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Deutsches Weich.

Die jetzt dem Reichstage zugegangenen und hiemit zugleich zur Kenntnis der Oeffentlichkeit gelangten drei Reichs st euer-Vorlagen erfreuen sich seitens der Tagespresse überwiegend keiner sonderlich günstigen Aufnahme. Man be­mängelt sowohl den Inhalt als auch die Be­gründung der neuen Steuergesetzentwürfe, wenn auch hierbei natürlich der Ton der Kritik ein sehr verschiedener ist, je nach dem Parteistand­punkt der einzelnen Blätter. Eine besonders abfällige Beurteilung erfährt die Branntwein­steuer-Vorlage wegen der Bestimmungen, wonach in der Praxis das Privilegium der großen Brenner bestehen bleiben soll, dergestalt, daß die Konsumenten die Lasten der Steuererhöhung zu tragen haben würden. Der ursprüngliche Re­gierungsentwurf wollte dieses Privileg allerdings beschneiden, aber bei der endgiltigen Beschluß­fassung des Bundesrates über die Brannlwein- steuervorlage wurde die betreffende Aenderunq zu Gunsten der großen Brenner vorgenommen, wie es heißt, hauptsächlich infolge einer Anreg­ung seitens Bayerns. Jedenfalls wird dieser Teil der Branntweinsteuer-Vorlage von der Linken im Reichstage besonders heftig ange­griffen werden.

Berlin, 10. Dezbr. Reichstag. Der Bundesratbevollmächtigte preuß, Kriegsminister v. Kaltenborn eröffnet die 1. Beratung der Militärvorlage, indem er die militärischen Gesichtspunkte bei Einbringung der Vorlage auf­führt. Die Vorlage solle die ungerechte Ver­teilung der Last der allgemeinen Wehrpflicht, sowie ihre unzureichende Wirkung in militärischer Beziehung beseitigen. In der Kommission werde er erweisen, daß das Ausbildungspersonal zur Durchführung der Präsenzerhöhung genüge, ohne daß eine Gefährdung der Armeeorganisalion eintrete. Die Vorlage führe eine Verjüngung der Armee herbei und schaffe die beste Organi­sation im Frieden, sowie die sicherste Bürgschaft für den Erfolg im Kriege, v. Hüne (Zentr.) erklärt, die zweijährige Dienstzeit entspreche, die gesetzliche Festlegung vorausgesetzt, den Windt- horst'schen Resolutionen und werde als wirt­schaftliche Erleichterung begrüßt. Das Zentrum werde die Vorlage strenge prüfen, hoffe aber mit der Regierung sich verständigen zu können. Richter (d.fr.) führt aus: Die Freisinnigen bewilligen, was zur Einführung der zweijährigen Dienstzeit erforderlich ist. Die Einführung derselben sei ein Triumph desLaien- verstandes über die militärischen Fachmänner. Das Programm der Freisinnigen verbiete die Annahme der Vorlage, da sie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unberücksichtigt gelassen habe. Der Reichskanzler werde bei einem willigeren Reichstag auf die weitergehenden Forderungen zurückkommen. Angesichts der Soldatenmißhand­lungen müsse man sich fragen, ob nicht die Unteroffiziere und Offiziere bereits zu jung seien. Der Pensionsetat werde sich um 6 bis 8, das Extraordinarium des Militäretats um 200 Mill. erhöhen. Reichskanzler Graf Capriv i: Richter sei zwar ein gewiegter Zahlenstatistiker, aber das innerste Wesen des Soldaten könne er doch nicht ganz beurteilen. Dafür könne nur die höchste entscheidende Stelle ein Urteil haben. Ich bin von der Notwendigkeit der Vorlage für die Fortcxistenz Deutschlands so überzeugt, daß. wenn der Reichstag mir seine Verantwortung auch noch auf die Schultern legen wollte, ich sie ruhig übernehmen würde. (Beifall.) Durch die Vorlage sollen jährlich 60 000 junge Leute mehr eingestellt werden, so daß in 12 Jahren (nach Abrechnung des Abgangs) 450 000 Mann mehr an den Feind gebracht werden können.

Berlin, 10. Dez. Caprivi sprach heute im Reichstag sehr überzeugend. Er betonte die Notwendigkeit der Vorlage für die Sicherheit Deutschlands in der stärksten Weise, alle Ver­antwortung auf sich nehmend. Er erklärte die Vermehrung der Präsenzstärke für den springen­den Punkt, hiemit zugleich dem Abgeordn. Hüne antwortend. Er erhielt mehrere Bravorufe.

