Reichstagsbau einmal zerfallen und das Gestein verwittert sein wird, so würden die künftigen Herren Altertumsforscher, auch wenn von dem WorteReich" nur noch dasR" zu erkennen wäre, doch mit Leichtigkeit die richtige Inschrift wieder herzustellen vermögen, nach der alten philologischen Regel, von zwei verschiedenen Lesarten die u n wahrscheinlichere als die richtige anzunehmen. Man gebe dem Gebäude doch den Nomen:Deutscher Reichstag". Aber einer einfachen Inschrift will man ja eben, wie es scheint, offenbar aus dem Wege gehen. Der Reichstag hat dem deutschen Volke schon manches Rätsel aufgegcben; warum sollte man das nicht auch einmal mit ihm selbst thun?

Württemberg.

Stuttgart. 24. Jan. Se. Maj. der König begiebt am Samstag 26. Jan. mit dem Schnellzuge 9 Uhr 47 Vorm, über Ritschen­hausen nach Berlin zur Feier des kaiserlichen Gebutstages und kehrt am Montag 28. Januar abends 9 Uhr 22 hiehcr zurück.

Obgleich der Wahltermin für die württb. Landtagswahlen nunmehr fast unmittelbar vor der Thüre steht, bringt fast jeder Tag noch irgend eine neue Meldung über neuaufgestellte oder zurückgetretene Kandidaten. Im Bezirk Oberndorf hat die Volkspartei den Regierungs­rat a. D. Dieffenbach gegen den Zentrums- kandidaten Eckhardt aufgestellt, in Stuttgart die Deutsche Partei den Rechtsanwalt Dr. Schall, die Konservativen aber haben den Vorstand des Württembergischen Schutzvereins für Handel und Gewerbe. Kaufmann Karl Müller, als ihren Kandidaten proklamiert. In Oehringen scheint der von seiner dortigen Kandidatur zu­rückgetretene bisherige demokratische Abgeordnete Hartmann nun doch wieder kandidieren zu wollen. da er den Haller Boden doch etwas unsicher findet. Im Bezirk Spaichingen ist der bisherige Abgeordnete und als Zentrumskandidat wieder aufgestellte Rechnungsrat Bühler von seiner Mandatsbewerbung zurückgetreten, nach­dem er offenbar wahrgenommen hat, daß für ihn ein Durchfall sicher wäre, nicht des Zentrums­programms sondern seiner eigenen Person wegen. Infolgedessen wurde Herr Hagen zum Wald­horn in Spaichingen als Zentrums-Kandidat aufgestellt. In Heilbronn-Stadt hak Kaufmann Betz jun. die demokratische Kandidatur zwar abgelehnt, die Volkspartei will aber gleichwohl für ihn stimmen. Der Bezirk Rottweil hat nicht weniger als drei ernste Kandidaten, der soziali­stische Kandidat kommt ja dort nicht in Betracht. Für Heilbronn-Amt kandidiert namens der deutschen Partei Oekonomierat Mayer in Heil­bronn und namens der Volkspartei Fabrikant Münzing daselbst. Letzterer will die angeb­liche Begünstigung Stuttgarts zum Nachteil des platten Landes bekämpfen; damit hat Münzing nur in anderer Form die Kampfesweise von weiland Friedrich Retter in Ellwangen wieder ausgegraben, der Stuttgart als den Schmalz­hafen des Handels zu bezeichnen pflegte.

Heilbronn, 24. Jan. Gestern begab sich eine Abordnung auf's Rathaus, um Ober­bürgermeister Hegelmaier zur Uebernahme einer Kandidatur für den Landtag zu ersuchen. Die Abgesandten betonten, sie glauben im Sinne der Mehrheit der hiesigen Wählerschaft zu handeln, wenn sie dem Stadtvorstand die Bitte vortrügen. Dieser erwiderte, er halte cs für seine Pflicht, sich dem an ihn ergangenen Rufe nicht zu ent- ziehen; er sei vielmehr bereit, dem Wunsche der Einwohnerschaft zu entsprechen.

Stuttgart, 24. Jan. Infolge eines heftigen Schneesturmes konnte gestern nach­mittag der Verkehr auf der Linie Degerloch- Hohenheim nicht völlig aufrecht erhalten bleiben, da der Sturm die Bahn hinter dem Schneepflug sofort wieder zuwehte. Der letzte Zug ab Hohen­heim entgleiste mit 2 Maschinen und 1 Personen- wagen außerhalb Möhringen gegen Degerloch, infolgedessen der letzte Zug Degerloch-Hohenheim nicht ausgeführt werden konnte. Heute Morgen entgleiste die Maschine, die den Schneepflug führte.

