es ihr unangenehm, daß sie mit Karl davon gesprochen hatte.
„Ich komme ja so wenig dazu, einmal etwas zu lesen," sagte sie, als fühle sie die Notwendigkeit, sich zu entschuldigen.
„Um so anerkennenswerter finde ich es, daß Sie Interesse dafür haben," erwie- derte er.
Da waren sie ja beinahe in einer freundlichen Konversation begriffen. Tina erschrak förmlich bei dieser Wahrnehmung, und beeilte sich, das angebahnte gute Einvernehmen schnell zu zerstören, indem sie sagte:
„Es ist mir ganz gleichgültig, was andere darüber denken, und so sehr groß ist mein Interesse für Lektüre überhaupt nicht."
Sie versank wieder in ihre Wagenecke, und diesmal fand auch Karl nicht gleich ein neues Unterhaltungsthema.
Glücklicherweise war nun aber auch die Kirche erreicht, und während Karl seiner Dame beim Aussteigen behilflich war, und der Sonnenschein so hell auf ihr rotes Gesicht und ihre roten Blumen, auf die finster zusammengezogenen Brauen und das gebrannte, sich widerspenstig um ihren Kops sträubende Haar fiel, da dachte er:
„Wo habe ich nur meine Augen gehabt, daß ich sie am ersten Abend hübsch finden konnte!"
In der Kirche vermied er es, sie anzusehen, und die Rückfahrt machten sie beide schweigend, wobei Karl Seeberg das zwar nicht ganz klare, aber unbestimmt unangenehme Gefühl hatte, eine Enttäuschung erfahren zu haben, und Tina sich so unzufrieden mit sich selbst fühlte, wie es ihr nur an ganz besonders unglücklichen Tagen begegnete. Auch während des Mittagessens kam kein rechtes Gespräch zwischen ihnen zustande, und eine Stunde nach demselben reiste das junge Paar ab und die übrigen Gäste verabschiedeten sich nach und nach. Auch Karl Seeberg verabschiedete sich zeitiger, als es der Abendzug, den er zu seiner Rückreise benutzen wollte, nötig gemacht hätte, und nach all dem Trubel des Hochzeitstages war Tina mit ihrem Vater allein. Sie vertauschte das unbequeme Festgewand mit einem dunklen Hauskleide, überließ heute den Dienstboten das Ordnen und Aufräumen, um ihrem Vater Gesellschaft zu leisten, und setzte sich mit einer Handarbeit zu ihm vor die Hausthür, zwischen die blühenden Rosenbeete. Erst als es dunkelte, ging sie in das Haus zurück.
Sie trat in das Zimmer, zündete die Lampe an und deckte den Tisch für den einfachen Abendimbiß. Aber sie war heute zerstreuter als sonst, sie vergaß das geöffnete Fenster zu schließen, und Mücken und Mollen, welche das im Zimmer brennende Licht anzog, den Weg zu versperren, Mücken und Motten und auch neugierigen Blicken, denn unmittelbar hinter dem schmalen Vorgärtchen führte die Straße vorbei, die zugleich der Weg nach dem Bahnhofe war, und daher gerade um die jetzige Zeit, kurz vor Abgang des Zuges, öfter betreten wurde.
Heute war es aber nur ein einsamer Wanderer, welcher des Weges daher kam und einen Augenblick stehen blieb, als er sich dem Häuschen mit den blühenden
Rosen davor näherte. Auf dem Platz vor der Hausthür saß der Alte und blickte trübe sinnend vor sich nieder. Sein weißes Haar leuchtete förmlich im Schein des Vollmondes, der glänzend am Himmel stand.
Der einsame Wanderer sah auch Tina, wie sie, von der Lampe hell beleuchtet, den Tisch ordnete, und wie ihr nun die Hände in den Schoß fielen und sie leise vor sich hin sang:
Es ist bestimmt in Gottes Rat.
Daß man vom Liebsten was man hat Muß scheiden, ja scheiden!
Sie sah so sanft und traurig aus — war das dieselbe Tina, über deren mürrisches Wesen Karl Seeberg sich heute geärgert hatte?
Er schüttelte den Kopf, wie er jetzt an den Gartenzaun gelehnt dastand in das Helle Zimmer, dessen Mittelpunkt sie war, blickte, und als sie den Kopf hob und hinaussah, da setzte er seinen Weg so eilig fort, als sei er auf einem Unrecht ertappt worden. Der Alte vor der Hausthür war so in seine Erinnerungen vertieft, daß er gar nicht aufblickte, als der eilige Bahnhofwanderer an ihm vorüber schritt, dieser aber drehte sich in einiger Entfernung noch einmal um. Er sah den Hellen Lichtglanz, welcher aus dem Zimmer auf die Straße fiel, und glaubte noch immer zu hören:
„Muß scheiden, ja scheiden."
Er schüttelte den Kopf.
