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Der Verlauf der dreitägigen Generaldebatte des Reichstages über die neuen Handelsverträge gestattet die Annahme, daß dieselben schließlich die Zustimmung des Parlaments finden werden. In den teilweise sehr bewegten Verhandlungen haben sich lediglich die Antisemiten und die Konservativen als unbedingte Gegner der mit Spanien, Rumänien und Serbien abgeschlossenen Verträge zu erkennen gegeben. Alle übrigen Fraktionen billigen, abgesehen von vereinzelten Ausnahmen, entweder die Verträge oder stehen ihnen wenigstens nicht gründsätzlich ablehnend gegenüber. Die Sozialdemokraten, die freisinnige Volkspartei, die freisinnige Vereinigung und wohl auch die süddeutsche Volkspartei werden auf'jeden Fall für die Handelsverträge stimmen, und sehr wahrscheinlich werden bei der entscheidenden Abstimmung auch der größte Teil der Rationallideralen, der Frei- konservativen und des Zentrums mit Ja votieren. Selbst wenn sich dann die Polen, die „Wilden" u. s. w. aus die Seile der Gegner der Verträge stellen sollten, so dürfte dies die Genehmigung der letzteren doch nicht verhindern, vorausgesetzt natürlich, daß keine überraschenden Zwischenfälle eintreten. Unter den obwaltenden Umständen ist nicht recht einzusehen, welchen praktischen Zweck die beschlossene Kommissionsberatung der Handelsverträge verfolgen soll, da ja Veränderungen an denselben als ausgeschlossen erscheinen, indessen hat sich nun einmal die große Mehrheit des Reichstages für die Spezialderat- ung in einem besonderen Ausschüsse entschieden. Was aber die soeben stattgefundene erstmalige parlamentarische Erörterung der neuen Handelsverträge anbelangt, so stach bei ihr die rein politische Seite entschieden hervor. Die gereizten Auseinandersetzungen über die Handelsverträge des „neuen Kurses", die sich zwischen den Regierungsvertretern, dem Reichskanzler und dem Staatssekretär v. Marschall einerseits, den Rednern der Konservativen anderseits abspielten, waren höchst bezeichnend sür die infolge der Handelsverträge entstandene neue politische Lage. Es ist nicht unmöglich, daß sich in der weiteren Entwickelung dieser Frage die Wege der Caprivi- schen Regierung und der konservativen Partei von einander scheiden, was in Anbetracht des Einflusses letzterer Partei abermalige ernste Krisen in unserer inneren Politik zur Folge haben müßte.
Der Reichstag ist am Montag in die erste Lesung des Etats eingetreten, womit die Frage, ob zunächst die Generaldebatte über den Etat der erstmaligen Lesung der Handelsverträge folgen solle, von selbst ihre Erledigung gefunden hat. Es wird versichert, die Regierung habe gewünscht, der Reichstag möge vorerst die Steuervorlagen erörtern, welchem ganz begreiflichen Wunsche vom Parlamente also nicht stattgegeben worden ist. Aber auch das andere, angeblich speziell durch Hrn. Dr. Miquel vertretene Verlangen der Regierung, der Reichstag möge mit der ersten Lesung des Etats zugleich diejenige des Reichsfinanzreformgesetzes verbinden, fand keine Würdigung, denn obwohl sich der Präsident am Schlüsse der Samstagsitzung in einem diesem Verlangen entgegenkommenden Sinne äußerte, entschied sich das Haus mit großer Mehrheit doch dahin, daß das Finanzgesetz noch zu warten habe. Wenn man will, kann man aus diesem an sich ja unbedeutenden Vorgänge herauslesen, daß im Reichstag gerade keine besonders freundliche Stimmung gegenüber den jüngsten Reformplänen des preuß. Finanzministers Dr. Miquel vorhanden zu sein scheint.
