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und dem Boulevard St. Michel von der unge­heuren Erdtiefe; d. h. das ganze Faubourg St. Michel, St. Jacques, St. Marcel, bis an die Grenzen des Faubourg St. Germain steht auf dem ungeheuren Grabe, das sich Paris selbst gegraben, und in welches es sich eines Tages stürzen würde, wenn die dünne Kruste zwischen ihm und der Unterwelt nachgäbe. Dies; zu verhindern hat man seit Mitte vorigen Jahr­hunderts unaufhörlich gearbeitet.

Man schloß die Steinbrüche und sing an, die Höhlen auszufüllen und die Decken zu stützen. Es war im Jahr 1785. Bis dahin hatte Paris seine Tobten immer auf Kirchhöfen bestattet, welche mitten in der Stadt lagen; aber da waren diese Kirchhöfe voll. In Paris sterben jetzt jährlich über 42,000 Menschen, also damals im Verhältniß etwa 20,000. Die neuen An­kömmlinge zu fassen reichten die alten Kirchhöfe nicht mehr aus; der älteste war der der Un­schuldigen (Cimetiere des Jnnoccnts). Vier Jahre vor Ausbruch der Revolution fing man an, die Kirchhöfe außerhalb der Stadt anzu­legen, und diejenigen in der Stadt ihres tausend­jährigen Inhalts zu entleeren. Man wählte hiezu die Katakomben, welche damals leer waren, um die 6 Millionen Tobten dort aufzuspcichern. Zu dem Ende weihte der Erzbischof von Paris die unterirdischen Räume feierlich ein und der große Leichenzug begann; zuerst machte man mit dem Kirchhof der Unschuldigen den Anfang und die Gräber der andern 13 Kirchhöfe folgten. 15 Monate lang wurde gegraben, rollten die Wagen hinaus mit Moder beladen, versenkte man Tausende auf einmal, die Reste der Welt. Dann schichtete man im Innern die Gebeine auf, baute Altäre daraus, man machte Galerien und Straßen die sich gebildet, nach den Straßen, die oberhalb Paris mit ihnen korrefpondiren. So hat sich unter dem Paris, das stets lustig ist, ein anderes Paris gebaut eine Todtenstadt, lichtleer bis auf das Lämpchen des Arbeiters der darin herumkriecht. Tagelang kann man da herumirren, ohne den Ausweg zu finden. Denn endlos windet sich dieses Straßennetz unter der Erde dieser Todtenstadt. Die Obrigkeit sah sich veranlaßt, den Besuch der Katakomben Niemand zu gestatten, weil Unglücksfälle vorkamen. Nur die Arbeiter, die dazu verdammt sind, in diesem Paris des Schreckens zu arbeiten, damit das obere Paris sicher sei, wandern in diesen Straßen. Siebenzig verschiedene Treppen führen aus ver­schiedenen Gegenden in die Katakomben. Nach jenem großen Leichenzug von 1785 bewegte sich nur noch einmal ein allerdings kleinerer schreck­licher Conduct nach den Katakomben: es war im Jahr 1792 im September. Die noch blutenden Reste der Prinzessin Lamballe, der liebenswür­digen getreuen Freundin der Königin Marie Antoinette, wurden nebst tausend andern Opfern der Revolution hieher geworfen, die während zwei Tagen geschlachtet wurden. Rasch folgt in Paris das Leben dem Tode und eine Revo­lution .der andern, die den Boden aufwühlt; vielleicht find wir nicht ferne einer solchen Schreckenszeit.

(Fortsetzung folgt.)

Bäcker oder Becker.

Nach einer wahren Begebenheit erzählt.

(Fortsetzung.)

Dock bald verschwand wieder diese feierliche Stimmung wie ein Wolkenschauer, der scgenbrin- gend vorüberzicht; Scherz und Lust brachen von allen Seiten gleich goldenen Sonnenstrahlen her­vor. Hände wurden gedrückt, Küsse genommen und gegeben, Wünsche ausgesprochen, viel ge­scherzt und noch mehr gelacht. Auf allen Ge­sichtern glänzte die Freude, welche der heitere Wirth noch zu steigern versuchte. Bald forderte er die jungen Leute zu einem Chorgesange auf, bald neckte er die Mädchen und trieb ihnen durch schalkhafte Worte und Anspielungen das Blut in die ohnehin schon glühenden Wangen. Besonders war Annchen, die Schwester seiner Schwieger­tochter, sein Liebling und darum zumeist seinem liebenswürdigen Scherze ausgesetzt. Als sie ihm wie die übrigen Damen Glück zum neuen Jahre wünschte, verlangte er auch einen Kuß von ihr. -/Zwei für einen," sagte das heitere Mädchen und reichte ihm die frischen Lippen hin. Der Alte küßte sie und schmunzelte: --Schmeckst du prächtig! Weiß Gott, wenn ich noch ein junger Mann wäre, so müßte Annchen meine Frau werden und keine andere." --Väterchen!--warnte die Schwie­gertochter deö Alten mit aufgehobenem Finger, --werden Sie mir nicht ungetreu, sonst verklag ich Sie, denn Sie baden mir ja ihre Liebe zugcschwo- ren -- --Du hast schon Dein Theil,-- lachte der heitere Greis, --und bist hoffentlich mit Deinem Mann zufrieden?--Das will ich meinen,-- sagte die junge Frau und schmiegte sich an den Sohn des Herrn Laßmann, indem sie zugleich mit dankbaren Blicken dem Schwiegervater die Hand reichte. --Nun, Annchen!-- lachte von Neuem der Greis, --für Sie muß doch auch gesorgt wer­den. Schade, daß ich keinen Sohn mehr habe, denn ich bin doch zu alt für Sie. Wir müssen Ihnen einen Bräutigam noch heute Abend aus­suchen. Die Sylvesternacht ist besonders für junge Mädchen günstig Was meinen Sie, wenn wir das Schicksal fragen, wen es für Sie bestimmt hat?--Das Schicksal wird sich viel um solche Possen kümmern--, entgegnete das Mädchen rasch. --Da sieht man wieder die neumodische Auf­klärung--, eiferte Herr Laßmann.Das Schicksal kümmert sich um den kleinsten Wurm und die ge­ringste Blüthe und sollte ein Menschenherz ver­gessen? Ei, ei, Aennchen! das war nicht klug gesprochen. Zu meiner Zeit war noch der rechte Glaube, und es gab kein Mädchen, das nicht in der Sylvesternacht im Geheimen Blei gegossen hätte.-- --Das können wir auch thun,-< sagte die Schwiegertochter, die dem Alten alle Wünsche von den Augen ablas und zu gut wußte, wie sehr der Greis an den Sitten und Gebräuchen, selbst an dem unschuldigen Aberglauben seiner Jugend hing. Der Vorschlag wurde von allen Seiten mit lautem Beifall ausgenommen, und das junge Volk konnte nicht den Augenblick erwarten, um an's Werk zu gehen. Die ganze Gesellschaft begab sich in feierlicher Prozession nach der Küche, wo ein lustiges Feuer auf dem Herd noch brannte. Blei war im Hause hinlänglich vorhanden, ein blechencr Löffel wurde zum Schmelzen schnell her­beigeschafft, und ebenso eine Schüssel mit kaltem Wasser, um die geschmolzene Masse abzukühlen.

(Fortsetzung folgt.)

Redaktion, Druck und Verlag von Jak. Me eh in Neuenbürg.