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Ucber den Mehrheitsbschluß des Reichstags vom 23. März wollen wir am heutigen 1. April, dem Geburtstage unseres Alt- Reichskanzlers, eine Schweizer Stimme hören lassen. Die „Basler Nachr.« schreiben über diesen Beschluß:
Man darf sagen, daß die gesamte freisinnige, auch die konservative Schweiz, soweit sie nicht der ultramontanen Richtung huldigt, von dem Beschluß des deutschen Reichstags, dem Fürsten Bismarck einen Glückwunsch zu seinem achtzigsten Geburtstag zu versagen, auf das peinlichste berührt worden ist. Man fragt sich verduzt, was das zu bedeuten habe. Wir Republikaner sind nämlich gewohnt, einer stark ausgeprägten großen Persönlichkeit, auch wenn sie im feindlichen Lager steht, mit Achtung zu begegnen, und es ist für uns ganz undenkbar, ihr gegenüber bei einer feierlichen Gelegenheit einen Höflichkeitsakt nicht auszuführen, zu dem ein großer Teil der Bevölkerung sich rüstet und zu dem wir direkt aufgefordert werden. Ein Nein betrachten wir als eine unverznliche Kränkung, die uns geradezu unverständlich wird, wenn sie gegen einen Mann von der historischen Po- sition eines Bismarck verübt wird, dessen unsterbliche Verdienste um die Gründung des neuen Reiches die Vorwürfe, welche die eine oder andere Partei gegen seine sonstige Politik zu erheben vermag, bei der Feier des achtzigsten Geburtstages völlig in den Hintergund drängen sollten. Das Deutsche Reich, das er aus dem Jammer der Kleinstaaterei zu einem der mächtigsten Staaten der Welk erhoben, wird foribestehen — davon sollte wenigstens jeder gute Deutsche überzeugt sein; das aber, was er gegen die eine oder andere Partei in der inneren Polikik gesündigt, das wird nicht fort- bestehen, wenn es unhaltbar ist. und das mögen die Parteien je nach den Bedürfnissen der Zeit ändern So sagt bei uns zu Lande der ruhige, unbeeinflußte Beurteiler der deutschen Dinge und er kann die Urteilslosigkeit und politische Unklugheit derjenigen nicht begreifen, die nicht Macht genug über sich haben, um in einem historischen Augenblick das Große von dem Geringen zu unterscheiden und sich mit der leeren Phrase auszureden versuchen, man könne Bismarck nicht teilen. Das braucht niemand zu thun. Nehmt ihn in seiner Totalität und ihr müßt empfinden, daß seine Verdienste um dasGanze so großsind, daß nur ein kindischer Trotz sich bei seinen Mängeln aufzuhalten vermag.
Württemberg.
Stuttgart, 29. März. Eingabe an die Kammer der Abgeordneten Professor Dr. G. Jäger richtet im Einvernehmen mit dem Verein für GesundheitSpsl ae von Heilbronn und anderen GesinnungSgenoff n an die Kammer der Abgeordneten diMBiite, dieselbe möge die Regierung etwa bei Gelegenheit der Etatsberatung auffv'dern. daß Geeignete zu veranlassen, daß an sämtlichen unter R gierungsaufsicht stehenden Schulen durch ausdrückliches Verbot der Gebrauch, den Schülern Hausaufgaben zu stellen, in jeglicher Form, auch in der der Strafauf gaben, vollständig abgefchaff werde. Der Bitte ist eine ausführliche Begründung beigefügt.
Ausland.
Shimon o seki, 20. März. Der Waffenstand ist definitiv vereinbart und zwar für die Zeit von drei Wochen mit Geltung von Mukden. den Petschili Golf und die Halbinsel Schantung. Japan hat den Waffenstillstand bedingungslos zugestanden.
Anterhattender Keil.
Die Brüder.
Eine Erzählung aus Island von A. v. Hahn.
(Fortsetzung.)
Er wollte das Gräßliche, das feucht rieselnd an seinem Rücken emporstieg, abschülteln, die Versuchung schaudernd von sich weisen, die gierig nach seinem Herzen tastete — Plötzlich aber hatte sie es mit Geierkrallen gepackt und
hielt es fest, eisern fest, und unter einem dumpfen Aechzen erstarb alles Uebrige, was in seiner Brust gewohnt.
