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Kriegschronik 1870/71.
3. September 187«.
Berlin. Berlin feiert einen Siegesmorgen, wie es noch keinen gesehen. Es herrscht ein unbeschreiblicher Enthusiasmus. Tausende durchwogen die Straßen. Vor dem Königspalais ungeheure Menschenmassen, die dem Könige, der Königin, der Armee Vivats rufen. Die Königin erscheint, wiederholt dankend, auf dem Balkon. Das Friedrichs-Denkmal wird von der Schuljugend beflaggt. Das Volk durchzieht die Straßen, die National-Hymne und die „Wacht am Rhein" singend, auch läßt es vor Bismarcks, Roons und Moltkes Hause Lieder erschallen. Von den entfernten Stadtteilen wogen Menschenmassen nach den Linden. Die Geschäfte feiern fast alle nn Siegesjubel.
Aus Stadt. Bezirk und Umgebung.
Neuenbürg, 3. Sept. Die Jubelfeier des Tags von Sedan, oder die Nationalfeier des 2. September, als welche sie sich durch den Willen des Volkes gestaltet hat. wurde auch hier, alter schöner Sitte gemäs, unter voller fest- licher Teilnahme programmgemäß begangen und nahm, begünstigt durch achtes Hohenzollern- Wetter, einen in allen Teilen würdigen und ge- lungenen Verlauf. Schon am Samstag begannen sich die Häuser mit Fahnen in den Farben des deutschen Reichs und unseres Schwabenlands zu schmücken, außerdem ließen es sich manche Hausund Ladenbesitzer nicht nehmen, durch Guirlanden aus Tannenreis, wie durch sonstigen Schmuck zum festlichen Putz beizutragen. Um 8 Uhr abends bot sich der Einwohnerschaft das hier seltene Beispiel eines Feuerwerks. Dasselbe von Hrn. Arthur Schmidt arrangiert, bestand vorzugsweise aus verschiedenen Raketen, welche in weiten Bogen von der Anhöhe herab gegen die Thalstraße ihr strahlendes Licht schleuderten.
Der kommende Sonntag Morgen wurde durch Choralmusik vom Stadtkirchenturm und durch mächtig dröhnende Böllerschüsse eingeleitet. Von 9 Uhr ab sammelten sich die Vereine in ihren Lokalen, um sodann vor dem Rathaus zur Teilnahme an dem Zug zum Festgottes- dienst Aufstellung zu nehmen. Um 10 Uhr bewegte sich der stattliche Festzug von da zum Schloß. Auf dem zwischen dem Schlosse und der Schloßruine sich ausbreitenden, idyllisch gelegenen Gärten war von Hrn. Graf v. Uxkull Anordnung für die Ausstellung der Vereine und Teilnehmer an dem Festgottesdienst getroffen, eine Kanzel war zwischen zwei Bäumen errichtet und mit Tannengrün und Zweigen der Eberesche ausgejchmückt. Vor derselben hatten unsere Veteranen und der Militärverein ihren Platz. Hier in dieser reizenden Umgebung, unter wolkenlosem Himmel, hielt Stadtpfarrverweser Löbich die Festpredigt, welcher er den Text: Psalm 46, Vers 9—12 zu Grunde legte. Nach der einleitenden Ansprache und dem Gebet wurde der erhebende Choral „Nun danket alle Gott" unter Musikbegleitung gesungen. In gehaltvollen, packenden Worten führte sodann der Geistliche die wunderbare Führung Gottes und das weltgeschichtliche Ereignis im Jahre 1870 in seiner ganzen Bedeutung für unser deutsches Volk vor Augen; er erinnerte an die Thatsache, daß der Enkel Napoleons I. dem Sohne der Königin Luise sich ergeben mußte. Wenn wir jetzt nach 25 Jahren um uns blicken, so sehen wir so viel von dem verwischt, was unser deutsches Volk damals erfüllte, an Stelle der Einigkeit soviel Parleihader und Unzufriedenheit. Es sei Zeit, daß wir Einkehr halten. Die eindringliche Mahnung machte auf all die zahlreichen Gemeindeglieder sichtlich den tiessten Eindruck, wie überhaupt der Gottesdienst, der hier in Gottes freier Natur zum Gedächtnis des Tags von Sedan gehalten, allen Teilnehmern in denkwürdiger Erinnerung bleiben wird. An der Pforte des zum Garten führenden Zwinger war folgende sinnige Begrüßung angebracht:
Ihr, Männer d es Kriegs Euer Mut hat erreicht Was dem Krieger das Höchste „Den ruhmvollen Frieden";
Und Ihr, Männer des Friedens Ihr Alle seid herzlich gegrüßt Laß't nun zusammen uns danken Dem Herren des Kriegs- und des Friedens Der den Sieg uns gegeben.
