Paris, 9. Jan. Nachrichten aus Rio de Janeiro zufolge gab Präsident Peixoto seine Entlassung.

Trotz der energischen Maßnahmen der italienischen Regierung dauert die Gär­ung in einzelnen Gemeinden Siziliens noch immer fort. Eine Torpedoflotlille muß das Kabel zwischen Palermo und Neapel sorgfältig be­wachen, damit es nicht von Fischern durchschnitten wird. Der römischen Polizei ist es gelungen, alle Papiere des anarchistischen Abgeordneten Defelice Giuffrida bei einem Geistlichen namens Urso zu entdecken und zu beschlagnahmen. Hie­durch hat sie Kenntnis von der ganzen anar­chistischen Organisation in Italien, von den vor­handenen Waffen und Sprengstoffen, sowie von den geplanten künftigen Attentaten und der für deren Ausführung bestimmten Personen er­halten. Der Ministerpräsident Crispi wird nun wohl mit äußerster Energie diese Entdeckungen ausnützen; er beabsichtigt aber andererseits auch vom Parlament einen Kredit zu verlangen, so­wie die Genehmigung von gesetzlichen Maßregeln, welche die Notlage der unzufriedenen Elemente in Sizilien bessern soll. Die italienische Presse bespricht noch immer die Freisprechung der Mörder italienischer Arbeiter in Aigues- Mortes durch das Schwurgericht zu Angoulöme. Sogar solche italienische Blätter, die seither gegen die Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund waren, erklären nunmehr offen, Italien müsse unter allen Umständen bei diesem Bund bleiben.

Aus Italien. Bei dem Abgeordneten de Felice scheint man wirklich einen guten Fang an aufrührerischen Schritten und dergl. gethan zu haben. So wird behauptet, daß man den Schlüssel zu der Geheimschrift gefunden und dadurch Kenntnis von den Waffennieder- lagen und Orgonisationsplänen der Aufrührer erlangt habe. Die Beteiligung des alten Ver­schwörers AmilcareCipriani scheint ziemlich festzustehen. Auch mitMarchal" (Vaillant?) Unterzeichnete Briefe aus Marseille sollen ge­funden sein. Crispi will es nicht bei dem bloßen gewaltsamen Niederschlagen des Aufruhrs bewenden lassen, sondern denkt auch an soziale Gegenmaßregeln. So soll er bei Eröffnung der Kammer einen Gesetzentwurf über soziale Maßnahmen zu Gunsten Siciliens vorlegen und dazu die Vertrauensfrage stellen wollen. DieItalic" führt aus. sobald der in Sicilien eingeleitete Prozeß zur Verhandlung komme, werde man erkennen, durch welche Verbindungen sich die aufständische Bewegung in Sicilien, Neapel und Rom vorbereitet Hobe. Man hätte alles vorbereitet in der Hoffnung, daß bei der ersten Bewegung nicht nur in Sicilien, sondern in ganz Italien eine Revolution auf sozialer Grundlage ausbrechen würde.

Unterhaltender Heil.

In den Höllengrund.

Novelle von Reinhold Ortmann.

(Nachdruck verboten.)

(Fortsetzung 4.)

Die Verletzte hielt das zerrissene Hemd über ihrer Brust zusammen, so gut es gehen wollte, während aus der Wunde in ihrem Arm noch immer das Blut hervorquoll. Sie klagte nicht und gab keinen Schmerzenslaut von sich, aber über ihre schmalen Wangen rollten große Thränen und das blasse Gesicht hatte einen unsäglich leidvollen Ausdruck. Komtesse Elfriede war in der peinlichsten Verlegenheit und sie fand kein anderes Mittel, dieselbe zu verbergen, als in­dem sie eine noch trotzigere und hochsahrendere Miene annahm.

Ich werde Ihnen selbstverständlich jeden Schaden vergüten, den Ihnen mein Hund zuge­fügt hat," sagte sie.Leider habe ich im Augen­blick kein Geld bei mir. Aber Sie können mir ja Ihren Namen sagen. Wahrscheinlich wohnen Sie doch in unserem Gutsbezirk."

Das Mädchen heißt Johanna Dependahl," antwortete Rohden statt der Gefragten,und sie wohnt allerdings im Dorfe Rothenfeld. Es ist übrigens kein Umweg für Sie, Komtesse, wenn Sie auf Ihrem Rückwege zum Schlosse

die Richtung wählen, welche an der Wohnung des Mädchens vorüberführt. Ich vermute, daß Sie ein Interesse daran haben, sich von der Beschaffenheit ihrer Verwundung zu überzeugen."

