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Orleans, 30. Nov. Der in dem Be­gleitschreiben angegebene Name des Absenders der Dynamitsendung an den Kaiser und den Reichskanzler existiert nicht, ebensowenig die angegebene Wohnung. In Orleans ist kein Paket unter der Adresse Caprivis aufgegeben worden. Letzthin sind in Orleans gewesene Anarchisten abgereist, ohne daß ihre Persönlich­keiten festgestcllt worden wären. Dieselben kamen von London über Paris.

Die zu Marseille in der Avenue d'Arene entdeckre Anarchistenhöhle erregt das größte Aufsehen. Es ist ein 20 Meter langer unter­irdischer Gang in einem Keller, an welchen ein anarchistisches Laboratorium stößt. In diesem Gelasse konnten die Anarchisten ungestört arbeiten und beraten, bis ein Zufall die Entdeckung her­beiführte. Ein Mann und eine Frau sind ver­haftet worden.

London, 30. Nov. Gestern fanden Knaben Gewehr- und Revolverpatronen, die augenscheinlich aus Furcht vor polizeilichen Haussuchungen weggeworfen worden waren. Es ist ein Beweis, daß Sprengstoffe in den verschiedensten Teilen der Stadt verbreitet sind.

Präsident Car not hat bis zur Stunde ein neues Kabinet noch nicht berufen können und verhandelt noch mit einzelnen Persönlichkeiten. Nach dem großen moralischen Erfolg, den das bisherige Kabinet bei allen Franzosen mit dem Russenbesuch errungen hatte, kommt dieser plötz­liche Scenenwcchsel aller Welt geradezu ver­blüffend vor. Dem russischen Zaren mag es einigermaßen unheimlich erscheinen, daß der Wind in Frankreich schon so rasch wieder um­schlicht.

Nizza, 28. Nov. Wie der TriesterPic­colo" meldet, hat sich imHotel Winsor" zu Monte-Carlo ein junges französisches Ehepaar durch Kohlengas getötet, nachdem dasselbe in den Spielsälen 300000 Franken verloren hatte.

Mailand, 29. Nov. Beim Bahnhof Limits, elf Kilometer von Mailand auf der Trcvigliolinie fand heute ein Zusammenstoß zwischen dem Zuge 25 und dem von Verona mit 45 Minuten Verspätung kommenden Güter­zug 1112 statt. Beide Lokomotiven wurden zertrümmert, zwei Wagen des Zuges 25 wurden zerquetscht. Bis Mittag waren 13 Leichen her­vorgezogen und 20^Verwundete in die Kranken­häuser nach Mailand verbracht. Man glaubt als Ursache des Unglücks annehmen zu sollen, daß der Zug 25 wegen des dicken Nebels die geschlossene Signalscheibe nicht bemerkt habe.

In dem kleinen Serbien ist eine Mini­sterkrisis ausgebrochen. Der bisherige Minister­präsident Dokitsch ist hoffnungslos krank; der seitherige Finanzminister zeigte große Gereiztheit gegen Oesterreich-Ungarn, das sich von den serbischen Gerngroßen nicht mißhandeln läßt, und nun ist der junge König Alexander auf der Suche nach neuen Ministern, die die Freund­schaft mit Rußland zwar nicht aufheben, anderer­seits aber doch ein besseres Verhältnis zu dem nächsten Nachbar Oesterreich-Ungarn Herstellen sollen.

Die Spanier scheinen nunmehr nach er­gebnislosen Verhandlungen mit dem Sultan von Marokko, der seinen Bruder nach Melilla ge­sandt hatte, einen Hauptschlag gegen die Rif- kabylen führen zu wollen. Marschall Martinez Campos wurde zum Oberbefehlshaber für den marokkanischen Feldzug ernannt, und die Truppen­nachschübe nach Melilla, wo jetzt schon 30 000 Mann konzentiert sind, werden noch immer leb­haft betrieben.

Aus Spanien, 28. Nov. Das berühmte Wikingerschiff, eine genaue Nachbildung der alten nordischen Secfahrzeuge, hat auf der Rückkehr von der Chicagoer Weltausstellung im Golf von Biscaya Schifsbruch gelitten; die Mannschaft konnte von dem adriatischen DampferDea" gerettet werden.

