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Berlin. 4. Dez. (Reichstag) Novelle zum Unterstützuugswohnsitz. Greiß (Zentr.) befürwortet, daß die von Gemeinden unterstützten Personen in besonderen Anstalten beschäftigt werden. Brühne (Soz) hält eine Abänderung der Jnvaliditäts- und Alterversicherung für wichtiger als diese Vorlage. Er wünscht die Ausdehnung des Gesetzes über den Unterstützungs- Wohnsitz auf Bayern und Elsaß-Lothringen, welchem Wunsche Osann (nat.-lib ) sich an- schließt. Staatssekretär v. Bötticher erklärt, die Ausdehnung aus Elsaß Lothringen werde sich ermöglichen lassen, sobald in Elsaß-Lothringen die Verwaltungsorganisation und die Steuer­reform beendet seien Bezüglich Bayerns komme das Reservatrccht in Frage. Man möge zunächst die zunehmende Wirksamkeit der sozialpolitischen Gesetze abwarten. Abg. Frhr. v. Gültlingen (Reichsp) bemerkt, in Württemberg wiege der Wunsch vor, die frühere Heimatsgesetzgebung wiederherzustellen, anstatt den herrschenden Zu­stand noch zu verschärfen und zu verschlechtern. Das Letztere befürchte man aber von der Herab­setzung der Altersgrenze von 25 auf 18 Jahre. Die Vorlage wird einer Kommission überwiesen. Ebenfalls an Kommission werden das Bieh- seuchengesetz und einige Rechnungsvorlagen ver­wiesen.

Berlin, 5. Dez. Deutscher Reichs­tag. Erste Lesung des Stempelabgabengesetzes. Der bayerische Finanzminister v. Riedel leitet die Debatte ein. befürwortet im Namen der ver­bündeten Regierungen die Vorlage. Bayern lege auf diesen Gesetzentwurf das größte Ge­wicht. Neue Mittel müßten doch geschafft wer­den, ebenso wie die Reform des Finanzverhält­nisses zwischen Reich und Einzelstaaten nicht länger aufzuschieden sei. Gegen eine direkte Einkommenssteuer protestiere er im Namen seiner Regierung genau wie der preußische Finanz­minister, denn die Reichseinkommensteuer sei ein Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten. Das Reich sei aus indirekte Steuern angewiesen. Weder die Quittungsstempelsteuer noch die Wein- stcuer bedeute eine Belastung des armen Mannes. Die ganze übertriebene Agitation gegen die Tabakfadrikatsteuer beruhe nur auf der Annahme eines Konsumrückganges, dagegen spreche aber die Erfahrung. Es werde keine Entlassung von Arbeitskräften stattfinden. Wenn man die vor­liegenden Finanzreformen ablehne, würden letztere doch bald wiederkehren. Die laute Agitation gegen die Steuerentwürfe und die Negation führte nur zu einer dauernden Beunruhigung des Erwerbslebens. Redner bittet deshalb die ganze Finanzreform anzunehmen. (Der Reichs­kanzler tritt zu dem Redner und schüttelt ihm die Hand.) Richter (freis. Volksp.) ist ent­gegengesetzter Ansicht wie der Vorredner, den er tadelt, weil derselbe allgemein und über alles, nicht aber zum Stempelsteuergesetz gesprochen habe. Förderativ sei cs durchaus nicht, wenn Einzelstaaten Kostgänger des Reichs würden und sich dadurch eine Kontrolle über das Reich an­maßten. Wenn die Quiltungs-, Frachtbrief- und Weinsteuergesetzgebung so schön sei. so möge sie Bayern doch einführen. Daß der Tabakkonsum durch die Höhe der Preise nicht leiden würde, glaube niemand; der Konsum werde zurückgehen, weil niemand zum Rauchen gezwungen werden könne. Die Srempelvorlage sei ein Hohn auf den Satz, daß wir im Zeitalter des Verkehrs leben. Die Börsensteuer werde vielen Schaden anrichten. Vor allem würde sie Provinzial- Banquiers, die kleinen Banquiers an größeren Plätzen und das Arbitragegeschäft treffen. Viel angebrachter sei eine Lottenesteuer, mit der man zugleich die Sucht nach mühelosem Erwerb be­kämpfe. Zu verwerfen sei insbesondere der Stempel auf Conosfemente, weil das Ausland uns gegenüber konkurrenzfähiger gemacht werde. Staatssekretär v. Posadowski führt aus, die Regierungen dürften sich von Kassandrarufen nicht beeinflussen lassen. Auch die Befürchtungen in Betreff der Börsensteucr wären nicht einge­troffen. Die Börse sei ein wirtschaftlich not­wendiges Institut von internationaler Bedeutung. Man dürfe sie nicht so überbürden, daß man sie im internationalen Wettbewerb isoliere.

