einer öffentlichen Gerichtsverhandlung gemacht, zu der sich Hunderte von Neugierigen drangen, welche die Zeitungen durch das ganze Land tragen. Es ist, als führe man uns in die Arena, um uns unter Beifallsjauchzen der Menge reißenden Tieren vorzuwerfen "
„Mut, gnädige Frau, Mut!" tröstete er. „Noch ist es nicht so weit, und kommt es dahin, soll Treuenfeld nicht allein stehen."
„Wer wird an seiner Seite sein?"
„Ich, sein Verteidiger."
„Sie glauben ja nicht an ihn: dünken Sie sich nicht zu gut, ein Klopffechterstückchen aufzuführen?" fragte sie bitter.
„Ich glaube an ihn, weil ich an Sie glaube, gnädige Frau", versetzte Wecker feierlich. „Reichen Sie mir die Hand, als Zeichen der Versöhnung. Ich schwöre Ihnen, daß ich alles, alles thun will, um ihn zu retten.
„Sie glauben an uns!" rief sie aufatmend, „o, mein Gott, mein Gott, ich danke Dir! Wenigstens ein Mensch, von so vielen einer! Lasten Sie uns sinnen, überlegen," fuhr sie fort, „was kann man noch thun? Wohm soll ich gehen? Verfügen Sie über mich, sparen Sie nichts; ich bin ja reich!"
„Es giebt nur ein Mittel, Treuenfeld's Unschuld zu erweisen," sagte der Rechtsanwalt traurig, „wenn man den wahren Schuldigen fände."
„Man muß ihn finden und man hätte ihn schon gefunden, wenn man ordentlich gesucht hätte!" rief sie eifrig
„Es sind Nachforschungen angestellt worden," begütigte Wecker sie.
„Dem Scheine nach, aber nicht mit Nachdruck. Man sucht nach dem Rotbärtigen wie nach einem Schemen, an dessen Existenz man nicht glaubt."
„Und leider gleicht er einem Schemen. Sie und Treuenfeld wissen ihn nicht anders zu beschreiben, als daß er eine grüne Joppe und einen grauen Hut getragen, blondes Haar und einen roten Bart gehabt habe. Der Schaffner giebr das gleiche Signalement des Reisenden, kann man darnach auf einen Menschen fahnden? Zieht er die Joppe aus, und nimmt er statt des grauen Hutes einen schwarzen, was bleibt als blondes Haar und ein roter Bart? Das sind Dinge, die im deutschen Reiche nicht selten sind."
Ich habe den Menschen nur einen Augenblick gesehen und wollte ihn doch unter tausenden erkennen! Lassen Sie mich nach ihm suchen!" rief Erna aufspringend, als ob sie die Fahrt sogleich beginnen wollte.
„Wo gnädige Frau, wo? Und wenn Sie ihn selbst fänden, womit wollten Sie beweisen, daß nicht eine flüchtige Aehnlichkeit sie täusche? Wodurch ihn überführen, daß er das Verbrechen begangen hat?"
„Haben wir nicht einen Beweis gegen ihn in den Händen?"
„Sie meinen den elfenbeinernen Totenschädel; es müßte erst nachgewiesen werden, daß er in seinem Besitz gewesen ist."
„Er trägt die Initialen des Mörders: T. G.!" rief sie.
„T. G.", wiederholte er traurig; „wissen Sie, wie man diese Buchstaben auslegt?"
Sie blickte ihn erwartungsvoll an.
„Treuenfeld u. Göldner", sagte er leise; „man glaubt, Benno Treuenfeld habe den Schädel getragen als ein Newento an den Zusammenbruch dieses Hauses."
„O, das ist grausam, das ist nichtswürdig!" rief sie, die Hände vor das Gesicht schlagend, „wird denn alles zur Waffe gegen den Wehrlosen geschmiedet?"
Sie setzte sich nieder, stützte den Kopf in die Hand und versank in tiefes Nachdenken. Wecker verhielt sich still und wagte nicht, sie zu stören.
Wenn Six als Verteidiger verlangen, daß man Ihnen das Berloque für kurze Zeit überließe, könnte man Ihnen das verweigern", fragte sie plötzlich.
„Ich glaube kaum, besonders da man diesem Beweisstücke gar keine so große Bedeutung beilegt; aber was wollen Sie damit?"
