Menschen in der Benutzung der Hilfsmittel, welche die Natur bietet, einen ungemeinen Fortschritt in der Erzeugung wünschenswerter Dinge für menschliches Bedürfnis, in Ortsbewegung und Austausch von Gütern über den ganzen Erdboden hin hervorgebracht. Auch den Aermsten und Niedrigsten sind damit Be­quemlichkeiten und Genüsse zu teil geworden, die früher nur den Begünstigten oder auch diesen nicht immer zugänglich waren. Die Bevölkerungszahlen steigen mit reißender Geschwindigkeit.

Alles das hat eine Lage geschaffen, welche die größten Gefahren für das sittliche und religiöse Leben mit sich bringt. Die alte gute Sitte, der Väter Brauch und Herkommen verliert sich mehr und mehr in einer Bevölkerung, die unstät und wanderlustig geworden ist, wie niemals zuvor. Die alten Tren­nungen zwischen den Bevölkerungsklaffen und Ständen sinken dahin, und die angeborene scheue Achtung vor dem an Besitz, an Bildung, an gesellschaftlichem An­sehen höher Stehenden wird kaum noch gefunden. Die Presse trägt die Gedanken einer glaubenslosen, an das Sinnliche und Natürliche gehefteten Wissen­schaft in alle Schichten des Volkes hinein. Das Leben wird immer unruhiger, der Kampf immer heißer. Die niederen Klassen werden beherrscht von der Un­zufriedenheit mit ihrem Lose und gewandte Wühler schüren diese Unzufriedenheit, teils nur an Befriedigung ihres Ehrgeizes denkend, teils von Träumen eines irdischen Reiches der Glückseligkeit erfüllt, die sich nie verwirklichen lassen. So werden die Massen, ohne Einsicht und klare Ueberlegung, für eine Bewegung und Gesinnung angeworben, die alle sittlichen Grund­lagen unseres Lebens in Staat und Gesellschaft, in Kirche und Familie Umstürzen und beseitigen möchte: die Flut, die jede Autorität und jedes Heiligtum wegzuspülen droht, schwillt jedes Jahr mächtiger und furchtbarer an.

Dazu kommen die politischen Wetterwolken im Westen und im Osten. Die Blitze, die sich dort entladen, können leicht einen Völkerbrand verursachen und unser Vaterland in Mitleidenschaft ziehen. Ueber allen diesen Besorgnissen richten wir beim Jahres­wechsel vertrauensvoll unsere Augen zu Gott empor, der bis hierher geholfen hat. Er schirme unfern Kaiser und sein Haus, die Einigkeit und nationale Gesinnung der deutschen Fürsten, die Treue und Tapferkeit des deutschen Heeres, die Sorge und Mühe aller auf die Aufrechterhaltung der Ordnung gerichteten Kräfte der Nation, er schirme die nationale Arbeit, die Abwehr der Umsturzbefirebungen und das gesamte deutsche Vaterland gegen seine äußern uud inner» Feinde. Er schirme die alte deutsche Einfachheit, Kraft und Zucht, er schirme die alte deutsche Treue. Dann wird das neue Jahr, was auch komme, ein gesegnetes Jahr für uns alle sein.

Tagesneuigkeiten.

r. Gechingen, 30. Dez. Wie wenig manche Leute von einer edlen Freude etwas wissen wollen, wie sie sogar anderen ohne alle Ursache die Freude verderben und auch den Frieden der schönen Weih­

nachtszeit vergiften, hat man schon öfter erfahren. Eine besondere Roheit mußten aber drei in Urlaub be­findliche Deufringer Soldaten in Aidlingen erfahren. Während die Soldaten in aller Ruhe in einer Wirt­schaft saßen, wurden von ihren im Nebenzimmer auf­gehängten Mänteln sämtliche Knöpfe, zum Teil mit einem Stück Tuch, herausgeschnitten und in die Taschen der Mäntel gesteckt. An einem Mantel war sogar eine Achselklappe mit einem Stück Tuch herausge­schnitten. In Gechingen wurden in der Christnacht an zwei verschiedenen Orten Fenster eingeworfen.