Redner widerlegt die Behauptung, die kleinen Spekulanten würden durch die Erhöhung des Stempels wesentlich getroffen. Graf Kunitz (deutfchkons.) weist darauf hin, daß es sich nicht nur um Deckung der Kosten der Heeresvermehr­ung, sondern auch um die Deckung der Zoll­ausfälle durch die neuen Handelsverträge handle. Die Börsensteuer ist Redner noch lange nicht hoch genug. Der Quittungsstempel und der Stempel für Giroanweisungen müßten progressiv gestaltet werden, um ihren Zweck zu erfüllen. Nachdem noch v. Buchka (deutfchkons.) ge­sprochen, erfolgt der Schluß der Debatte. Morgen: Forschung.

Berlin, 4. Dez. Der Arbeitsplan des Reichstags ist bis zum Beginn der Weihnachts­ferien fertiggestellt. Die erste Lesung jedes einzelnen Steuergesetzes wird mindestens 3 Tage dauern. Das Stempelabgabegesetz ist auf die morgige Tagesordnung gesetzt. Am Freitag ist keine Sitzung. Am Samstag wird das Tabak- steuergcsetz beraten und dos Weinsteuergesetz. Am 16. Dezember beginnen die Weihnachlsferien.

Berlin, 5. Dezbr. Die Fraktionen des Reichstages haben behufs Stellungnahme zur Steuer- und Finonzreform gestern einige Sitzungen abgehalten. Die Beurteilung und Aufnahme der Reform ist im allgemeinen nicht sehr günstig. Die Nationalliberalen wollen die Weinsteuer verwerfen und die Börsen- und Tabaksteuer reformieren. Aehnliches wünscht die Reichspartei. Die Konservativen treten für die Stempelvorlage ein, sind aber nicht unbe­dingt Anhänger der Wein- und Tabaksteuer.

Berlin, 5. Dez. Die Handelsvertrags- Kommission hat heute vormittag Anlage b. des Vertrages mit Rumänien beraten und die Wirk­ung der Zollherabsetzungen für rumänisches Ge­treide und Vieh auf die deutsche Landwirtschaft diskutiert. Morgen Fortsetzung.

Berlin, 5. Dez. Am Dienstag den 12. Dez. findet bei Caprivi ein großesDiner statt, wozu eine Reihe von Mitgliedern des Reichs­tags geladen worden ist.

Berlin, 5. Dez. Es ist noch ungewiß, ob der im Bundesrat von Seiten Preußens einzubringende Antrag auf Revision der Straf- prozeßordnung bereits der laufenden Reichstags sefston als Gesetzentwurf unterbreitet wird.

Mohrungen i. Ostpr., 5. Dez. Anläß­lich der Auszahlung von Löhnen kam es unter Eisenbahnbeamten zu einem Tumult, wobei ein Schanklokal gestürmt, Schaufenster und Fenster­scheiben zertrümmert wurden. Die Polizei hieb mit scharfer Klinge ein. Es kamen viele Ver­wundungen und Verhaftungen vor.

Württemberg.

Stuttgart. Der König, welcher in den letzten Tagen von einem leichten Influenza-An­fall heimgesucht ward und das Bett hüten mußte, befindet sich heute besser und konnte wieder auf- stehen.

Stuttgart. 4. Dez. Der Präsident des K. Staatsministeriums, Staatsminister Dr. Frhr. v. Mittnacht und Staatsminister der Finanzen Dr. v. Ri ecke haben sich wieder nach Berlin begeben, um an den Verhandlungen des Bundes­rats teil zu nehmen.

Stuttgart, 6. Dez. Der Staatsminister des Innern ist von der Eröffnung der neuen Brücke in Munderkingen mit einem heftigen Anfall von Influenza hierher zurückgekommen. Nachdem am Samstag und Sonntag eine leichte Besserung eingetreten war, haben sich am Mon­tag neue Complikationen entwickelt, so daß das Befinden ziemlich bedenklich geworden ist.

Für die Aufhebung des Jesuitengesetzes, also für die Wiederzulassung der Jesuiten im Deutschen Reich, haben in der Sitzung vom 1. Dezember von den 17 württ. Abgeordneten 8 gestimmt, nämlich Braun, Galler, Gröber, Haag, Haußmann, Rembold. Speiser, Wengert (4 vom Zentrum und 4 Volksparteiler); 3 haben dagegen gestimmt, nämlich Bantleon, v. Gültlingen. Siegle; gefehlt haben 6 (sämtlich Volksparteiler). davon Ehni, Pflüger und Schnaidt beurlaubt, Kercher entschuldigt, Hartmann und Payer ohne Entschuldigung.

