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Calw, 3. Dez. Bei unserer Gemeinderathswahl hat der von konservativer Seite, dem Bürgerverein, ausgegangene gemischte Vorschlag vollständig und mit beträchtlicher Mehrheit gesiegt. Es haben mehr als der Berechtigten abgestimmt. — Am Sonntag feierte der Vetranen- (Krieger) Verein die Erinnerung an Champigny und Villiers durch einen Ausflug nach Hirsau.
Neuenbürg, 5. Dez. Seit gestern anhaltend Schneefall mit Wehen, der insbesondere den Marktverkehr sehr beeinträchtigte.
Aus Villiers-Champigny, 30. Nov., erhalten wir von einer Anzahl Württemberg» folgende Zuschrift: Wie im vergangenen, so vereinigte auch in diesem Jahre eine Gesellschaft Württemberg», um aus Anlaß der Jahrestage der Kämpfe um Villiers und Champigny das daselbst errichtete Grabdenkmal zu besuchen. Die Sorgfalt, mit welcher das Denkmal von der Behörde unterhalten wird, wirkt auf's Angenehmste auf den. Besucher ein; auch überzeugten wir uns zu unserer große» Befriedigung, daß der im vorigen Jahre niederqelegte Kranz mit schwarzrolher Schleife sich noch an sein» alten Stelle inmitten des Altars der Grabkapelle befindet. (S. M.)
Ausland.
Moskau, 2. Dez. Gestern Abend, als sich der Kaiser bereits hier befand, verunglückte ein zweiter, noch unterwegs befindlicher kaiserlicher Zug durch Explosion; ein Bagagewagen wurde in die Luft gesprengt, sieben Waggons entgleisten, keine Menschen verletzt. (S. M)
Moskau. 3. Dez. Die Moskauer Zeitung veröffentlicht einen Bericht von Augenzeugen im Bagagezuge üb» die Katastrophe. Der Berichterstatter eilte in die nächste Kaserne, um zu telegraphiren, fand jedoch die Telegraphenleitung durch umgestürzte Telegraphenpsvsten zerrissen. Die Spuren führten in das nächste Haus, welches leer stand. Der Untersuchungsrichter fand unter dem Schnee des Hofes Drähte, und durch diese auch die Batterie in einer Scheune auf, von wo leicht die vorübersahrenden Züge beobachtet werden konnten. Ein junger Manu kaufte im September das Haus. Unter dem Vorwand, Saud aus dem Keller aus- zusühren, wurde die Erde aus dem Kanal, der für die Mine bestimmt war, ausgesührt. — Daß der Zug des Czar-n die durch Dynamit unierminirte Stelle des Bahnkörpers ungefährdet passirie, wird zunächst dem Umstande zugeschrieben, daß der kaiserliche Train langsam über jene Stelle fuhr. Von anderer Seite wird zur Erklärung darauf hingewiesen, daß bei Reisen des russischen Kaisers auf der Eisenbahn der Zug stets in zwei Theile, oder eigentlich in zwei Züge zerlegt wird, von welchen der erstere zur besonderen Sicherheit des im zweiten befindlichen Kaisers eine Strecke voraus fährt. Neuerdings hat man nun aber ab und zu in aller Stille die Reihenfolge der beiden Trains verwechselt und den Zug des Kaisers vorn rangirt. So war es auch in dem vorliegenden Falle geschehen, und diesem Umstand verdankt vielleicht der Kais» seine Rettung. — Man erinnert sich übrigens, daß einem Peters
burger Telegramm zufolge zwei Tage bevor Kaiser Alexander die Reise in Livadia antrat, in Elisabethgrad auf der in Charkow zu der Route Simferopol-Moskau-Peters- bürg führenden Zweiglinie ein Individuum verhaftet wurde, das Gilt- und Explosions- stoffe mit sich führte. — AUe VermuIhungen richten sich am ein mit Raffinement angelegtes und mit satanischer Energie operiren des Complolt.
Miszellen.
Der Kosaken-KeLmann.
(Von Emilie Heinrichs).
(Fortsetzung.)
„Kannst Du leise auftreten?" fragte Emma besorgt, „der Papa hat einen leisen Schlaf".
„Hm, bin eben kein Leisetreter", meinte Detlev, „wenn ich wollene Socken über meine Stiesel ziehen könnte —"
Emma nickte erfreut, sie hatte dem Vater erst soeben ein Paar neue Sock-ii vollendet, — die der Flüchtling auch sehr wohl gebrauchen konnte. Es ging vortreff lich, sein Schritt war jetzt uuhörbar, den Nest der Speisevorräthe mußte er noch in die Tasche stecken und schließlich drückte sie ihm eine volle Börse in die Hand.
„Emma," bat er betroffen und abwehrend.
„Hast Du denn Geld genug, Detlev?"
Das nicht, indessen —"
„Nun, warum willst Du meinen Spar Pfennig nicht annehmen ? Es ist mein Eigenthum, ich kann damit schallen und walten nach Belieben; nimm es als Darlehen—"
„Es sei, Emma, Du bist nun einmal mein guter Engel und sollst es auch ganz sein. Vorwärts denn in Gottes Name» !"
