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nicht zu sehen war; als dieser slch iedoch umwandte, stieß Hektar einen furchtbaren Schrei aus. denn er hatte Gauliot erkannt und in demselben Augenblicke dicht hinter ihm das Schaffst erblickt.

Vor Schreck wäre er fast zusammen- gebrochen, aber er hielt sich an der Fenster­brüstung aufrecht, indem er schrie:

Haltet ein! haltet ein! . . . Dieser Mensch ist unschuldig!"

Er versuchte dabei das Fenster zu öffnen; seine Mutter aber, die wieder auf­gesprungen war, riß ihn mit Gewalt vom Fenster hinweg; und als er sich zur Aus­gangsthür wandte, mit dem Ruf:Ich muß hinaus!" da vertrat sie ihm den Weg und entgegnete entschlossen:

Nein, ich lasse Dich nicht . . .!"

Sie klammerte sich verzweiflungsvoll an ihn. denn jetzt, nachdem sie sich über­zeugte. daß ihr Sohn seines Namens nicht unwürdig war, war all ihr früherer Zorn verschwunden, und sie dachte nur an seine Rettung, gleichviel was sonst geschehen mochte.

Hektar!" ruft sie flehentlich,Du tötest mich, wenn Du diese Schwelle über­schreitest!"

Er stößt sie zurück und will sich mit Gewalt einen Weg bahnen, aber die Angst giebt ihr Riesenkraft und es gelingt ihr zum zweitenmal, ihn zurückzuhalten.

Habe Mitleid. Mutter!" bittet er nun seinerseits.Halte mich nicht zurück!... Wisse denn, daß ich es war. der . . ."

Sprich nicht weiter, Unglücklicher!" entgegnete sie. ihm den Mund verschließend. Ich weiß Alles!"

Wie? Du weißt . . .? Hast Du meinen Brief gefunden?"

Ja!"

Und hast ihn nicht abgeschickt? Oh!"

Mit Anstrengung aller seiner Kräfte reißt er sich aus ihrer Umarmung und stürzt zum Ausgang hin ... Da tönt vom Kirchturm der erste Glockenschlag, der die siebente Stunde verkündigt, und im nämlichen Augenblick bricht unten ein tausendstimmiges Geschrei aus, untermischt mit tobendem Beifallklatschen, wie die rohe Menge zu thun pflegt in dem Augenblick, wo der Nachrichrer sein trauriges Amt an einem zum Tode Verurteilten vollzogen hat

Hektar, der solche Szenen sehr wohl kannte. sank mit dem Bewußtsein. daß nun nichts mehr zu ändern, daß der Justiz­mord vollbracht sei. dicht neben der Thür kraftlos in einen Sessel. . . .

Die Volksmassen verließen, nachdem ihre Schaulust befriedigt war, lärmend und singend den Richtplatz und zerstreuten sich nach allen Seiten; die Wagen rasselten über das holprige Straßenpflaster zum Thore hinaus, während geübte Hände in überraschend kurzer Zeit das Schaffst niederrissen und dessen einzelne Teile aus einen großen verschließbaren Wagen luden, der alsbald im Galopp nach dem Bahnhof fuhr, um dort verladen und mit dem nächsten Güterzuge nach Paris zurückbe­fördert zu werden.

Nachdem dann auch die letzte Truppen­abteilung den Platz verlassen hatte, ge­währte dieser wieder den früheren ein­förmigen, friedlichen Anblick; nur einige Kirchengängerinnen betrachteten im Vor­

übergehen noch mit innerem Schauder die Stelle, wo das Schaffst gestanden hatte.

Inzwischen war es völlig Tag gewor­den, die Sonne ging hell und freundlich auf und warf ihre Strahlen in das Zim­mer hinein, wo Madame Lauziöre seit einer Stunde vor ihrem Betpult auf den Knieen lag, ihren Kopf auf die gefalteten Hände gestützt, während Hektar die gleiche Zeit hindurch unbeweglich auf seinem Sessel sitzen blieb und trostlos vor sich nieder starrte.

Endlich erhob er sich, als es vom Thurm der Kathedrale acht Uhr schlug, und ging langsam nach der Thür seines Schlafzimmers hinüber,

Mein Sohn. verzeihe mir!" rief Madame Lauzivre mit zitternder Stimme und bittend erhobenen Händen dem an ihr Vorübergehenden zu.

Er blieb stehen und blickte seine Mutter wehmütig an; da sprang sie auf und warf sich schluchzend in feine Arme.

Lange hielten sich Beide weinend um­schlungen ; die gemeinsam vergossenen Thränen gewährten ihnen eine gewisse Beruhigung. Sie fühlten sich an Geist und Körper gebrochen, und beiden erschien, ohne daß sie ein Wort darüber wechselten, der Tod als ein willkommener Erlöser aus den Qualen des Lebens.

Madame Lauziere faßte sich zuerst, sie schloß aus ihren eigenen Gedanken auf die ihres Sohnes, den sie an der Hand zum Fenster führte. Dort blickte sie ihm eine Minute lang fest in'S Auge, dann sprach sie feierlich:

Schwöre mir. daß Du Dich nicht töten wirst!"

Da er, staunend über den mütterlichen Scharfblick, der seine geheimsten Gedanken durchdrungen hatte, nicht sogleich antwortete, so wiederholte sie mit Nachdruck:

Schwöre es mir!"

Was soll mir noch das Leben?" er­widerte er düster.

Fühlst Du nicht, mein armes Kind, daß Dein Leben mein einziger Trost ist? Die Hoffnung, daß Dir immerhin noch glücklichere Zetten beschicken sein können, vermag allein mich vor der Verzweiflung zu bewahren! ... Du bist noch jo jung; vielleicht birgt die Zukunft für Dich noch große Freude die Deines Herzens Wunden heilen wird!"