Stuttgart, 1. Jan. Wir haben eine böse Sylvesternacht hinter uns. Kurz nach Anbruch des Neuen Jahres verübten mehrere junge Leute, nachdem sie vorher in der Kronprinzstraße arg randaliert hatten, in der hiesigen Bahnhofrestauration II. Klasse einen derartigen Skandal, wobei sie Tische, Spiegel, Flaschen, Gläser und Stühle zertrümmerten, daß sie erst durch 4 Schutzleute unter Führung eines Polizei­inspektors sistiert und nach dem Polizeiamt abgeführt werden konnten. Nach Feststellung ihrer Personalien wurden sie wieder entlassen und drangen dann aber­mals in die Bahnhofrestauration ein um den Skandal zu erneuern, wurden aber diesmal durch Bahnhof- bedienstete und Reisende aus dem Hauptbahnhof hinausgehauen. Gegen 1 Uhr früh entstanden in der Gymnasiumstraße Raufhändet, wobei wieder einmal das Messer eine Rolle spielte. Der Sohn des Leichenbesorgers Männer erhielt einen Stich in den Kopf und wurde alsbald in den Katharinen­hospital verbracht. Der Thäter ist verhaftet. Die Stichwunde des Verletzten soll nicht lebensgefährlich sein. Im II. Polizeidistrikt (Neckarstraße und Umgebung) entstanden gleichfalls Naufhändel wo­bei einem Mann mit einem Stockhieb ein Arm ab­geschlagen wurde. Damit sind aber die Ereignisse zur Feier des Jahreswechsels" in Stuttgart leider noch nicht erschöpft. Der verheiratete Hafner Heinrich Rössler, Gartenstraße 7, der als Jagdliebhaber (!!) von der Schießerei etwas verstehen sollte, feuerte um Mitternacht 4 scharfe Revolverschüsse aus der Hinteren Seite seines Hauses und legte sodann seinen Revolver auf den Tisch in seiner Wohnstube. In der irrigen Meinung, daß der Revolver ganz entladen sei. ließ er den Hahn nochmals schnappen; der noch geladene 5. Schuß ging los und die Kugel, welche zuerst dem Schützen selbst ein Fingerglied wegriß, drang dem 9jährigen Töchterchen Rüfflers mehrere Centimeter tief in die Schläfe. Der unselige Schütze raufte sich in der Verzweiflung buchstäblich die Kopfhaare aus. Das Kind wurde sofort in einen Spital verbracht und wird zweifellos der Verletzung erliegen, da die Aerzte die Entfernung der Kugel als unmöglich bezeichnen.

E> Maulbronn. Im Bezirksorte Pinache wurde in der Neujahrsnacht eine beispiellose rohe That auf dem Friedhofe verübt. Es wurden sämtliche Grab­monumente umgeworfen und teilweise zerstört, eiserne und hölzerne Kreuze wurden herausgerissen, ins Feld hinausgeworfen, ja teilweise auf Bäume gehängt. Hoffentlich werden die rohen Thäter ermittelt und exemplarisch bestraft.

Heilbronn, 2. Jan. Im Laufe des heutige»- Tages wurden hier zwei Selbstmorde bekannt. Ein im Untersuchungsgefängnis des kgl. Landgerichts befindlicher Gefangener, welcher wegen Verbrechens wider die Sittlichkeit verhaftet war, hat sich erhängt. Ein zwischen hier und Weinsberg stationierter Bahn­wärter, welcher in ordentlichen Verhältnissen lebte und heute früh noch bei zwei Zügen seinen Dienst versah,, hat sich in seiner Stube erhängt. Eheliche Zwistig­keiten sollen hier die Schuld haben.

Börstingen-Eyach, 31. Dez. Ein schweres Unglück ereignete sich am vergangenen Freitag in dem Dr. Raydt'scheu Kohlensäurewerk. Um ^/<5 Uhr ertönte aus dem Abfüllraum des Lagerhauses ein starker Knall. Eine Kohlensäureflasche war explo­diert. Zufälligerweise befanden sich in dem ver­hängnisvollen Augenblick bloß zwei Arbeiter in dem Abfüll-Raume. Der verheiratete Arbeiter Straub erreichte noch die Thüre und kam mit leichten Ver­letzungen am Kopf und rechten Arm davon, während der 20jährige Schlosser Schmied aus Mainz augen­blicklich getötet wurde. Die explodierte Stahlflasche wurde wie eine Granate in viele Stücke zerrissen und zerschlug eine zweite gefüllte Flasche. Ein Spreng- stück schlug dem Schmied den Brustkorb ein und zer­schmetterte ihm den linken Arm. Erst nach eurer Viertelstunde hatte sich der Dunst der ausgeströmten Kohlensäure durch die zertrümmerten Fenster und die geöffnete Thüre verzogen, und nun erst konnte der arg verwüstete Raum wieder betreten werden. Eine Schuld an dem Unglück trifft keinen der Beschäftigten. Da sämtliche Flaschen auf einen Druck von 250 Atmosphären gestempelt sind, die explodierte Flasche aber nur eine Füllung von 55 Atmosphären hatte, so ist wohl anzunehmen, daß dieselbe von mangelhafter Konstruktion war. Das Werk steht einstweilen still.