„Wodin willst DuDich wenden, Detlev?"
„Mein nächstes Ziel muß Glückstadt sein, um nach Hamburg zu entkommen. Liegen Boote aus der Stör?"
„Gewiß, gleich hinter unserm Garten wirst Du das Unsrige finden, benutze es ohne Bedenken. Papa kann ein neues an- lchaffen."
Das junge Mädchen schritt mit dem Lichte voran, Detlev folgte ihr geräuschlos. Sie erreichten den Flur und die Hosthür, welche von innen verschlossen und verriegelt war. Emma öffnete und blies dann das Licht aus.
„Lebe wohl!" flüsterte Detlev.
„Ich begleite Dich durch den Garten," sprach das muthige Mädchen leise und fest. — Hand in Hand eilten sie dahin, mit leichten unhörbaren Schritten.
Wie oft hatte sich Detlev auf den.Wellen des kleinen Flusses geschaukelt, sie waren ihm bekannt wie der heünathliche Boden unter seinen Füßen, von welchem er vor aussichtlich für immer Abschied nehmen sollte, ein armer, verfolgter Flüchtling.
Dort lag ein Boot, es war in der Dunkelheit kaum zu erkennen.
„Lebe wohl, Emma", flüsterte Detlev, das jetzt heftig zitternde Kind an seine Brust pressend und einen leisen Kuß auf die reine Stirn drückend. „Gott vergelte Dir, was Du an mir gethan in dieser furchtbaren Nacht. Ich werde es nie, niemals vergessen und D»n Bild als Schutzgeist in meinem Herzen bewahren."
„Gott behüte Dich, lieber Detlev", sprach Emma mit Anstrengung, „bleibe nnr gut, dann wird er Dir beistehen wie in dieser Nacht. Lebe wohl!"
Er sprang in das Boot, ergriff die Ruder und stieß ab. Emma horchte, so lange sie das leise Plätschern vernehmen konnte. Dann kehrte sie rasch in's Haus zurück, wo sie nach wenigen Minuten er. schöpft und zitternd auf ihr Lager hinsank.
Als die Haushälterin sie am nächsten Morgen wie gewöhnlich wecken wollte, fand sie Emma todlkrank, und der erschreckte Phynkus entdeckte mit lödllich» Angst die Symptome eines herannahenden Nerven- fiebers.
Was der erfahrene Arzt aus ihren wilden und angstvollen Fieberlräuiiien später erlauschte, mag ibn wohl auf manchen ! absonderlichen Gedanken geführt und viel ! Nachdenken verursacht haben. Doch war der Herr Physikus klug genug, davon § keinem Menschen etwas zu entdecken. i
Der Stiefsohn des chrenwerthen Senators Dierking war spurlos verschwunden, u-d noch lange zehrten die Bürger der kleinen Stadt an diesem Ereignisse, bis der Krieg, welcher von Frankreich aus halb Europa in Angst und Schrecke» versetzte, dasselbe als unbedeutend dem Strom der Vergessenheit anheim gab.
Der Herr Senator behielt stillschweigend das große Vermögen seiner verstorbenen Frau, da keine weit-ren Erben, als der verschollene Detlev, der sich nicht ungestraft wieder in die Heimalh zurückwagen durfte vorhanden waren. Da er noch ein Mann in seinen besten Jahren war, so tadele ihn Niemand, als er sich nach zwei Jahren wieder verbeirathcle, und zwar mit der Tochter jenes dänischen Beamten, dessen Sohn der arme Detlev im Duell gelödtet haben sollte. j
Als Emma, welche noch lange an den ! Folgen jener schreckensvollen Nacht leid,» mußte, nach ihrer Genesung die Wieder. Herstellung jenes Todtgeglaubten erfuhr, sprach sie kein Wort, doch war ihr Herz von Dank gegen Gott erfüllt, welch» den Mord von dem Haupte des armen Flächt- !
lings genommen. '
Alle Jugendlust schien sie verlernt zu haben, nur selten sah man sie lächeln ; dock wenn der Senator Dierking ihr väterliches Haus betrat, schloß sie sich regelmäßig ein, und war weder durch Güte noch Drohung von ihrem Willen, ihm nicht zu begegnen, >
abzubringen.
Der Vater mußte das seltsame Mädchen gewähren lassen und schob den unnatürlich-u Ernst desselben auf jene Nervenkrankheit, welche manche unheilvolle Spuren zu hinterlassen pflege.
Sechs Jahre waren seit jener fürchterlichen Nacht vergangen, sechs Jahre der Schlachten und Siege, welche den Kriegsgott Bonaparte auf die Zinne der höchsten irdischen Größe getragen hatten, bis ihm endlich, als sein maßloser Ehrgeiz die Weltherrschaft an sich reißen wollte, die Nemesis ein furchtbar gebieterisches Halt entgegen« vomierte.
(Fortsetzung folgt.)
Mit einer Beilage.
Redaktion, Druck und Vertag von Jak- Meeh in Neuenbürg.