Berlin, 28. Nov. (Reichstag.) Finanzminister Miquel verbreitet sich über die Steuervorlagen. Gegen Re Reichseinkommensteuer liegt nach seiner persönlichen Anschauung kein staatsrechtliches Bedenken vor; er hält dieselbe aber für undurchführbar. Man muß vorher die Einzelstaatcn zwingen, ihr gesamtes Steuersystem umzuändern. Ein solcher Eingriff in das Leben der Einzelstaaten verträgt sich aber nicht mit der Verfassung. Die direkte Einkommensteuer als Zwangssteuer macht sich bei den Minderbegüterten weit fühlbarer als indirekte Steuern auf Genußmittel. die man teilweise entbehren könne. Es
ist schwer, eine indirekte Steuer zu finden, welche die Minderbemittelten nicht milbelastet. Für die Biersteuer war keine Mehrheit im Reichstag zu finden. Der Wein war von Reichswegen noch nicht besteuert. Die Wehrsteuer hat nur äußerlich ein sehr angenehmes Gesicht und war von der Regierung für jeden Dienstfreien in Höhe von 4 Mark in Aussicht genommen worden. Da schließlich auch die Erbschaftssteuer auf Widerstand stieß,' hat man auf die indirekten Steuern zurückgreisen müssen. Die Agitation übertreibt die Folgen der Tabaksteuer ungeheuer. Richter wendet sich gegen den bekannten Passus der Thronrede über die Sympathie-Kundgebungen, von denen man behauptet, sie seien durch die Militärvorlage beeinflußt werden. Man soll nie vergessen, daß in der Person des Monarchen nur das allen Parteien gemeinsame Vaterland verehrt wird. Redner protestiert gegen die gestrigen Auslassungen des Kriegsministers, dessen Rede den Sinn gehabt habe, was geht den Reichstag die Armee an? Er bemängelt, daß man dauernde Steuern fordere, während Heeresorganisation und Finanzreform nur auf 5 Jahre berechnet seien. Man hat überhaupt keine Veranlassung, neue Steuern zu bewilligen, solange noch Steuerprivilegien, Liebesgaben und Zuckerausfuhrprämien bestehen. Redner polemisiert sodann auf das heftigste gegen die neuen Sleuergesetze. Staatssekretär v. Posadowski: Die Regierung macht nicht Steuern auf Vorrat, sondern gerade soviel als erforderlich sind. Von der Abschaffung der Liebesgabe kann keiner reden, der die Notlage der Landwirtschaft kennt. Finanzminister Miquel zeigt, daß Steuerreform keine Machtfrage bedeutet, sondern nur gerechte Verhältnisse zwischen Reich und Einzelstaaten schaffen will. Frege (kons.) spricht seine Freude darüber aus, daß das geplante Attentat auf den Reichskanzler abgewendet worden ist. Redner tritt für Beschränkung des Telephonverkehrs und Besteuerung der Postpockete ein. Er polemisiert sodann für die Doppelwährung und spricht für Erhaltung der christlichen Gesinnung. Morgen: Fortsetzung der Etatsberatung.
Berlin, 28. Nov. Das Zentrum beruft alle Mitglieder zu der Jesuitendebatte dringend nach Berlin, da schon bei der ersten Lesung Zwischenfälle eine Abstimmung nötig machen könnten.
Berlin, 27. Nov. Unter dem 20 . Nov. haben diejenigen Aenderungen der deutschen Wehrordnung die kaiserliche Genehmigung erhalten, welche anläßlich des neuen Militärgesetzes erforderlich werden.
Kiel, 24. Nov. Bei seiner heute Vormittag 8 Uhr erfolgten Abreise ließ der Kaiser den Polizeichef und Bürgermeister Lorey in das Fürstenzimmer des Bahnhofs kommen und beglückwünschte die Kieler Polizei zu dem Erfolge in der bekannten Spionengeschichte. Die Verhafteten seien gefährliche französische Spione und aktive französische Offiziere.
Dem „Temps" wird aus Berlin gemeldet, die in Kiel verhafteten französischen „See- Spione", welche sich bei ihrer Verhaftung Daguet und Dubois nannten, hätten im Laufe der Untersuchung „lour Situation äans I'arinoo krantzaiss" d. h. ihre Eigenschaft als aktive französische Offiziere zugestanden. Sie würden übrigens unmittelbar nach ihrer Verurteilung vom Kaiser begnadigt und dann an die französische Grenze gebracht werden. Das wird abzuwarten sein. Der „Temps" meldet weiter, 200 Photographien und Croquis von hohem militärischen Werte seien bei den Spionen gesunden worden.
Köln, 28. Novbr. Aufsehen erregt die Verhaftung eines des bekanntesten hies. Maurermeisters, der eine große Zahl seiner Arbeiter nicht zur Kranken- und Unfallversicherungskasse anmeldete und dieserhalb falsche Bücher führte.
Wiesbaden. 28. Nov. Wie in der letzten Sitzung des hiesigen ärztlichen Vereins mitgeteilt wurde, sind hier fünftausend Personen an Influenza erkrankt. Fast in jedem Hause sind Kranke.
Für den Stand der Herbstsaaten in Deutschland Mitte November sind nach der
Zusammenstellung des kaiserl. statist. Amts, die sür die einzelnen Staate» und Landesteile im Reichz- anzeiger veröffentlicht wird, die Noten folgende' Nr. 1 bedeutet sehr gut, 2 gut, 3 mittel, 4 geringe, 5 sehr gering; die Zwischenstufen sind durch Dezimalen bezeichnet. Winterweizen 2.0 Winterspelz 1,9, Winterroggcn'1,9, junger Klee (auch Luzerne) 3.4. Eine vorläufige Schätzung des Ernteertrages die sich im November auf Hafer, Kartoffeln, Kl?e und Heu erstreckte, hat für das Reich im Ganzen ergeben als Ertrag vom Hektar: bei Hafer 1893 (100 k§) 10.7 (dagegen 1892 nach definit. Ermittlung (100 lech 11,9. Kartoffeln 134.1 (95,ö). Klee (auch Luzerne) 23,1 (28,8), Wiesen 22,3 (28,6).