In die Stadt zurückgekommen, brachte die Feuerwehrkapelle einige Musikstücke zum Vortrag, ,
gleichzeitig fand sich eine zahlreiche Gesellschaft im „Bären" zum Frühschoppen zusammen. Auf abends 6 Uhr war das Festessen zu Ehren der Veteranen im Gasthof zur „Alten Post" an- gcsetzt. Waren schon vor der bestimmten Zeit viele Teilnehmer da. so war es später Kommen- den kaum mehr möglich ein Plätzchen in den weiten Räumen zu finden. An Gedecken waren es mehr wie hundert und die Zahl der nachher vollends beim Bankett Anwesenden wird wohl 250 erreicht haben. Als Redner erhob sich zuerst Stadlschultheiß Stirn, um die so zahlreich ver- trctenen Mitbürger zu begrüßen und unter Hinweis auf die Errungenschaften der Kriegsjahre 1870/71 unseren Veteranen für ihre Mitwirkung den herzlichsten Dank auszusprechen und ein dreifaches Hoch auf dieselben auszubringen. Der Vorstand des Kriegervereins, Aug. Bl eher, erwiderte darauf herzlich dankend. Sein Hoch galt der Stadt und ihrer Einwohnerschaft. Verwalter Loos, „der als Veterane den Worten des Vorredners nichts hinzuzusügen hat", feierte hierauf unsern Kaiser Wilhelm und unser» König Wilhelm als Friedcnsfürsten und brachte ein begeistert aufgenommenes Hoch auf dieselben aus.
Nach dem einfachen, aber guten und reichlichen Mahle, nachdem sich die Räume des Gasthofs bis auf das letzte Plätzchen gefüllt hatten, hielt zur Eröffnung des Banketts Präzeptor Calmbach die eigentliche Festrede, welche wir auszugsweise hier.folgen lassen: „25 Jahre sind vergangen seit jenen denkwürdigen Siegen, welche in rascher Folge von Weißenburg bis Sedan die Vernichtung oder Einschließung der ganzen französischen Feldarmee und den Sturz des französ. Kaisertums zur Folge hatten. Wie ein Wunder wirkten diese Siege auf jedes deutsche Herz. Dankgebete und Lobgesänge drangen empor zu Gott dem Allmächtigen für seine unendliche Gnade. Es waren unbeschreibliche Weihestunden für das ganze deutsche Volk schon während des Kriegs, noch mehr aber bei dem er- sehnten Friedensschluß und der Heimkehr unserer braven Truppen. Heute werden jene Thaten und Siege überall in dankbarer Erinnerung gefeiert. wo echte Deutsche leben. Aber doch ein gewaltiger Unterschied. Damals gab es keine Zeitung, die nicht die Begeisterung täglich zu steigern gesucht hätte. Nach langen Kämpfen der Deutschen unter sich endlich das Bewußtsein deutscher Kraft in deutscher Einheit. Es stand bei Fürsten und Bauern, bei Staatsmännern und Soldaten: man wolle kämpfen bis zum letzten Atemzuge oder der gründlichen Unterwerfung des Friedensstörers. Alle andern Interessen traten zurück, die Gegensätze der Parteien und Konfessionen erblaßten. Es war, als wären vor dem mächtig emporsteigenden Bilde des Vaterlandes die Menschen besser und reiner geworden. So damals. Aber heute fast die gleiche Unzufriedenheit und Programmlosigkeit, "religiöse Unverträglichkeit, wie vor jener Zeit. Ja, noch mehr. Eine ganze breite Schichte der Bevölkerung hat den Kampf ausgenommen gegen die bestehende Ordnung der menschlichen Gesellschaft und erkennt in den schmählichsten Erzeugnissen ihrer Presse dem deutschen Volk die Berechtigung ab, sich seiner Siege und damit seiner Existenz und der Existenz des deutschen Reichs zu freuen; es ist die unheimliche Gesellschaft der varer- landslosen Sozialdemokratie. Aber auch durch unsere Schuld ist manches schlimmer geworden, als damals. Frage sich jeder ernstlich: was habe ich in jener großen Zeit alles meinem Gott und meinem Baterlande geschworen und habe es — nicht gehalten! Der heutige Tag ein Tag der Einkehr und der Betrachtung, wie und durch welche Opfer jene große Zeit möglich geworden ist. — Völker, sie leben von Idealen, von Träumen ihrer Macht und Herrschaft. Auch das deutsche Volk lebte von einem solchen Traum; dieser Traum war ein mächtiges, großes, deutsches Reich im Herzen von Europa, wie zu den Zeiten der großen Hohenstaufen. Die Erfüllung dreses Traumes zwar lange schon ersehnt, aber erst möglich unter der Führung eines rein deutschen Staates, nämlich Preußen. In weiser Mäßigung der Erfolge von 1866 Schaffung des norddeutschen Bundes mit dem norddeutschen Reichstag. Friedensschlüsse mit den Südstaaten
