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dennoch die erforderliche Verfügung ausfertigen lassen.
„Wird die Sache bei der nächsten Session Vorkommen?"
„Ja, voraussichtlich! Wenn Sie, als Verteidiger, nicht etwa einen Einwand machen."
„Im Gegenteil, es ist mein lebhaftester Wunsch, daß die Angelegenheit sobald als möglich zur Entscheidung kommt!"
„Da sieht man, welcher Ruhmesdurst Sie erfüllt!" sagte der Richter, und fügte dann hinzu:
„Nacto aoiwo Mvercwö xuer!"
Hektar erhob sich lächelnd, dankte für die gütige Erfüllung seiner Bitte und wandte sich zum Gehen. Der Jnstruktions- richter begleitete ihn bis zur Thür, dort gab er ihm die Hand und sagte mit eigentümlicher Betonung:
„Wissen Sie wohl, daß bei Beginn der Untersuchung mein Verdacht auf einen ganz Anderen gerichtet war?"
Hektor bebte innerlich, denn er fragte sich, ob der Richter etwa gar die Wahrheit erraten habe? Scheinbar gleichgiltig sagte er jedoch:
„Auf wen denn?"
Mit einer geheimnisvollen Geberde auf den Gerichtsschreiber deutend, der eben, weil er sich unbeobachtet glaubte, herzhaft gähnte, erwiederte Herr Beulette:
„Auf Herrn Magnolet . . . weil der Unglückliche linkshändig ist!"
Dann brach er in ein schallendes Gelächter aus, in welches Hektor aus Gefälligkeit mit einstimmte, während er, sich nochmals verbeugend, durch die Thür verschwand.
Gauliot bewahrte auch seinem Advokaten gegenüber dieselbe starrsinnige Gleichgiltigkeit. die er während der ganzen Voruntersuchung zur Schau trug. Als er von einem Aufseher zur ersten Unterredung ins Sprechzimmer des Gefängnisses geführt worden war, fetzte er sich rittlings auf die Bank, welche nebst einem rohgezimmerten Tisch und einem Stuhl, dessen Sitz aus Stroh gepflochten war, das ganze Gerät jenes Zimmers ausmachte. Das Kinn auf die Faust gestützt, sah er unverwandt nach einer Ecke des Gemaches, als kümmere ihn die Anwesenheit des Advokaten gar nichts. Der seit seiner Verhaftung ungehindert gewachsene, rötliche, struppige Bart gab seinem Gesicht einen geradezu widerlichen Ausdruck.
Das war in der That eine echte Verbrecher-Physiognomie, die den Stempel des Lasters an der Stirne trug. In früheren Zeiten, als die Gerichte, in Ermangelung überzeugender Beweise, einen Angeklagten häufig auf Vermutungen hin verdammten, würde man diesen Menschen schon wegen seiner Erscheinung verurteilt haben. Hektor konnte sich, ungeachtet seiner ^Gewißheit, daß Gauliot unschuldig sei, bei dessen Anblick eines gewissen Schauders nicht erwehren.
Er unterdrückte dieses Gefühl jedoch mit Gewalt. Was lag an dem widerwärtigen Aussehen dieses Menschen, ja selbst an der Rohheit seines Charakters und an seiner moralischen Unwürdigkeit? Hier handelte es sich darum, daß er un
schuldiger Weise die Folgen eines Ver- !gehens tragen sollte, das ein Anderer, das er selbst, der Advokat des Beschuldigten, begangen hatte!
Dafür schuldete er dem Unglücklichen nicht nur seine volle Teilnahme und seine moralische Beihilfe, sondern auch jede anderweitig mögliche Entschädigung. Selbst nachdem es ihm gelungen sein würde, Gauliots Freisprechung zu erwirken, blieb Hektor Demjenigen noch immer zu unendlichem Dank verpflichtet, der in Folge eines obrigkeitlichen Irrtums unbewußt den eigentlich Schuldigen rettete und zugleich die Ehre der Gräfin von Vidione von den Berläumdungen der bösen Welt schützte!
Nachdem der Gefangene verschiedene an ihn gerichtete Fragen gänzlich unbeantwortet gelassen, versuchte der Advokat ihn dadurch zum Reden zu bringen, daß er zu ihm von seiner Tochter sprach. Er erzählte, wie die kleine Simione es angefangen, ihrem Vater einen Verteidiger zu verschaffen. Aber schon nach den ersten Worten fuhr Gauliot zornig auf:
„Dieses Geschöpf ist meine Tochter! Ich kann sie nicht mehr als solche betrachten, . . . denn durch ihre Schuld bin ich ungerechter Weise eingesperrt worden! Sie ist eine Heuchlerin, eine Scheinheilige, die niemals widerspricht, aber hinter dem Rücken ihre Ränke schmiedet. Das ganze Ebenbild ihrer Mutter, . . . von meinem Blut hat sie gar nichts! Wenn sie mir jemals wieder unter die Hände kommt, soll sie ihren Lohn schon kriegen! Und wenn man mich dann einsperrt, so weiß ich doch wenigstens warum!"
