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willig in dem Fenster des Nachbars eingeschlagen ? Der Angriff auf die Fenster war's, was seine Ehre befleckte; und Frankreichs Ehre kann nur durch Frankreichs tiefste Reumüthigkeit wieder hergestellt werden, und durch den ernsten Ent­schluß, es nie wieder zu thun. Augenblicklich aber das muß ich sagen erscheint Frank­reich mehr und mehr wahnwitzig, elend, tadlens- werth, bemitleidenswert) und sogar oerachtens- werth. Es weigert sich die Thatsachen so zu sehen, wie sie ihm handgreiflich vor Augen liegen. Ein in anarchisches Verderben zersplittertes Frank­reich, ohne anerkanntes Haupt, mit Ministern, die -in Luftballons aufsteigen und als Ballast nichts mitnehmen, als schmähliche öffentliche Lügen und Proklamationen von Siegen, die nur Hirn- gespinnste sind; eine Regierung, welche sich ge­radezu von der Verlogenheit nährt, welche will, daß das Blutvergießen fortgesetzt werde, und sogar eher noch zunehme, als daß sie schöne republikanische Pflanzen, wie sie sind vom Staatsruder gedrängt werden; ich weiß nicht, wo oder wann eine Nation zu finden wäre, die sich je so mit Unehre bedeckt hätte.

Das Quantum absichtlicher Verlogenheit, welches Frankreich in letzter Zeit, und zumal seit dem Juli, zu Markte getragen hat, ist etwas Wunderbares und Furchtbares, und selbst dieß ist vielleicht noch klein im Vergleich mit der Selbsttäuschung und der unbewußten Liebe zur Unwahrheit, die seit lange schon unter den Fran­zosen herrscht. SeineMänner vom Genie", seine unbekannten Größen auf allen Gebieten der Literatur, sind offenbar der Ansicht, daß neue himmlische Weisheit sich vom Mittelpunkte Frankreichs in Radien nach den andern über­schatteten Ländern verbreite, daß Frankreich der neue Berg Zion des Universums sei, und daß all der traurige, schmutzige, halb aberwitzige und zum guten Theil höllische Kram, den die fran­zösische Literatur uns seit 50 Jahren vorgepredigt hat, das wahrhafte neue Evangelium vom Himmel sei, welches allen Menschenkindern den Segen bringe. Allein aus Dankbarkeit für diese von Frankreich empfangene Erleuchtung wird ihm noch lange nicht ganz Europa zu Hülfe eilen, und selbst wenn ganz Europa wollte, könnte es jenen schrecklichen Bundeskanzler nicht daran ver­hindern, daß er seinen Willen durchsetzt. Metz und die Gränzmark wird diesem Bundeskanzler fürchterlich schwer zu entreißen sein. Und faßt man alles ins Auge, was sich seit Seda» ereignet hat. so muß man es der Mäßigung des Grafen Bismarck hoch anrechnen, daß er bei dieser For­derung ruhig stehen bleibt, daß er nichts mehr verlangt, aber fest entschlossen ist, sich mit nicht weniger zu begnügen.

Miszellen.

Die rettende Hand.

Novelle von Otfried Mylius.

(Fortsetzung von Nr. 86.)

Der ernste, strenge Blick, womit Herr Traut­mann diese Worte begleitet, belehrte den Lieu­tenant zur Genüge, daß sein Spiel verloren und der Onkel mit einem Entschlüße hieher ge­kommen sei, von welchem er nicht abgehen werde.

Eine dumpfe Verzweiflung bemächtigte sich seiner, als er sich so machtlos in den Händen Anderer sah und begriff, daß ihn hier nichts retten konnte, als stille Ergebung in das Unabwendbare. Nur zwei Dinge lenkten seine Gedanken noch einiger­maßen von dem Vorsatz eines Selbstmords ab, mit welchem er sich schon den ganzen Morgen beschäftigt hatte: das eine war die Neugier, auf welche Weise Onkel Trautmann als Haupt der Familie ihm helfen werde, damit er nachhaltig und für immer aus den Klauen der Wucherer herauskomme; das andere war der Gedanke, wie er den abscheulichen schmierigen Kerl loswerde, der ihm zum Wächter bestimmt war.

Ich warte noch immer auf deine Antwort, Alfred!" Hub Herr Trautmann nach einer Weile wieder an.Willst Du auf meine Bedingungen eingehen oder nicht?"

Verzeihung, bester Onkel; Ich will ich füge mich in Alles!" versetzte der Lieutenant rasch.Vergeben Sie mir, wenn ich nicht so­gleich antwortete! Ich war in Gedanken ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht ich bin unfähig zu denken o bitte, bester Oheim! denken, fragen, handeln Sie für mich ...."

Die erste Bedingung, au welche ich mein Einschreiten knüpfe, ist Dir nun bekannt: Du hast mir bis morgen früh ein vollständiges Ver­zeichniß aller Deiner Schulden einzureichen, wo­rauf ich einen Familienrath zusammenberufen und alle nöthigen Schritte einleiten werde!"

Und einstweilen kommt es zum Wechsel­arrest, zum Schuldthurme, und ich bin verloren!" sagte Alfred bitter.

Herr Trautmann zuckte die Achseln.Ist es unsere Schuld, Alfred, daß es so weit kam?" fragte er.Frage Dein Gewissen, wer diese Sache in thörichter Verblendung so weit getrieben hat, und klage dann allein Denjenigen an, wel­chem die Schuld zufällt! Doch genug hievon: einmal muß es zum Bruche kommen, ob heute, ob morgen, bleibt am Ende gleichgültig!"

Der Lieutenant war dem Weinen nahe vor ohnmächtiger Wuth, Scham und Verzweiflung; er fand keine Worte mehr, denn jeder Versuch zu reden wäre in Weinen ausgeschlagen. Traut­mann bemerkte dieß und erinnerte ihn noch ein­mal an die besprochene Vorbedingung, indem er sich zum Gehen anschickte.

Nur noch Ein Wort, bester Onkel!" bat Alfred weich,Ist es wirklich unmöglich, mir die Schmach der Pfändung und des Wechsel­arrestes zu ersparen?"

Rein unmöglich; um mit allen Deinen Gläubigern ein Abkommen zu treffen, darf nicht ein Einzelner zum Schaden der übrigen befriedigt werden," sagte Trautmann.Die Sachlage heischt dieß gebieterisch."

So entfernen Sie wenigstens den gemeinen Kerl, den Sie vorhin hier getroffen haben!" bat Alfred, froh, einen Grund zur Beschwerde und einen Gegenstand zu finden, ans den er seine Herzens-Bitterkeit abladen konnte,Ich soll ja schreiben, soll meine Gedanken beisammen haben, und das ist unmöglich, so lange jener Kerl mit mir im Zimmer ist und mich durch seinen stum­men Hohn fortwährend neckt und aufregt!"

(Fortsetzung folgt.)

Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Me eh in Neuenbürg.