Stuttgart. Die von Oberstudienrat Dillmann verfaßte, auf Veranlassung des Reichs- tagsabg. Siegle von der Deutschen Partei in Stuttgart herausgegebene FlugschriftWider die Weinsteuer" gelangt in Form einer Brochüre u. a. an die Reichstagsabgeordneten zur Ver­teilung.

Die Handels- und Gewerbekammcr in Stuttgart hat sich auf Grund einer aus­führlichen Motivierung für die Reichsweinsteucr unter Voraussetzung einer Wertgrenze von 70 Mark, anstatt wie in dem dem Reichstage vor­liegenden Entwürfe von 50 Mark ausgesprochen. In der Motivierung wird insbesondere ausge­führt. daß eine Abwälzung der Steuer auf die Winzer unter der obigen Voraussetzung in keiner Weise zu befürchten sei.

Reutlingen, 3. Dez. Der von Bäcker­geselle Paul Meiner in der Nacht vom 11. aus 12. v. M. mit dem Beil niedergeschlagene Bäcker­meister Bert sch von hier ist nunmehr seinen Verletzungen erlegen, nachdem ihm seine Frau vor 14 Tage im Tode vorausgegangen war.

Alten steig, 29. Novbr. Der gestrige Viehmarkt war gut befahren. Man sah daraus, daß doch noch ziemlich Vieh, besonders in den Hinteren Waldorten, steht, aber auch, daß der Viehbesitzer, trotzdem er seinen Biehstand längst reduziert hat, denselben wegen der Futternot noch mehr vermindern muß. Der Handel ging flau und die Preise gingen wieder etwas zurück, vor allem bei Einstellvieh; aber auch Fetivieh wurde wieder geringer bezahlt; es fehlten auf dem Markte einige größere Händler Auf dem Schweinemarkl ging der Handel lebhaft bei guten Preisen. Es waren viele Tiere, meist bessere Ware, ausgestellt und wurde fast alles verkauft. Milchschweine kosteten 18 bis 30-^ pro Paar, Läuferschweine 35 bis 80 Die

Einnahmen auf dem Krämermarki, in den Kauf­läden und Wirtshäusern waren geringer. Man merkte allenthalben die Futlernot und deren Folgen, die Geldklemme.

Ausland.

Die italienische Ministerkrisis hat sich noch bis in die gegenwärtige Woche hinein­geschleppt, denn das Ministerium Zanardeüi war Ende der vergangenen Woche noch nicht vollständig zu Stande gekommen, ja, das Pro­jekt galt zu die>em Zeitpunkt schon halb und halb als wieder gescheitert. Unterdessen ist aber doch eine Ministerliste in Umlauf gesetzt worden, welche den Namen Zanardellis trägt.

London, 6. Dez. Eine Dynamit-Ent­deckung fand in der nördlichen Vorstadt Hampstead statt. Der Gerichtsbeamte fand in der Wohn­ung zahlreiche Flaschen, welche auf das Zentral- polizeiburcau gebracht wurden und nach Aussage der Polizei Nitroglycerin enthielten. Die darauf entdeckte Dynamitkisle wurde gleichfalls auf die Polzei gebracht. Es wird behauptet, ein ge­wisser Sn yd er sei Repräsentant einer amerik. Gesellschaft für ein Brennstoffpatent. Das Vor­gefundene Dynamit und der Flascheninhalt waren nur Warenmuster.

Die brajiltanischeRevolution nimmt anscheinend doch endlich eine siegreichere Wendung. Die Aufständischen haben in den letzten Wochen namhafte Erfolge zu Wasser wie zu Lande über die Slreitkräfie des Präsidenten Peixoto errungen, unter denen ihr Sieg über den General Castilho bei Bagi als der bedeutendste erscheint; der ge­nannte Regierungsgeneral erlitt in diesem Treffen eine völlige Niederlage. Gerüchtweise verlautet, die Insurgenten seien bei Jtaguahy, einige Mei­len südlich von Rio de Janeiro, gelandet; möglicherweise beabsichtigen sie einen Handstreich auf die Hauptstadt. In die Provinz Sao Paolo sollen die Aufständischen jetzt ebenfalls vocge- drungen sein.

Für den Monat

Dezember

nehmen noch alle Poststellen u. Postboten Bestell­ungen auf den Enzthäler an.

Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.