Hektor versuchte vergeblich den Wütenden zu beruhigen; sein Zureden veran- laßte diesen im Gegenteil zu immer lauteren Drohungen, so daß schließlich der Ge- sangenwärter herbeieilte. Man führte den Angeklagten in seine Zelle zurück, und der Advokat entfernte sich, sehr entmutigt durch den Verlauf, den diese Angelegenheit nahm.
Die nachfolgenden Unterredungen waren weniger stürmisch als jene erste. All- mählig beruhigte sieb Gauliot; sein anfängliches Mißtrauen gegen den Advokaten nahm in demselben Maße ab, wie des Letzteren Teilnahme wuchs. Eines Tages ließ er sich sogar zu einigen Aeußerungen herbei über das gegen ihn eingeleitete Verfahren.
„Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was man eigentlich von mirwill!" sagte er. „Den Grafen von Vidione habe ich im Leben nicht gesehen, ich kenne nicht einmal seinen Namen! Das Ganze ist nichts als eine boshafte Erfindung, um einen armen Kerl, wie ich bin, in's Verderben zu stürzen. Aus Aerger darüber, daß Framin ihnen entwischte, haben sie mich gepackt, weil sie einen Sündenbock brauchten, und ich keinen Menschen mehr habe, der mich beschützt. — An einem Mann wie Sie, Herr Lauziere, hätte man sich gewiß nicht vergriffen! Es ist wahr, ich habe Framin, einen guten Freund aus meiner Gefängniszeit, bei mir in Val-aux- Mousses versteckt gehalten, und nachher bis an die belgische Grenze gebracht, weil man doch einen Kameraden in der Not
nicht verlassen kann. Wir stiegen über die Mauer des Schloßparks von Brosseles um den Waldweg zu vermeiden, wo man uns hätte begegnen können. Daher auch die Fußspuren. welche jener Polizeispion entdeckte. Aber ich frage Sie, ist das Alles so viel Aufhebens wert?"
Hektor unterließ es, ihn noch weiter auszufragen, wie er es wohl einem andern Angeschuldigten gegenüber gethan haben würde; er bedurfte ja keines Beweises, daß Gauliot an dem Verbrechen, dessen man ihn anklagte, unschuldig sei. Er sprach ihm vielmehr Mut ein. und that auch sein Möglichstes, um dem Gefangenen die Haft erträglicher zu machen.
Gauliot nahm alle ihm erwiesene Vergünstigungen mit mürrischem Gleichmut hin, als ob sich das so gehörte. Er war froh, daß der Jnstruktionsrichter ihn nicht mehr mit Verhören belästigte, und brachte die Zeit in sorgloser Ruhe zu, eine Pfeife nach der andern rauchend.
Inzwischen kamen die Prozeß-Akten von der Anklagekammer zurück, und die Gerichtsverhandlung wurde auf den 6. November angesetzt.
Als Hektor den Angeklagten davon in Kenntnis fetzte, rief dieser:
„Beim Satan! es ist auch hohe Zeit! In dieser verdammten Zelle kommt man vor lauter Langweile um! ... Also noch zwei Wochen, sagen Sie . . .?"
„Ja, Gauliot! . . . Verlieren Sie die Hoffnung nicht; in zwei Wochen sind Sie frei!"
Diese Versicherung war nicht nur eine jener üblichen Tröstungen, wie die Verteidiger sie ihren Clienten zu spendm pflegen, vielmehr war Hektor entschlösse», für den Fall, daß die Geschworenen trotz alledem ein „Schuldig" über Gauliot aussprechen sollten, den Brief, welchen er seiner Zeit an den Prokurator der Republik geschrieben und der sich noch immer un Schubkasten seines Schreibtisches befand, unverzüglich abzusenden, um sich selbst als schuldig zu erklären.
„Oh, wissen Sie," erwiederte Gauliot auf die tröstenden Worte seines Advokaten, „wenn man mich für schuldig erklärt und den Kopf abschlägt, so ist mir das auch recht! Das Leben hat gar keinen Wert für mich!"
„So dürfen Sie nicht sprechen, Gauliot! Sie stehen ja nicht allein in der Welt!"
„Wenn Sie damit auf meine entartete Tochter anspielen, so sage ich Ihnen: die wird sich schon selbst forthelfen! Bin ich doch sicher, daß wenn man mich um einen Kopf kürzer macht, Sie selbst, Here Lauziere, das Mädchen nicht im Stiche lassen werden!"
„Gewiß nicht! Das Kind hat meine Teilnahme in hohem Maße erregt, und ich kann die üble Meinung, welche Sie von ihr haben durchaus nicht billigen!
„Aha, ich merke schon, die Dirne hat Sie bethört! Nun ja, Sie ist nicht allzu
häßlich! . . . Allerdings ein bischen hager
und dürftig, aber das ist Geschmacksache!"
(Fortsetzung folgt.;
Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Meeh in Neuenbürg.