Das wird niemals geschehen!"

Wenn Du nicht um Deiner selbst willen zu leben wünschest, so lebe um Deiner alten Mutter willen, die Dich auf ihren Knieen darum bittet! Alle Sorge und Angst, die ich an Deinem Krankenlager erlitten habe, sind Nichts im Vergleich zu den Leiden, die ich jetzt erdulde! . . . Wenn Du jetzt aus dem Leben schiedest, so wäre ich es, die Deinen Tod ver­schuldete! Denn es ist ja nicht Deine Schuld, daß eine Krankheit, während welcher Du viele Wochen ohne Bewußtsein warst und mit dem Tode rangst, Dich verhinderte, Deine Pflicht bis aufs' Aeußerste, bis zur Selbstaufopferung zu erfüllen, wie es Deine Absicht gewesen. O. verzeihe mir, mein Sohn, daß ich einen Augenblick an Dir zweifelte! . . . Aber vergiß auch nicht, daß ich jenen Zweifel

überlebte, weil ich Dich trotz alledem liebte. Fluche mir. wenn Du glaubst ein Recht dazu zu haben, aber lebe! damit ich nicht das fürchterliche Bewußtsein mit in mein Grab nehmen muß, die Ursache Deines Todes gewesen zu sein!"

Sie hatte Hektars beide Hände er­griffen, die sie vor ihm niederknieend, an ihre Lippen preßte. Ihr aufgelöstes weißes Haar fiel über ihre Schultern herab, ihr ganzer Körper bebte unter ihrem krampf­haften Schluchzen.

Da konnte Hektar nicht länger wider­stehen, er gedachte Alles dessen, was seine Mutter für ihn und durch ihn bereits ge­litten hatte. Hastig hob er sie auf, drückte sie an sein Herz und sagte zu ihr:

Ich werde versuchen, Deinen Wunsch zu erfüllen!"

(Fortsetzung folgt.)

Die Vergehen gegen das Nahrungs­mittelgesetz werden von einem großen Teile des Publikums mit einer verblüffenden Harm­losigkeit ausgesaßt. Wenn ein armer Teufel ein Brod stiehlt, um den Hunger seiner Kinder zu stillen, da bricht alle Welt den Stab über den schlechten Kerl", er wird bestraft und gilt als gerichtet, denn so ein bestraftes Subjekt gehört nicht in diemenschliche Gesellschaft"; wenn aber ein reicher Bäcker Schwerspath ins Mehl schüttet, ein reicher Schlächter finniges oder tuberkulöses Fleisch verkauft und dafür bestraft wird, dann hat alle Welt Mitleid mit dembedauernswerten Mann, der so honett und angesehen ist," mag seine Gewinnsucht auch die Bevölkerung einer ganzen Ortschaft in Gesundheits-Gefahr versetzt haben. Ein klassisches Beispiel dafür liefert das kleine Städtchen T. im Kreise Teltow. Am 29 . November fand daselbst die Stadtverordneten­wahl statt. Zu den abgelausenen Mandaten gehörte auch das des Stadtverordnetenorstehers, Schlächtermeisters K. Derselbe ist jetzt auf sechs Jahre wiedergewählt worden und wird aller Voraussicht nach zu Neujahr auch wieder durch das Vertrauen seiner Mitbürger zum Vorsteher des Stadtverordneten-Kollegiums gewählt wer­den, denn Meister K. ist reich und ein sehr an­ständiger Mann, er führt mit kräftiger Hand das Steuer der städtischen Verwaltung, und eS wäre gar nichts an ihm auszusetzen, wenn er nur besser verstünde, die Klippen des Nahrungs- mittelgesetzes zu umschiffen. Aber in dieser Be­ziehung hat Meister K. viel Pech. Es sind viel- leicht zwei Jahre her, da besuchte er in seiner Eigenschaft als Stadtverordneten - Vorsteher in Begleitung der übrigen Mitglieder der städt­ischen Bau-Deputation einen Neubau. Während der Abnahme fand er Gelegenheit, dem Polier zuzuflüstern, daß er zu Hause ein finniges Schwein hängen habe, das er für zehn Thaler losschlagen wolle. Der Polier ließ sich das nicht zweimal sagen, und kaufte dasbillige" Schwein. Der Handel wurde aber bekannt, die Staatsanwalt­schaft erhob Anklage und Meister K. wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Aber jetzt zeigte sich die Theilnahme der Einwohnerschaft im schönsten Lichte. Es wurde ein Gnadengesuch abgesaßt und mit zahlreichen Unterschriften ver­sehen abgesandt, das den Erfolg hatte daß der Verurteilte begnadigt wurde. Seit Beginn dieses Jahres schwebt aber gegen den Herrn Stadt- Verordneten-Vorsteher eine neue Untersuchung wegen Vergehen gegen das Nahrungsmittelgesetz. Diesmal soll derselbe eine tuberkulöse Kuh und diverse rotlaufkranke Schweine in den Verkehr gebracht haben. Im November sollte die Haupt­verhandlung stattfinden, dieselbe mußte aber vertagt werden, weil ein Belastungszeuge nicht zu ermitteln war. Aber auch in diesem zweiten Falle steht die Bürgerschaft treu zu dem schwer­geprüften Manne, und hat ihm bei der Stadt­verordnetenwahl bewiesen, daß Vergehen gegen das Nahrungsmittelgesetz nicht geeignet sind, die Integrität eines Stadtvaters anzutasten. (Es braucht nicht gerade ein Bäcker oder Fleischer zu sein; ähnliche Fälle können auch anderwärts Vorkommen.)

Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Meeh in Neuenbürg.