Ausland.

Paris, 23. Januar.Libre Parole," Jntransigeant" und ähnliche Blätter melden jetzt ganz offen, daß Frau Casimir-Perier gegen ihren Gatten, den ehemaligen Präsidenten der Republik, die Scheidungsklage anstrengen wollte.Patrie" behauptet, daß mehrere poli­tische Persönlichkeiten namenlose Briefe bekommen hätten, die auf diese Angelegenheit Bezug haben. Von Herrn Casimir-Perier erzählt sich heute ganz Paris, daß er seit langer Zeit in ehebrecherischen Beziehungen zu Frau Burdeau, der Gattin des ehemaligen Finanzministers, stand, und daß seine Demission zum Teil hierauf zurückzuführen ist.

Unterhaltender Heil.

Schlechter Leumund.

Kriminal-Novelle von Karl Ed. Klopfer.

(Nachdruck verboten.)

(Fortsetzung.)

Am nächsten Vormittag, während Leopold in größter Geschäftigkeit an seinen Büchern saß und, manchen schmerzlichen Seufzer unterdrückend, nicht ahnte, welches Wohlwollen seine Chefs ihm zu beweisen im Begriffe standen, betrat Weller das bescheidene Haus, das der Witwe Hügel mit ihrem Sohne zum Domicil diente.

Die gute alte Frau wollte schier umsinken im freudigen Schreck über diesen unvermuteten Besuch. Sie war gerade beim Kochen und just nicht in der besten Toilette, was sie in eine höchst komische Verwirrung versetzte.

Mit tausend ehrerbietigen Knixen und übersprudclnden Entschuldigungen platzierte sie den hohen Gast auf das große Canapee in der guten Stube", und rannte, so rasch sie ihre Beine nur tragen konnten, bald ins Nebenzim­mer, um ihre Küchenhaube mit der sonntäglichen zu vertauschen, bald wieder nach der Küche, wenn das Prasseln und Zischen der Kochlöpfe sie wieder dahin abrief. Bor lauter Hin- und Herlaufen und Entschuldigungen kam Weller nur sehr schwer dazu, ihr den Zweck seines Besuches mit­zuteilen. Er befand sich alle Augenblicke allein im Zimmer und konnte seinen Bericht nur mit unzähligen Zwischenpausen Vorbringen.

Als er das Haus endlich verließ, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Die gute alte Dame war aber auch wirklich zu komisch gewesen in ihrer Verlegenheit, in ihrem Schreck über den finanziellen Verlust und endlich in ihren gerühr­ten Dankesbezeigungen für die bewundernswerte Güte der beiden Chef ihres vielgeliebten Leopolds.

Zwei Tage später fand die übliche Kassen - kontrolierung statt. Weller nahm dieselbe vor, während Herr Tendier noch beim Frühstück in seiner Wohnung weilte, froh darüber, daß mit dem heutigen Tage endlich eine Pause in der Hochflut der stürmischen Geschäftszeit eingetreten war.

Ferdinand stand am geöffneten Eisen-Geld- schrank. dem jungen Buchhalter den Rücken zu­kehrend, der an seinem Pulte Rechnungen auszog.

Herr Hügel," sagte er plötzlich ganz ruhig, ohne sich umzuwenden, hat die Nürnberger Aktien-Brauerei ihre Bestellung redressiert und das Geld zurückgezogen?"

Nein. Morgen ist erst der Termin abge­laufen. Und ich werde heute noch schreiben, daß wir zu den verlangten Modalitäten nicht liefern können."

Weller hielt eine Sekunde lang den Atem an, schloß die Augen auf einen Moment und biß die Zähne aufeinander, als habe er ein plötzliches Schmerzgefühl zu überwinden. Aber dann hatte er schon wieder seine eherne Ruhe zurückgewonnen.

Aber wo ist denn der Betrag von 14,000 Mark?" fragte er gelassen.

Hügel trat rasch herzu.Da im linken Tresor das schwarze Portefeu"

Seine Hand fuhr zitternd zurück, als er den Behälter leer fand; die Geldtasche war ver­schwunden oder wenigstens nicht an dem vermuteten Orte.