„Ich will es in meinen Händen halten; ich will es mit meinen eigenen Augen untersuchen!" war die Antwort. „Nennen Sie es Thorheit, nennen Sie cs Einbildung, ich nenne es Ahnung oder höhere Eingebung, was mir sagt, in dem Schädel ist etwas verborgen, was uns den Mörder in die Hände liefert; aber ich allein vermag es zu entdecken."
Wecker schüttelte zweifelnd den Kopf; sie bat aber so eindringlich, daß er versprach, den Versuch zu machen, und nun ließ sie ihm auch keine Ruhe, er mußte unverzüglich die erforderlichen Schritte thun.
„Wir dürfen keine Minute verlieren", bat sie, „denken Sie, daß Benno im Gefängnis schmachtet, und daß der Tag der Schwurgerichtsverhandlung immer näher rückt."
Rechtsanwalt Wecker stieß auf weniger Schwierigkeiten, das kleine Berloque ausgeantwortet zu erhalten. als er vorausgesetzt hatte. Benno Treuenfeld's Schuld war so sonnenklar bewiesen, seine Verteidigung so unmöglich, daß man dem Rechtsgelehrten, der die undankbare Aufgabe übernahm, wohl eine kleine Chance gönnen konnte. Triumphierend brachte er das Stück Elfenbein zu der ungeduldig harrenden Erna.
Sie nahm den Schädel m die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten, schob u. drückte daran, in der Hoffnung eine Feder zu finden; die ihn vielleicht öffnete. Vergeblich, sie mußte sich überzeugen, daß das Elfenbein nur eine dichte, glatte Fläche war.
„Nichts! nichts!" seufzte sie, nichts als die Buchstaben T. G.; wenn ihr reden könntet!" Ihr Auge heftete sich fest und fester auf die Buchstaben, es war. als bohre es sich darin ein, als wolle sie jede Linie des roten Untergrundes studieren. Mit einem Aufschrei wandte sie sich zu Wecker herum.
„Was haben Sie?"
„Der Schädel redet doch!" rief sie bebend. „Sehen Sie diese Linien an, sie sind nur anscheinend kraus und unregelmäßig, sie bilden Buchstaben, Worte."
Der kurzsichtige Rechtsanwalt brachte den Schädel ganz dicht an die Augen und schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich vermag nichts zu erkennen", sagte er.
Auch ich kann mit bloßen Augen die Schrift nicht lesen; aber je mehr ich sie betrachte, um desto genauer sehe ich, daß es Schrift ist!" ent- gegnete Erna und zog mit Heftigkeit die Klingel.
„Gehen Sie zum nächsten Optikus, holen Sie eine Lupe, die beste, die Sie bekommen können," gebot sie dem eintretenden Diener, „schnell, ich warte darauf."
Der Diener eilte hinaus und kehrte nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder; Erna dünkte aber sein Ausbleiben endlos. Mit hastigen Schritten und fliegendem Atem ging sie im Zimmer auf und ab, und als der Bote eintrat, riß sie ihm das kleine Instrument stürmisch aus der Hand und winkte ihm, schnell das Zimmer zu verlassen.
Mehrere Minuten starrte sie auf die vermeintliche Schrift; leise wie ein Kind, das lesen lernt, fing sie an, einzelne Buchstaben hervor- zustoßen; die Buchstaben formten sich zu Silben, die Silben zu Worten, und endlich las sie:
„Lieber schlecht als arm."
Wecker, der sie aufmerksam beobachtet hatte, fuhr auf. „Wo steht das?" fragte er.
„Lieber schlecht als arm", wiederholte er, und „T. G." murmelte er dann, „blondes Haar, einen roten Bart."
„Was haben Sie?" fragte Erna.
„Nichts, noch nichts, gnädige Frau," versetzte er abwehrend; aber Sie haben doch einen guten Fund gemacht; wir wollen ihn benützen, jedoch mit Vorsicht."
„Wir müssen den Verfertiger des Berloques suchen", sagte die junge Frau, „nur ein geschickter Mann kann den Schädel ausgeführt haben, es wird deren nicht allzuviel in Deutschland geben. Er wird, er muß zu finden sein; erlassen wir einen Aufruf durch alle Zeitungen» setzen wir eine Belohnung aus —"
„Und warnen wir den Mörder, daß wir
auf seiner Spur sind", fiel der Rechtsanwalt in's Wort.