Württemberg.
Stuttgart, 28. Nov. Am Freitag den I. Dezember abends 8 Uhr findet unter dem Vorsitz des Herrn Oberstudienrats Dill mann in dem großen Saal des Bürgermuseums eine seitens des Ortsausschusses der Deutschen Partei einberufene allgemeine Versammlung gegen die Weinsteuer statt.
Ulm, 23. Nov. Die in Ulm für eine neue Artilleriekaserne zum Vorschlag gebrachten Bauplätze sind von der obersten Militärbehörde sämtlich abgelehnt worden, woraus hier geschlossen wird, daß die neue FeldarnUerie-Abteilung nach Cannstatt oder Stuttgart kommt.
Ehingen, 24. Nov. Ein Bauersmann von Tiefenhülen, diesseitigen Oberamts, fuhr am letzten Dienstag mit einem Wagen Gerste auf die hiesige Fruchtschranne und verkaufte 42 Scheffel. Den Erlös, nämlich drei Hundertmarkscheine, that er in ein Schreibbuch und steckte dasselbe in die Rocktasche. Auf der Heimfahrt verlor er dasselbe samt Inhalt, und trotz eifriger Nachforschungen hat sich der redliche Finder dis jetzt nicht gemeldet.
Mergentheim, 27. Nov. Seit einigen Tagen werden die Jagden des Fürsten Hohenlohe- Jagstbecg fortgesetzt. Am Samstag wurde die Jagd in Wermutsyausen und heule die sogen. Eichhofjagd bei Niederstetten abgetrieben. Elftere lieferte 137 Hasen, wobei Fürst Hohenlohe- Bartenstein 38 Hasen und 2 Hühner zur Strecke lieferte, und letztere 219 Hasen, I Kapitalbock und 1 Kuder. Jedenfalls sind das die besten Jagden unserer Gegend.
Stuttgart. (Landesproduktenbörse. Bericht vom 27. Nov. von dem Vorstand Fritz Kreglinger.s Matt und lustlos war auch in abgelausener Woche die Stimmung für Brotsrüchte am Getreideweltmarkte; gegen Schluß der Woche trat eine kleine Befestigung ein. Die gut beschickten Märkte Süddeutschlands melden abermals einen kleinen Rückgang. Der heutige Hopfenmarkt war von Käufern gm besucht und es wurden ca. 50 Ballen in lebhaftem Verkehr abgesetzt. Preise: 50—205 v/L für geringe, 210—225 für mittlere, 230—235 für prima Waare. Die Börse ist gut besucht. Geschäft nicht sehr bedeutend. Wir notieren per 100 Kilogramm: Weizen, La Plata 17 Mk., rumän. 16 Mk. 75 Pf., niederbayr. 18 Mk. 50 Pf., fränk. 16 Mk. 50 Pf., Dinkel 11 Mk. 60 Pf. unberegnet, 11 Mk. beregnet, Gerste. Nördl. 19 Mk. bis 19 Mk. 25 Pf., Tauber 18 Mk. 25 Pf. fränk. 18 Mk. 75 Pf., Hafer, holl. 19 Mk. 40 Pf., rumän. 19 Mk., Alb 18 Mk. 60 Pf., bis 18 Mk. 80 Pf., gewöhnlicher 16 Mk., Mais 12 Mk, 50 Pf. — Mehlpreise per 100 Kilo. inkl. Sack bei Wagenladung: Mehl Nr. 0: 28 Mk. bis 29 Mk., Nr, 1: 26 Mk. bis 27 Mk., Nr. 2: 24 Mk. 50 Pf. bis 25 Mk., Nr. 3: 22 Mk. 50 Pf. bis 23 Mk. Nr. 4: 18 Mk. bis 19 Mk. Suppengries: 29 Mk. Kleie mit Sack 9 Mk. per 100 Kilo je nach Qualität.
Ausland.
Bern, 27. Növ. Der Bundes ral hob de» Beschluß vom 28. Juli, betreffend die Erhebung des Ausfuhrzolles von 50 Franken für einen Meterzentner Heu, Futlerkräuler und dergleichen, auf. Die Anwendung des Zolles auf Italien betrachtet die italienische Regierung nach Art. 2 des Handelsvertrages für unzulässig.
Aus der Schweiz. 27. Novbr. Das Dynamit- und Pulverlager der Bah» Zürich- Thalweil-Zug in Zürich ist vergangene Nacht erbrochen worden. Die Einbrecher raubten eine große Menge Dynamit und Pulver.
Fortsetzung in der Beilage.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.