Weller trat zurück und überlirß Hügel den

Platz, der mit fiebernder Haft alle Fächer durch­wühlte, während ein kalter Schweiß seine bleiche Stirne bedeckte.

Un begreiflich," stotterte er mit bebenden Lippen,das Portefeuille war doch noch gestern Abend da -- ich weiß es bestimmt!"

Der Ehef zuckte die Achseln und warf dem Buchhalter einen langen, ernsten Blick zu. Leo­pold stand völlig ratlos da, eine fürchterliche Angst schnürte seine Kehle zusammen. So entstand eine peinvolle Pause.

Wissen Sie, Hügel!" begann endlich Weller mit erstauntem Kopfschütteln,ich hätte Sie für klüger gehalten. Dieses Manöver ist doch gar zu plump! Oder ist Ihre Lage schon so verzweifelt, daß Sie zu solchen Hülfsmitteln Ihre Zuflucht nehmen mußten?"

Leopold starrte den Chef entsetzt an, ohne noch recht zu wissen, was er meinte. Dieser legte ihm jetzt schwer die Hand auf die Schulter,

Unglückseliger Mensch, Sie haben das Geld verspielt! Alles?"

Der andere griff sich besinnungslos an di? Schläfen, ihn trafen diese Worte wie ein glüh­ender Stahl.

Um Gottes willen, was denken Sie?"

Daß Sie Ihr Leichtsinn zu einem schier unbegreiflichen Schritt verleitet hat, verblendeter Thor! sagte Ferdinand mit erhobener Stimme und finsterem Stirncunzcln.Sie haben uns nicht den ganzen Umfang Ihrer Spekulationen eingestanden, weil Sie vielleicht hofften, dieses Manquo noch früher ersetzen zu können?"

Hügel stieß einen Schrei aus. drückte die Hände vor's Gesicht und wankte wortlos nach einem Stuhl. Seine Gedanken wirbelten wie im Wahnsinn durcheinander. Weller betrachtete ihn strenge, aber nicht ganz ohne Mitleid. Er näherte sich ihm und faßte ihn am Arme. Seine Stimme klang gedämpft, ermahnend.

Bekennen Sie, Unglücksmensch, ist cs wirk­lich so?"

Herr Weller." drang es in halberstickten Sätzen aus der Kehle des Buchhalters,ich schwöre Ihnen bei meiner Seligkeit beim Haupte meiner teuren Mutter"

Ja, ja, Ihre Muter! Es war wohl die Sorge um diese, die Sie in Ihrer Verzweiflung zu diesem Fehltritt verleitet hat? Gestehen Sie; nur ein unumwundenes, offenherziges Be­kenntnis kann Sie vielleicht noch einigermaßen retten, wenn es mir nämlich gelingt, Herrn Sendler zur Annahme einiger Milderungsgründe zu bestimmen."

Aber um alle Barmherzigkeit! wie soll wie kann ich denn gestehen wenn ich gänzlich unschuldig bin?!"

Aber wo ist denn das Portefeuille mit den 14,000 Mark?"

Weiß ich,s? Gestern war es noch da, als ich die Kasse zur Revision fertig machte!"

Faseln Sie nicht. Sie sehen ja, daß es jetzt fehlt!"

Mein Gott ich weiß nicht am Ende vielleicht wär's doch möglich, daß daß Jemand einen Nachschlüssel zur Kasse besäße

daß man in der letzten Nacht-"

(Fortsetzung folgt.)

Telegramme.

Bern, 24. Jan. Infolge starken Schnee­falls ist eine sehr große Zahl von Postverbind­ungen unterbrochen.

Paris, 24.Jan. PräsidentFaure schloß heute Nachmittag fünf Besprechungen wegen Kabinetsbildung ab. Er beruft morgen Vor­mittag eine Persönlichkeit, um ihr die Kabinets­bildung anzubieten.

London, 24. Jan. Ein Regierungs- Lichterschiff, mit Kanonenpulver und Kugeln be­laden. ist vergangenen Nacht 1 Uhr in der Themsemündung in die Luft gesprengt wor­den. Von der Bemannung ist bisher keine Spur aufgefunden worden.

New-Aork, 24. Jan. Bei einem Sturm auf dem Michigansee ist der DampferChikora" untergegangen. 29 Personen sind ertrunken.

Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.