„Wenn er nicht wäre, würde Hilder die Deine.« zischte ihm die Verführung eine entsetzliche Offenbarung ins Ohr, „könnte sie nicht die Seine werden!«
Und da flammte ihm ein wildes Verlangen durch die Adern, da er keuchend aufschreien mußte: „Mein soll sie sein — nicht ihm — nicht ihm gehören!«
Blutrot flackerte es vor seinen Augen, als er sich über den Abgrund beugte und im letzten Todesringen mit seinem Gewissen zischend hin- unterstöhnte: „Laß sie mir, laß sie mir!«
Aechzend klammerte er sich an den Felsen, neigte den Oberkörper über den Abgrund und rief's, da jener ihn nicht gehört, noch einmal mit lauter, unartikulierter Stimme hinab: „Sie ist mein, ich lasse sie nicht, Du darfst sie mir nicht entreißen oder — ich stürze Dich in den Abgrund!«
„Rufst Du mich?« tönte Björns Stimme hell zurück. „Ich bin gleich fertig."
„Björn!« schrie Arni in blinder Raserei, heiser vor Aufregung hinunter, „schwöre mir, von ihr zu lassen! Du bist in meiner Gewalt, ich lasse Dich sterben, wenn Du mir nicht schwörst!"
„Was sagst Du? Was willst Du? Ich verstehe Dich nicht,« rief Björn ungeduldig zurück. „Ziehe den Strick hoch, ich bin fertig!«
„Du bleibst!« ries jetzt Arni mit rasch zusammengeholter Fassung, in finsterem Entschluß hinunter. „Schwöre mir erst, von Hilder zu lassen, die ich liebe. Mein muß sie werden, ich kann sie nicht in Deinen Armen wissen —«
„Ziehe mich erst hoch." schrie Björn, „dann wollen wir weiter reden."
„Erst schwöre, sonst bist Du des Todes. Ich zerschneide den Strick — schwöre!«
„Ziehe mich hoch!« schrie Börn nochmals verzweifelt
„Schwöre!« stöhnte Arni dumpf, von Auf- regung erstickt. „Schwöre!« zwang er sich's in gellendem Gewimmer hinabzurufen und noch einmal stieß er, auf den Knieen liegend, ein heulendes „schwöre", aus. während er das hervorgezogene Messer wie ein Rasender schwang.
Als Jener nicht antwortete, sprang er auf, mit zwei ^schritten stand er vor der Stelle, wo das Tau auf der Felskante austag, — ein kurzes Zögern, — dann eine rasche Bewegung — und dann starrte er mit blutunterlaufenen Augen in blödem Staunen, auf das durchschnittene Ende des Taues, das mit einem kleinen, hüpfenden Satz auf den Felsen zurückgeschnellt war, während aus der Tiefe ein sausendes Pfeifen herauswehte.
Ernüchtert griff er sich an die Stirn.
„Kain, wo ist dein Bruder?« hörte er eine Stimme fragen, während er in stummem Entsetzen auf das Tauende starrte.
„Kain, wo ist dein Bruder?«
Mit einem wilden Aufschrei warf er sich auf's Antlitz, krallte die Finger in den harten Felsboden und brach in gellendes Geheul aus.
Dann sprang er auf und stürzte, wie von Furien gepeitscht, davon.
Tief unten aber, auf einer Klippe, im Abgrund, lehnte ein Mann gegen die Felswand — Björn.
Der rasenden Absicht des Bruders zuvorkommend hatte er den Strick in rascher Geistesgegenwart von seinem Leibe gelöst und sich auf ein kleines Plateau gerettet, in dessen unmittelbare Nähe ihn der glückliche Zufall gebracht. Als Arni seinen gräßlichen Entschluß ausführte, stand er bereits frei auf dem Felsvoriprung und nur der Korb mit seinem Inhalt stürzte in die Tiefe.
In schauderndem Entsetzen hörte Björn ihn, hier und da knisternd anprallend, in den Abgrund sausen.
Wenn er mit ihm zugleich da hinabgestürzt wäre!
Ein jubelndes Dankgcfühl stieg in ihm auf, und ließ ihn für den Augenblick vergessen, wie prekär seine Lage war und wie wenig Veranlassung er trotz seiner Rettung aus augenblick
licher Gefahr hatte, seimem Geschick dankbar zu sein.