Berlin, 10.Dez. DieJnterpellation betreffs der Gewehre (Buhl und Genossen) wird heute im Reichstag verlesen undH kommt

am Montag zur Besprechung. Sie lautet: Die im Prozeß Ahlwardt vernommenen militärischen Sachverständigen haben sich zwar entschieden für die gute Qualität der neuen Jnfantericbewaffnung ausgesprochen, nichts destoweniger erscheint es wünschenswert, wenn von höchster autoritativer Stelle eine Bestätigung und Bekräftigung dieses Urteils erfolgt. Die Anträge werden vom preuß. Kriegsminister beantwortet werden. Eine Debatte wird sich nicht daran knüpfen.

Berlin. 10. Dez. Der Seniorenconvent des Reichstages setzte den Beginn der Weih­nachtsferien auf den 16. Dezember fest, bis wohin die ersten Beratungen der Militärvorlage und der Steuervorlage erledigt sein werden.

Dem preuß. Landtage ging der schon angekündigte Gesetzentwurf, belr. die Verbesserung des Volksschulwesens uüd des Diensteinkommens ver Bolksschullehrer jetzt zu.

Herr Ahlwardt wird durch seine Wahl zum Reichstagsabgeordneten in Arnswalde- Friedeberg, sowie durch die seltsamen Zwischen­fälle in dem gegenwärtig gegen ihn schwebenden Judenflinten"-Prozeß offenbar immer mehr der Held des Tages". Wie jetzt feststeht, erfolgte die Wahl Ahlwardts zum Reichstagsabgeord­neten bei der Sichwahl am 5. d. Mts. mit überwältigender Mehrheit, denn er erhielt ins­gesamt 11206 Stimmen, während auf seinen freisinningen Gegner Drawe nur 3306 Stimmen fielen, die Antisemiten können demnach mit dem Ausfälle der Arnswalder Nachwahl einen be­merkenswerten Erfolg verzeichnen, was sich sonst auch hierüber sagen lassen mag. Bereits hat aber die Wahl Ahlwardt's einen beachtenswerten Nachklang gezeitigt. Laut einer Mitteilung des Reichsanzeigers" hat der preußische Minister­präsident Graf Eulenburg in seiner Eigenschaft als Minister des Innern dem Landrate des Friedeberger Kreises, v. Bornstedt, wegen Unter­zeichnung eines Wahlaufrufs für Ahlwardt seine ernste Mißbilligung zu erkennen gegeben! Was den Prozeß Ahlwardt anbelangt, so erregt der Umstand, daß der Verteidiger Ahlwardt's, Rechts­anwalt Hartwig, auf die weitere Verteidigung seines Clienten verzichtete, weil es der Gerichts­hof ablchnte, weiteres Beweismaterial zu Gunsten Ahlwardt's entgegenzunchmen, großes Aufsehen. Ahlwardt ist wegen dreier strafbarer Be­leidigungen zu fünf Monaten Gefängnis ver­urteilt worden.

16 konservative und antisemitische Mitglieder des Reichstages haben, einer Anreg­ung des Abgeordneten Liebermann von Sonnen­berg folgend, zugesagt, in Sachen der Aufhebung des gegenwärtigen Strafverfahrens gegen Ahl­wardt die Initiative zu ergreifen. Vermutlich wird der betreffende Antrag schon nächster Tage im Reichstage gestellt. Ob er angenommen werden wird, muß noch dahingestellt bleiben, jedenfalls dürfte aber der Antrag eine lebhafte Debatte über die gesamte Ahlwardt-Affaire ver­anlassen.

In der von 1200 Personen besuchten all­gemeinen Versammlung der deutsch­konservativen Partei zu Berlin bildete der Antlsemitismus den Hauptgegenstand der Verhandlungen. Die meisten Redner sprachen sich im Sinne einer entschiedenen Annäherung der Konservativen an die Antisemiten aus, wo­mit sie lebhaften Beifall in der Versammlung fanden. Ein Herr Blumenthal Dresden, welcher sich gegen die antisemitische Bewegung erklärte, da dieselbe mit dem wahren Konser­vatismus nichts gemein habe, mußte sich stürm­ische Unterbrechungen gefallen lassen. Ver­schiedene Redner äußerten sich unter Zustimm­ungskundgebungen aus der Mitte der Versamm­lung zu Gunsten Ahlwardts. Der aufgestellte Entwurf des neuen konservativen Programms wurde unter Streichung der Stelle, welche die Ausschreitungen des Antisemitismus als ver­werflich bezeichnet, gegen eine einzige Stimme angenommen. Von einer Anzahl konservativer Reichstagsabgeordneten, unter ihnen die Herren v. Helldorff. Flügge, Hartmann. v. Holleuffer u. A.. gelangte eine Zuschrift zur Verlesung, wonach dieselben erklären, auf dem Boden des alten konservativen Programms von 1876 zu stehen.