Erna senkte traurig das Haupt. „Sie haben Recht", seufzte sie; „aber wie sollen wir ihn finden?"
„Betrachten wir den Schädel nochmals", ermunterte sie Wecker, „vielleicht verkündet er noch mehr, ich bin aus einem Saulus ein Paulus geworden und habe unbedingten Glauben an seine Zauberkraft."
Mit einem trüben Lächeln nahm Erna den Schädel von neuem wieder unter die Lupe. Lange forschte sie vergebens, plötzlich fuhr sie auf. „Der Schädel spricht „Sie haben recht!" rief sie.
„Was — was verkündet er?" fragte er atemlos vor Spannung.
„Hier ganz unten in Buchstaben, die selbst unter der Lupe nicht viel größer als Stecknadelköpfe sind, steht C. B. Berlin."
„Heureka!" rief Wecker mit einem Freudensprünge. „Die Anfangsbuchstaben des Verfertigers und sein Wohnort, — jetzt, jetzt sind wir auf der Spur. Ich werde noch heute nach Berlin abreisen."
„Und ich begleite Sie", erklärte Erna, fest entschlossen. „Dort nur kann ich etwas thun; was nützt es, wenn ich hier müßig sitze, da man mir doch nicht gestattet, Benno zu sehen und ihm den Trost zu bringen, daß ich an ihn glaube."
„Er weiß es und soll wissen, was Sie für ihn thun. Ich gehe sogleich zu ihm."
„Machen Sie ihm keine Hoffnung; es wäre zu furchtbar, wenn sie getäuscht würde," bat die junge Frau schon wieder zaghaft.
„Er soll nur das erfahren", versicherte Wecker, „was ihm zu wissen notwendig ist."
Er entfernte sich eilig und begab sich nach dem Gefängnis, wo er eine lange Unterredung mit seinem Klienten hatte. Sehr nachdenklich verließ er ihn und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin:
„Sollte er wirklich so tief gesunken sein? Er befand sich freilich auf abschüssiger Bahn."
Wenige Stunden darauf reiste der Rechtsanwalt Wecker von G ... ab und Erna folgte ihm noch an demselben Tage. Es vergingen Wochen, ohne daß man in G . .. wieder etwas von ihr hörte. Auch in Rehfelve wußte man nicht, wo sie geblieben sei; Frau Göldner war in Verzweiflung. Dorothea triumphierte und der Tag der öffentlichen Gerichtsverhandlung rückte näher.
Benno Treuenfeld schien von allen verlassen; auch die, welche bisher zu ihm gehalten, hatten sich von ihm gewendet.
Es mangelte nicht an Leuten, welche die plötzliche Abreise der Frau v. Rehfeld auf diese Weise deuteten, während andere sich nicht ent- blödeten, zu behaupten, sie habe sich einer auch ihr drohenden Verhaftung durch die Flucht entzogen. Die Gerüchte erhielten noch mehr Nahrung dadurch, daß Niemand wußte, wohin die junge Frau sich gewendet hatte. Selbst Frau Göldner war darüber in Unwissenheit und erging sich in den abenteuerlichsten Befürchtungen und Vermutungen.
(Fortsetzung folgt.)
Telegramme.
Paris, 29. Mai. Der untergegangene Dampfer Don Pedro vertieß Havre am 20. ds. Mts. mit 54 L-chiffsleuten und 76 in Havre und Bordeaux rc. aufgenommenen Passagieren, darunter befanden sich zahlreiche Italiener, aus Deutschland der Sljähr. Kaufmann Karl Deusch, ferner Gustav Braun und die 25jährige Luise Wahl, weiter die Schweizer Landwirte Otto Kaut, Fritz Wyß, Fritz Schneider, Anton und Luise Kung. Der Don Pedro war ein Eisendampfer von 2999 Tonnen. Er soll nach Montevideo gehen.
Madrid, 29. Mai. Durch die Explosion auf dem Dampfer Don Pedro sind 103 Personen umgekommen, 38 wurden gerettet. DaS Kanonenboot Mac Mahon ist zu Hilfe gekommen.
Lissabon, 29. Mai Auf einem Dampfer, der bei hiesigen Hafenbauten beschäftigt ist, explodierte der Kessel. 6 Arbeiter wurden getötet.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.