Als er zur näheren Erwägung seiner Lage gelangte und die Möglichkeit seiner Rettung in Betracht zog, mußte er sich eingestehen, daß die Erste ebenso verzweifelt war, als eine Letzte ihm kaum ausführbar erschien.
Er stand auf einem Vorsprung von kaum zwei Fuß Tiefe und einer wenig ausgedehnteren Breite.
Unter ihm dehnte sich der Abgrund in steiler Abschüssigkeit, über sich sah er einen nackten, platten Stein und rechts und links starrten ihm schroffe Felszacken entgegen.
Stummes Entsetzen durchrüttelte ihn, als er sich seines grenzenlosen Preisgegebensjeins bewußt wurde. Verzweifelt rang er die Hände.
Wenn ein gütiger Zufall nicht sofort Hülfe sandte, war er verloren.
Welch ein Zufall mußte dies aber sein und durch welch günstige Umstände mußte dieser unterstützt werden, wen» er ihm Rettung bringen sollte!
Wenn Arni wirklich sofort nach Hause eilte und man auf seine Kunde, der Strick sei zerrissen, durch diese Ausflucht würde er sein Verbrechen zu bemänteln wissen, hierher eilte, um seine verstümmelten Gebeine von der Unglücks» stelle heraufzuholen, würde der niedersteigende Retter ihm die helfende Hand reichen können? Und wenn dieser hier herabtauchende Arni war und er ihn mit grausamer Hand aus seinem Asyl hinunter in den Abgrund stieß?
Schaudernd blickte er in die grausige Tiefe unter sich. Dann barg er dos todesblasse Antlitz in den Hände» und ließ die einzelnen Stadien seines bevorstehenden Martyriums in grausamer Selbstqual an sich vorüberzuhen.
Sein Absturz über den schroffen Abhang schien ihm jetzt um so gewisser, als er sich bekennen mußte, daß er eine Hülseleistung von anderer Hand vor dem Anbruch des nächsten Morgens nicht erwarten dürfe.
Schon neigte sich die Sonne. Ehe Arni die Kunde heimgetragen, ehe man die notwendigsten Vorbereitungen für seine Einholung getroffen haben konnte, vorausgesetzt, daß man sich entschloß, sofort an die Bergung seiner Gebeine zu gehen, denn die Möglichkeit, ihn noch lebend anzutreffen, würde Niemand in Betracht ziehen, wurde es Nacht
In qualvoller Verzweiflung sah er der Aussicht in's Auge, eine lange, todeslange Nacht auf diesem Felsen zuzubringen.
(Fortsetzung folgt.)
Telegramme.
Friedrichsruh, 3l März. Fürst Bismarck hatte eine gute Nacht; er fühlt sich wohl. Die telegraphitchen- und brieflichen Gratulationen wachsen ins Unermeßliche. Morgen früh empfängt der Fürst die Deputation seines Kürassierregiments; ihr folgen Abordnungen von Professoren der Hamburger Lehranstalten, wie verlautet, sollen morgen Vormittag auch die Oifiziere des Gardejägerregiments zur Beglückwünschung empfangen werden.
Rüdesheim, 31. März. Die Bismarck- feier am Nattonaldenkmal auf dem Niederwald ist heute bei prachtvollem Wetter auf das glänzendste verlaufen; dieselbe begann mit einem Hoch auf den Kaiier, alsdann hielt Professor Onken (Gießen) eine begeistert aufgenommene F strebe aus den Fürsten, welche in einem Hoch auf den 80jährigen gipfelte, dann verlas Landrar Wagner-Rüdesheim Telegramme, welche soiort an den Kaiser und den Fürsten Bismarck avgesandt wurden. Heule Nachmittag 2 Uhr fand ein Festessen statt, welchem heute Abend eine Illumination folgte. Ueberall ist beflaggt, auf dem Rhein herrscht reges Leben und Treiben.
Sa lach, 31 März. Heute Nachmittag '/-4 Uhr brach in der hies. Kammgarnspinnerei von Schachenmayer, Monn u. Cie. Feuer aus, das so rasch um sich griff, daß bald der ganze ausgedehnte Bau in Flammen stand und völlig niederbrannte.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.