In einem Berliner Briefe derAllgemeinen Zeitung" wird als bisher noch nicht bekannt gewordene Thatsache mitgeteilt, daß Kaiser Wilhelm II. im März 1890 dem Reichskanzler Fürsten Bismarck als Mitgift zu dem Herzogs­titel das Angebot einer Dotation von einer Million Mark machen ließ, daß aber der Fürst unter Hinweis auf die Notlage der Arbeiter­kreise das Angebot abgelehnt habe.

Werner und Siemens ist gestorben. Der berühmte Physiker und Ingenieur war am 13. Dezbr. 1819 zu Lenthe in Hannover geboren. Die großen elektrotechnischen Werke in Berlin und Charlottenburg begründete er mit dem Mechaniker Halske im Jahre 1847. Erst in voriger Woche hat der Verstorbene seineLebens­erinnerungen" herausgegeben. Werner Siemens wurde bei Gelegenheit des Jubiläums der Ber­liner Universität zum vr. pliil., 1874 zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissen­schaften ernannt. 1886 schenkte er dem Deut­schen Reich 500 000 ^ zur Gründung der physikalisch-technischen Reichsanstalt. 1888 wurde ihm der Adel verliehen.

Berlin, 10. Dez. Dem feierlichen Leichen­begängnis des berühmten Elektrotechnikers Wer­ner Siemens wohnte der Reichskanzler, ein Vertreter der Kaiserin Friedrich, ferner die Minister v. Bötticher, Berlepsch und Schelling, sowie zahlreiche Vertreter der Kunst und Wissen­schaft bei, auch Vertreter der Städte Berlin und Charlottenburg und zahlreiche Abordnungen u. s. w. Dem Leichenzuge folgten viele Tausende, darunter 4000 Arbeiter der Siemensschen Fabrik mit dem Musikkorps der Gardeartillerie, der Gardedragoner und der Bergarbeiter.

München, 10. Dez. Gestern hat im Reichstagswahlkreise Kaufbeuren die Ersatz, wähl für den zum Rektor in Eichstätt ernannten klerikalen Abgeordneten Gymnasialprofessor Dr. Orterer stattgefunden. Nach den bisherigen Meldungen erhielten aus 67 Bezirken Bürger­meister Zinth (Zentrum) 3819, Landgerichtsrat Wagner (lib.) 2146, Dr. Sigl, Redakteur des Bayerischen Vaterland" (bayerischer katholischer Partikularist). 1683, Zitt (Sozialdemokr.) 694 Stimmen. Aus 80 Bezirken stehen die Mel­dungen noch aus.

Württemberg.

Vaihingen a. E., 8. Dez. Ter Ge­werbeverein hat in seiner gestrigen Voll­versammlung einstimmig beschlossen, der von dem württ. Schutzverein für Handel und Gewerbe ins Leben gerufenen Bewegung für Beschränk­ung des Handels der Hausierer und der lästigen, zu einer wahren Landplage gewordenen Detail­reisenden sich anzuschließen. Schließlich wurde noch ein Antrag angenommen, bei der Kgl. Staatsregierung darum nachzusuchen, daß die etwas fehlerhaft angelegte Steige zum Bahnhof einer Korrektion unterworfen werden möchte.

Ausland.

In Oesterreich passieren in der That die seltsamsten Dinge. So hat der Gemeinderat des czechischen Ortes Wrschowitz bei Prag in aller Form beschlossen, vom kommenden Neujahr die Steuern für die Regierung nicht mehr ein­zutreiben. Begründet wird dieser rebellische Beschluß damit, daß man es czechischerseits nicht notwendig habe, einer Regierung, die den Czechen so übel wolle, fernerhin noch Dienste zu er­weisen. Ob wohl die Regierung des Grafen Taaffe es für gut finden wird, gegen den wider­spenstigen Gemeinderat von Wrschowitz einzu­schreiten?

Wien, 8. Dez. Der heutige Tag ist für Wien traurigen Erinnerungen gewidmet, denn heute sind es elf Jahre, daß das Ringtheater abbrannte und einige hundert Menschen ihren Tod in den Flammen fanden.

Prag. 8. Dez. In Königgrätz gab es eine Sträflingsrevolte. 170 Sträfling empörten sich gegen die Srrafhausverwaltung wegen der schlechten Kost. Sie zertrümmerten Fenster, Thüren und Laternen, rissen das Pflaster auf und begannen die Strohsäcke anzuzünden. Mili­tär und Gendarmerie mußten die Rädelsführer, welche mit Messern und Steinen die Mitglieder