I und wegen der Forderung Napoleons nach einer ' „Grenzberichtigung" Schutz- und Trutzbündnis zur gemeinsamen Abwehr. Deutsches Zollparla- ment. In demselben die Behandlung der „Deutschen Frage" zwar zu meiden gesucht, doch wiederholte, lebhafte Auseinandersetzungen der sich gegenüberstehenden Parteien. Die feudalen Konservativen des Nordens mit der „Süd- fraktion" und ihren ultramontanen und sozialdemokratischen Helfern gegen einen engeren Anschluß. Mildes Entgegenkommen Bismarcks: in gemeinsamer Arbeit sollte der Einheitsgedanke reifen. Moltkes prophetische Worte vom 15. Juni 1868: Deutschland als Frieden gebietende Macht in seiner Einheit! Bon 1867—1870 doch große Fortschritte des Einigkeitsgedankens. Dafür ein Beweis die königlichen Dankesworte an den Reichstag vom 26 Mai 1870. Wenige Wochen darauf dasselbe königl. Haupt in Ems die Zielscheibe herausfordernder Beleidigungen des Benedetti. Das ganze deutsche Volk erhebt sich wie ein Mann gegen solchen Schimpf. Allgemeines Vertrauen in die preußische Heeresleitung. Die Einigung eigentlich schon zu Beginn des Krieges erreicht; die Blutstaufe dieser Einigung in schweren gemeinsamen Kämpfen und großen Siegen unter genialen Feldherrn vollzogen. Gründung des deutschen Kaisertums noch während des heiligen Kriegs, in Feindesland; in Versailles, dem Schlosse des großen Ludwig, Krönung Kaiser Wilhelms des Großen, Milden, Siegreichen. Herrliche Zeit, jene gewaltige Zeit! In ihrem Anschauen laßt uns wieder und immer wieder und zumal heute neue Kräfte sammeln, daß es wieder besser werde bei uns, wie damals, allenthalben! daß wir unser Vaterland groß und größer machen, so groß und weit, als der Dichter singt:
So weit die deutsche Zunge klingt,
Und Gott im Himmel Lieder singt,
- Das soll es sein! Das ganze Deutschland soll es sein!
Ja, Streben, wie bei andern Nationen, nach einer Zusammenfassung aller deutschen Stämme im Herzen von Europa. Das muß unser Ideal, das unser politisches Programm sein. Dieses Deutschland dann auch stark genug, durch seine starke Rüstung jeden Krieg seiner Nachbarn zum furchtbaren Wagnis zu machen und Europa die Segnungen langer Friedensjahre zu bringen. Wenn wir das heute geloben, dann werden wir erst recht würdig sein der Krieger, die gefallen sind und all der übrigen Mitkämpfer des großen Kriegs und Gründer des deutschen Reichs, dann auch kein Bangen für die Zukunft unseres Volkes trotz schwarzer Gewitterwolken. Denn, wie 1870, werden bei etwaigem inneren oder äußeren Angriffe die gewaltigen Kräfte aus den Tiefen unseres Volkes sich wieder regen und den Frevler. niederschmettern. Treues Gelöbnis den Worten des Dichters:
„Nimmer soll, das ihr vergossen,
Euer Blut umsonst geflossen,
Nimmer solls vergessen sein!"
Auf dieses Reich, nicht gegründet durch Worte und Kongresse, sondern gefestet und gefeit durch Blut und Eisen unserer Kameraden, laßt uns die Gläser leeren!
Der Turner-Gesangverein, welcher mit dem Vortrag mehrerer patriotischer Lieder zur Fest- begeisterung beitrug, sang hierauf in passender Folge das Germania-Lied. Auch der neugegründete Männerchor des Militärvereins trug in den Pausen einige Lieder vor. Als weiterer Redner erinnerte Meister Kade an die Zeit vor 1870 in unserem engeren Vaterlande und speziell an damalige Festlichkeiten anläßlich des Regierungsjubiläums König Wilhelms. Die Errungenschaften von 1870 haben wir nebst Gott unseren wackeren Veteranen zu verdanken. Daß die Begeisterung abgenommen, sei leider eine Thatsache. Sollen wir den Kriegern nicht mehr danken, den Tag von Sedan nicht mehr feiern dürfen!? Nein, wir wollen uns dies nicht verkümmern lassen. Wir wollen freudig unsere Gläser leeren auf das fernere Wohl Deutschlands und auf das Wohl unserer deutschen noch lebenden Krieger; mögen sie sich noch manche Jahre der Gesundheit erfreuen dürfen bis sie einst zur großen Armee einberufen werden. — Es erhob sich darauf Stadtvikar Löbich, um die nicht zu