Den Engländern ist durch die Mani­festationen von Toulon und Paris und durch die Nachricht, daß eine russische Mittelmeerflotte im korsischen Hafen von Ajaccio eine dauernde Kohlenstation erhalten soll, ein schwerer Schreck

in die Glieder gefahren. Von sachverständiger Seite ist den Engländern nachgewiesen worden, daß sie bei dem jetzigen Stand der englischen Flotte und der Einrichtungen von Gibraltar, wo namentlich auch ein Dock zur Ausbesserung von Schiffen fehlt, den Franzosen und Russen bei weitem nicht mehr gewachsen sei. Nun wird in ganz England lebhaft sowohl von den Zeit­ungen aller Parteien als in Volksversammlungen agitiert, daß die Flotte bedeutend verstärkt und Gibraltar sofort mit einem Dock versehen wer- den müsse.

London, 29. Nov. Aus Teheran werden vom 29. Nov. folgende Einzelheiten über das Erdbeben von Kuchan gemeldet: Der erste Stoß erfolgte am 23. Novbr. um '/»8 Uhr abends, zerstörte die Stadt vollständig und sämtliche im Umkreise von 7 Meilen liegende Dörfer. Die amtlichen Berichte beziffern die Verluste an Menschenleben auf der Gesamteinwohnerschaft von 20000. Die Erdbeben dauerten bis zum 24. Nov. an; ein Unwetter am 24. Nov. ver­schlimmerte die Not der im Freien kampierenden Bewohner bedeutend.

Schiffsunfälle. Der größte Dampfer der Adria-GesellschaftSzent-Laßlo", im Werte von 600000 Gulden, ist abgängig. Man be­fürchtet, daß derselbe in den letzten Sturmtagen auf der Fahrt von Gibraltar nach Rouen ver­unglückt sei. Unweit Helgoland ist ein unbe­kannter großer Dreimaster untergegangen. Das Schicksal der Mannschaft ist unbekannt.

Telegramme an den Enzthäler.

Berlin, 30. Nov. Dem Reichstag ist ein sozialdemokratischer Antrag auf Aufhebung des Impfzwanges eingegangen.

St. Etienne, 30. Nov. Hier wurde eine Dynamitniederlage mit 500 Kilo Dynamit in die Luft gesprengt. Der Wächter wurde getötet

Mailand, 1. Dez. Die Zahl der durch das Eisenbahnunglück getöteten Personen ist noch nicht festgestellt; bisher sind 22 Tote und 15 Verwundete konstatiert. Wegen Verkohlung sind nur 5 Leichen indcntisiziert.

Cagliari, 1. Dez. Ein heftiger Orkan führte eine Ueberschwemmung mehrerer Gemein­den herbei. Vier Menschen sind bei einem Brückensturz umgekommen. Zahlreiches Vieh ging verloren. Der Eisenbahverkehr ist unter­brochen.

Vermischtes.

Ueber den Namen des preußischen Kriegs­ministers schreibt Dr. Max Oberbreyer aus Leipzig derN. Z.": Der Name Bronsart ist nichts anderes als unser altdeutscher Brunhart, d. h. schneidiger Krieger. Der erste Teil dieses Wortes kommt vom althochdeutschenbrunja", dem mittelhochdeutschenbrünne" (glänzender Harnisch); der zweite Teil vom althochdeutschen harto", das zur Sanskritwurzelkart" (zer­hauen) gehört. Dashart" der Kriegswaffe übertrug sich auf den Mann, der sie führt (so in Bernhard: bärenstark; Gerhard: lanzen- kräftig). Bronsart ist also ein gerüsteter, scheidiger Krieger. Das paßt gut für einen Kriegsminister.

