er will,
Den kann auch unsrer Rat zum Ziel Das Glück er nennt, nie führen.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.