Seine Worte klangen fast wie ein Befehl, und Komtesse Elfriede würde eher gestorben sein, als daß sie dieser Weisung eines fremden und. ihrer Anschauungsweise nach, untergeordneten Mannes Folge geleistet hätte.

Ich wüßte nicht, welchen Nutzen meine Anwesenheit dem Mädchen bringen könnte," sagte sie kalt.Mein Papa kann ja zum Arzt schicken, damit er sie besucht. Aber wollen Sie mir nicht endlich meinen Hund zurückgeben, Herr Pastor?"

So lange Gefahr vorhanden ist, daß er abermals irgend einem schwachen und ahnungs­losen Menschen Schaden zufügt, werde ich ihn mit Ihrer Erlaubnis in meinem Gewahrsam be­halten, Komtesse! Kommen Sie. Johanna! Ich werde Sie zu Ihrer Mutter begleiten."

Elfriede biß sich auf die Lippen. Das an­maßende Benehmen dieses Dorfgeistlichen ließ ihr abermals alles Blut heiß zum Herzen strömen; aber sie erkannte wohl, daß ein Befehl hier machtlos sein würde und zu einer Bitte konnte sie sich unmöglich erniedrigen. So ging sie schweigend in einer Entfernung von wenigen Schritten hinter dem Pastor und seinem Schütz­ling her. und es steigerte ihren heißen Unwillen gegen Rohden noch um ein Bedeutendes, als sie sah, pie er den Arm des anscheinend sehr schwäch­lichen Mädchens in den seinigen nahm und wie er die Wankende mit einer beinahe zärtlichen Sorgfalt unterstützte.

Etwas abseits von der Fahrstraße und mit dem Hinteren Teil des Daches an die kahle Berg­wand gelehnt, stand eine armselige, hinfällige, aus Lehm und Holz kümmerlich genug zusammen­gefügte Hütte. Bis an den offenen Eingang derselben führte Rohden das kranke Mädchen. Er beugte sich herab und sagte ihr einige Worte, welche Elfriede nicht verstehen konnte; dann ver­schwand sie im Innern des Häuschens. Gleich darauf war der Pastor wieder an der Seite der jungen Gräfin, und da er den Hund, welcher ihm jetzt willig folgte, noch immer am Halsband sesthielt, sah sie keine Möglichkeit, sich von seiner Begleitung zu befreien.

Es thut mir leid, daß Sie es nicht für angebracht hielten, auf einige Augenblicke bei diesen armen Leuten einzutreten," sagte er. Sie hätten da vielleicht eine große Freude Hervorrufen, oder doch einen schweren Kummer lindern können."

Mit meiner bloßen Gegenwart? Ich be­zweifle das, Herr Pastor. Uebrigens will ich Ihnen auch die Gründe nicht verschweigen, welche mich davon abhrelten. Ich erinnere mich, erst vor wenigen Tagen von meinem Papa gehört zu haben» daß ein gewisser Dependahl das ver­kommenste Subjekt der ganzen Gegend sei. Und dann dann schien mir auch das Mädchen selbst mit einer widerwärtigen Krankheit behaftet zu sein."

All' der trotzige Ingrimm, welchen sie gegen Rohden hegte, hatte sich in dem Ausdruck ihrer Worte Luft gemacht und sie sah rasch zu ihm auf, ob sich nicht eine gewisse Verlegenheit und Beschämung in seinem Antlitz zeigen wolle. Aber diese ruhigen Züge blieben ganz unverändert und er nickte sogar wie zustimmend mit dem Kopfe.

Was Ihre letztere Vermutung anbelrifft, Komtesse, so hat dieselbe leider vollkommen das Rechte getroffen. Die Unglückliche leidet an einem Uebel, dessen Anblick Sie mit namenlosem Entsetzen erfüllen müßte an der Phosphor­nekrose."

In Elsriedens braunen Augen blitzte es auf.

Und dennoch konnten Sie mir zumuten, mich mit dieser Person in eine nähere Berühr­ung zu bringen!"

Das Leiden ist nicht ansteckend! Und ich kann nicht einsehen. mein gnädiges Fräulein, warum Ihnen das Märtyrertum dieses bejam- mernswerten Wesens keine andere Empfindung als diejenige des Abscheus und des Widerwillens erregen sollte. Lassen Sie mich Ihnen erzählen.

welche traurige Bewandtnis es mit ihrer Krank, heit hat."