Paris, 28. Nov. Eine unheimliche Ge­schichte wird aus Valence, Drüme, berichtet: Ein Familienvater machte die Wahrnehmung, daß sein vierzehnjähriger Sohn, welcher eine städtische Schule besuchte, düster und schweigsam geworden war und nicht mehr so regelmäßig wie sonst aus der Schule nach Hause kam. Das erlebt man nun zwar öfter bei diesen Schlingels, aber um der Sache auf die Spur zu kommen stöberte der Vater in den Büchern und Heften des Schülers herum und fand einige chiffrierte Zettel, die seine Neugier noch steigerten. Nun folgte er dem Jungen bei dessen nächstem Aus­gang ungesehen, wartete, bis dieser einen Kame­raden abgeholt hatte, und betrat dann das Haus des Kameraden. Als er den Vater des

zweiten Schülers von seinen Besorgnissen in Kenntnis setzte, lachte dieser hell auf, willige aber schließlich doch darein, in dem Zimmer seines Sohnes eine Haussuchung zu halten, und siehe da! die beiden Väter fanden in einem Schranke unter Kleidern und Hüten sorgfältig versteckt eine ganze Spreng st off-Niedcrlage, leere Sardinenbüchsen. Glycerinfläschchen, eine Düte mit weißem Pulver und anderes. Zur Rede gestellt, legten die Jungen eine vollständige Beichte ab. Sie und einige Kameraden, etwa zehn Mann, waren mit einem Lehrer unzufrieden, weil er ungerecht und parteiisch sein sollte, und hatten ganz einfach beschlossen, diesen mißliebigen Lehrer mit einer Bombe in die Luft zu sprengen. In einigen Tagen sollte das schauderhaste Verbrechen ausgeführt werden, dem jedoch, welcher das Geheimnis verraten würde, war die Todesstrafe angedroht. Mittlerweile werden die gemülskranken Schlingels hoffentlich in väterlich-ärztliche Behandlung genommen worden sein; in solchen Fällen empfiehlt sich kräftige Applikation von Bakulin auf den Teil des Rückens, wo er ansängt unaussprechlich zu werden.

(Ein seltenes Glück) erlebte ein 94jähriger Mann Namens Martin Christcnsen in Lynby in Dänemark vor einigen Tagen, indem er frisch und gesund der goldenen Hochzeit seiner jüngsten Tochter beiwohnen konnte.

Wem rote Haare nicht gefallen, dem teilt Pfarrer Kneipp in seinerKinderpflege" ein durchaus unschädliches Haarfärbemittel mtt. Es ist dies das gründliche Waschen des Kopfes Neugeborener mit gestockter oder gestandener Milch. Davon bekommen die Kinder, welche Anlage zu roten Haaren zeigten, schön gelb­blonde Haare.

(Eingesendet.)

Hinterm Dorf an der Landstraß'.

Hinterm Dorf an der Landstraß' im Mondenschein Da steht ein Wirtshaus mutterseelen allein.

Alle fahrenden Leute, die fuhren reich durch die Welt, Kommen arm in das Wirtshaus ohne Ranzel und

ohne Geld.

Sie kommen wohl beim Hahnenschrei und auch beim

Wachtelschlag,

Früh einer und spät der andre, den ganzen langen Tag.

Die einen jung wie Rosen, verweht vom Wind,

Die andern wie Tannen im Watde, die gefallen sind

Ihr Tannen hoch und grüne, ihr Rosen rot und reich, Hinterm Dorf im Wirtshaus sind alle arm und bleich!

Jeder bekommt ein Kämmerlein und jeder ein hartes

Bett,

Die Kammer ist vier Schuh breit, das Lager ist ein

Brett.

Da liegen sie und schlafen viel lange Jahre hin;

Die Gräser zu ihren Häupten werden welk und werden

grün.

Zuletzt mit Engelschaaren, wenn der jüngste Tag an­bricht,

Kommt Jesus Christ gefahren zum Weltgericht.

Kamerad, der Weg läuft schnelle! Kamerad, wie wird's

dann sein?

Hab Acht, Hab Acht, Geselle, auf das Wirtshaus im

Mondenschein!

F. O.

Auflösung des Rätsels Nr. in 187.

Leumund."

Rätsel.

Ein Götze, den Aegyptenland Anbetend einst verehrt;

Längst hat die Zeit mit starker Hand Sein Heiligtum zerstört.

Ein Götze auch, doch anderer Art,

Erscheint das Wort uns jetzt.

Wenn sich mit ihm ein Zeichen paart.

Das klug voran man setzt.

Ihm dient so mancher schlechtefMann.

Von schnödem Geiz belhörl.

Und manches Herz sein Klang gewann,

Das sich von Gott gekehrt.

Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.