„Es ist eine Fata Morgana," murmelte er, „und die Tina, wie ich sie heute zum zweitenmale im Abendlicht gesehen, ist nicht dieselbe, wie sie mir bei Hellem Tageslicht und wachen Sinnen entgegentrat. Ich habe ihr einen Vortrag über das Träumen gehalten, der sich nicht ihres Beifalls zu erfreuen schien, und jetzt verspüre ich etwas in mir, das wahrhaftig wie ein Anflug von Talent zur Träumerei aussieht! Lächerlich, ein häßliches, unliebenswürdiges Mädchen ist sie. und ich wäre ein Narr, wenn ich — pah!"
Er schritt mit einer Eile seinem Ziele zu, als drohe hinter ihm irgend eine Gefahr.
Tina hatte inzwischen das offen gebliebene Fenster bemerkt und geschloffen. Dann trat sie hinaus zu ihrem Vater und lehnte sich still an den Pfosten der Hausthür. Dabei schweiften ihre Blicke hinaus über die mondbeglänzte Straße und blieben schließlich auf den Lichtern haften, welche vom Bahnhofe herüberflimmerten.
„Karl Seeberg wird jetzt schon dort sein", dachte sie, „und — er wird nie wieder zurückkehren."
Sie sah nach den flimmernden Lichtern und dabei klang ihr jedes Wort, das er heute gesprochen, und dem sie beinahe widerwillig zu lauschen geschienen hatte, deutlich vor den Ohren. Welch tiefe klangvolle Stimme er hatte, und wie richtig alles war, was er sagte. Tina drückte die Hände auf ihr Herz. Warum war ihr nur so seltsam beklommen zu Mute?
Ein Heller Pfiff klang durch die Stille des Abends, dann das Brausen und Rasseln des davoneilenden Zuges. Tina biß die Lippen aufeinander. Warum sollte sie seufzen? Was kümmerte cs sie, daß der
Zug davon brauste, seinem entfernten Bestimmungsorte entgegen? Sie beugte sich zu ihrem Vater herab.
„Es wird kühl, Vater," sagte sie, „willst du nicht in das Zimmer zurückkehren? Der Thee wartet auf dich."
Er erhob sich mit einem Seufzer. Er hatte kein freundliches Wort für die Hüterin seines Herdes übrig, all seine Gedanken weilten bei dem fernen Liebling. Tina wußte es, sie senkte den Kopf und folgte ihm schweigend in das Haus.
(Fortsetzung folgt.)
Die Influenza.
Von Dr. Hans Otto.
(Fortsetzung.)
Um einen Krankheitserreger handelt es sich nämlich. Der atmosphärische Einfluß, den schon die alten Beobachtungen annehmen ließen und der in der Bezeichnung Influenza (von inlluoro, hereinfließen) wie in dem deutschen Namen des Leidens, Grippe (von greifen, plattdeutsch gripen, französisch Zrippor) angedeutet wird, besteht in Wirklichkeit, wie wohl bei allen epidemischen Krankheiten, in einer bestimmten Spaltpilzart; Seifert in Würzburg hat dieselbe in Form eines Mikrokokkus, der im Nasenschleim und im Speichel der Erkrankten vorkomme, beschrieben. Ob das Leiden von einem Menschen auf den andern übertragbar ist, erscheint sehr zweifelhaft; es handelt sich also um eine Infektionskrankheit, die in der Luft liegt, wie Malaria, Lungenentzündung und andere, aber nicht von Person zu Person ansteckt. Die Erscheinungen ähneln zunächst einem heftigen Katarrh der Atmungsorgane, weshalb man zuweilen mit Unrecht starke gewöhnliche Bronchialkatarrhe als Grippe bezeichnet. Abgesehen von dem epidemischen Auftreten pflegt aber der Beginn bei der eigentlichen Grippe ganz plötzlich zu sein, ein Schüttelfrost oder ein längeres Frösteln eröffnet das Bild, die Körperwärme steigt schnell auf 40 Grad Celsius, um ebenso schnell wieder zu den gewöhnlichen 37 Grad zu- rückznkehren oder einige Zeit in mäßiger Höhe, etwa 38 Grad, anzudauern. Stirnkopfschmerz von zuweilen unerträglicher Heftigkeit. Unruhe, Schwindel- und Ohnmachtsgefühl, nicht selten Dilirien oder Benommenheit begleiten die bekannten Erscheinungen eines heftigen Schnupfens und Rachen-, Kehlkopf- und Luftröhrenkatarrhs. Appetitlosigkeit, Rücken- und Gliederschmerzen vervollständigen das Krankheitsbild, in dem manchmal auch Diarrhöe und Erbrechen nicht fehlen. Der ganze Zustand ist äußerst quälend und treibt die Kranken, die sich meist recht hoffnungslos fühlen, unwiderstehlich ins Bett. Zum Glück entspricht die Gefährlichkeit des Leidens nicht seinen Beschwerden; nach zwei oder drei, in schwereren Fällen nach vier oder fünf Tagen pflegt die Genesung einzutreten; viele Kranke erholen sich allerdings weit langsamer. Ein tötlicher Ausgang ist selten; es kommt vor, daß große Epidemien ohne Todesfall verlaufen; am ehesten sind schwächliche Greise und Kinder gefährdet, bei denen die Entzündung auf die Lunge übergrcifen kann.
(Schluß folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Meeh in Neuenbürg.