Elfriede wollte dagegen protestieren, aber Rohden fuhr, ohne sich darum zu kümmern, fort:

Unter den vielen Elenden und Unglück­lichen dieser Gegend sind die Dependahl's viel­leicht am meisten zu beklagen. Der Mann, welcher früher ein fleißiger und ordentlicher Mensch gewesen sein soll, hat für eine Verirr­ung, die er in einer Stunde verzweifelter Not beging, sehr schwer büßen müssen. Er erlitt eine entehrende Bestrafung und seitdem wollte niemand mehr etwas mit ihm zu schaffen haben. Sein Handwerk ernährte ihn nicht mehr und er muß sich seither als Taglöhner in der Umgegend Arbeit suchen, wo sie sich ihm gerade bietet. Die Frau wurde mir allgemein als fleißig und rechtschaffen gerühmt, und so lange ihre Kräfte ausreichten, soll sich das kleine Hauswesen auch in leidlich guter Ordnung befunden haben. Aber sie wurde von einer schleichenden Krankheit heim­gesucht und ist seit Jahren unfähig, eine schwere Arbeit zu verrichten. Außer dem Mädchen aber, das Sie vorhin gesehen haben, sind noch vier kleinere, schulpflichtige Kinder da. Sie begreifen von all' diesen Verhältnissen wohl zu wenig, Komtesse, als daß Sie sich auch nur eine schwache Vorstellung davon machen könnten, welch eine Fülle namenlosen Elends diese Thatsachen be­deuten. und da Sie einen solchen Abscheu gegen das Unglück zu hegen scheinen, will ich keinen Versuch machen, Sie Ihrer heiteren Unwissenheit zu entreißen. Nur von der Johanna und von der Ursache ihrer schrecklichen unheilbaren Krank­heit will ich Ihnen sprechen. Sie war noch nicht mehr als ein Kind, als der Jammer über ihre Familie hereinbrach und als sie ihre Eltern und ihre Geschwister mit dem Hungertode kämpfen sah. Sie wollte arbeiten, aber sie war so zart und schwächlich, daß keiner der Bauern sie für die schweren Verrichtungen auf dem Felde ge­brauchen konnte. Da hörte sie von der Zünd­hölzerfabrik in Glahde und von den hohen Löhnen, welche an die dort beschäftigten Mäd­chen gezahlt wurden. Sie erklärte den Eltern, daß sie auch dahin gehen und um Einstellung bitten wolle, aber der Vater verbot es ihr mit allem Nachdruck, denn er wußte, daß die armen Geschöpfe dort in ihr sicheres Verderben gingen. Kaum eine Einzige blieb ja von der schrecklichen Krankheit verschont, die durch giftige Phosphor- dämpse erzeugt wird, und die ein langsames, qualvolles Siechtum bedeutet. Als sie trotzdem heimlich fortlief, holte er sie zurück und schlug sie unbarmherzig. Aber sie ging doch hin, und als sie zum erstenmal in die Stube trat und die blanken Thaler auf den Tisch legte, die man ihr ausgezahlt, da schlug er sie nicht mehr und verbot ihr auch nicht, weiter zu arbeiten. Die Frau erzählte mir, daß sie ihn die ganze Nacht habe weinen und schluchzen hören. Er ver­wünschte sich selbst; aber er hatte ja noch vier kleine Kinder, und was die Johanna da verdiente, das reichte wenigstens hin, sie vor dem Ver­hungern zu schützen. Wenn er wirklich ein schlechter Mensch geworden ist, ein verkommenes und gefährliches Subjekt, wie Sie sich vorhin auszudrücken beliebten, so trägt der Seelenkampf, den er in jener Nacht durchgekämpft, vielleicht einen nicht geringen Teil der Schuld daran, und diejenigen wenigstens sollten ihn nicht ver­urteilen, die nicht zu begreifen vermögen, wie eng verschwesterl die Schlechtigkeit der Menschen nur zu oft mit ihrem Unglück ist! Was er vorausgesehen hatte, geschah. Johannas schwäch­liche Natur vermochte die Einwirkung des ver­derblichen Giftes noch weniger lange zu wider­stehen, als diejenige ihrer Arbeitsgenossinuen. Sie klagte nicht, als sie unter heftigen Schmerzen einen Zahn nach dem andern verlor, und sie arbeitete weiter, bis auch die Kieferknochen er­griffen wurden und bis man sie als unbrauch­bar aus der Fabrik entließ. Das ist die Leidens­geschichte der Unglücklichen, die voraussichtlich nur noch kurze Zeit zu leben haben wird. Sie selbst mögen beurteilen, Komtesse, ob sie nicht viel mehr Ihr Mitleid als Ihren Abscheu ver­dient hat."

(Fortsetzung fotgt.)

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Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.