Göppingen, 1. Jan. Gestern abend 7 Uhr spielte sich in der Wirtschaft z. Stadt Warschau eine grauenerregende Szene ab. Der schon seit längerer Zeit lungenleidende zeitweise geistesgestörte Eisengießer Uxa schoß anläßlich eines Wortwechsels auf seine 22jährige Stieftochter wobei derselben eine Kugel in den Hals und eine in die Brust drang. Als der herbeigeeilte Schutzmann die Thüre, welche verbarrikadiert war, sprengen wollte, schoß Uxa dem­selben ins Gesicht, worauf er sich selbst erschießen wollte, und sich eine Kugel in die Schläfe jagte. Alle 3 Geschossenen sind schwer verletzt, doch konnte bis jetzt bei keinem eine Kugel entfernt werden. Uxa wird schwerlich davon kommen, dagegen hat man Hoffnung die anderen beiden am Leben zu erhalten. Uxa hatte schon früher Mordversuche und Selbstmord­versuche verübt. Vor etwa 12 Jahren schoß er auf den Dreher Maier und wurde Hiewegen zu 1'/» Jahren. Gefängnis verurteilt. Vor etwa 1'/- Jahren wollte er sich erhängen, man kam jedoch rechtzeitig dazu und schnitt ihn ab. Kurze Zeit darauf kaufte er sich einen Revolver und ein Dolchmesser und drang in die Geschäftsräume seines früheren Arbeitgebers, des Eisengießereibesitzers Schmid ein und wollte denselben ermorden; von der zu Hilfe geeilten Polizei wurde

schnell die Bedingungen, unter denen der Schmuck wieder in ihren Besitz gelangen konnte, verbarg den üblichen Pfandschein sorgfältig in ihrer Börse und eilte fort zum Postamte, wo sie die erhaltenen zwanzig Mark mittels telegraphischer Postan­weisung an Hans in Berlin einzahlte.

Als sie alles gewissenhaft erledigt glaubte, da war eS ihr, als fiele ihr eine Centnerlast vom Herzen. Nun mußte ja alles gut werden. Wenn HanS sich be­eilte, konnte er heute Abend schon bei ihnen sein. Der Postbeamte hatte ihr ja die tröstliche Versicherung gegeben, daß der Empfänger der Postanweisung schon nach einer Stunde im Besitz des Geldes sein könne. Ihre Gedanken eilten gleichsam nut dem Telegramm nach Berlin. Stunde für Stunde berechnete sie, was HanS wohl that. Sie sah ihn im Geiste um zehn Uhr das Geld auf dem von ihm be- zeichneten Postamte mit freudig überraschtem Gesicht in Empfang nehmen. Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er sich, seit mehreren Tagen zum ersten Male wieder, mit Speise und Trank gestärkt, und schon der nächste Zug, der gegen Mittag aus Berlin über Stendal, Uelzen und Bremen der Heimat zucilte, führte ihn gewiß der Mutter und ihr zu. Wieder einige Stunden später saß Hans im traulichen Stübchen bei ihnen und erzählte, wie es ihm in den langen bösen Wochen, in denen sie nichts von ihm erfahren hatten, ergangen war. Auf dem Tische brannte der kleine Tannenbaum, den sie früh an d-r HauSthür von einem Verkäufer für einige Nickel gekauft und im Laufe d«S Vormittags heimlich in der Küche aufgeputzt hatte. Wie ihr bei all diesen Berechnungen diesem freudigen Vorausschauen vaS kleine Herz heute pochte. S>e kam sich ordentlich groß vor, denn sie hatte endlich auch einmal ein Opfer für ihn bringen können, bislang war er ja nur immer der Gebende gewesen. In ihrer freudigen Aufregung vergaß sie heute ganz die Nähmaschine und die Mahnung des Ladeninhabers, die Anfertigung der Wäschegegenstände thun- Uchst zu beschleunigen. Dagegen kramte, putzte und wischte sie eifrig in den Räumen

ihrer kleinen Wohnung umher, welchen sie in wenigen Stunden mit der ihr eigenen Geschicklichkeit und dem an ihr bekannten Schönheitssinn ein festtägliches Gewand verlieh.

Der Bäcker in der Nachbarschaft machte große Augen, als Hedwig am Nach­mittage für eine ganze Mark Kuchen und kleines Gebäck kaufte. Ec hatte das jung» Mädchen, welches er wegen seines freundlichen Wesens und seiner natürlichen Frische und Anmut besonders hochschätzte, seit Monaten nicht mehr in seinem Laden gesehen. Wohl chnte er die Ursache des Fernbleibens, und gern hätte er geholfen, aber un- gerufen mochte er sich nicht in eine fremde Angelegenheit einmischen, bei der zu be­fürchten war, daß er die beiden Beteiligten beschämen werde. Dafür gab er Hedwig heute aber vom Schönsten und Besten, was sein Laden nur barg und zwar soviel, daß Hedwig verlegen äußerte, er ine sich wohl, sie wünsche nur für eine Mark. Der Bäcker aber behauptete, sich nicht zu irren und packte ihr unter freundlichem Gespräch den Handkorb bis oben voll.

Der Tante fick das geschäftige und aufgeregte Wesen an Hedwig wohl auf, aber sie schob die Ursache desselben auf die bevorstehende Christseier, auf welche sie sich stets so außerordentlich gefreut hatte. Gewiß hatte sie sich wieder wie in früheren Jahren eine besondere Überraschung für die Stunde der Bescheerung ausgedacht, auf welche sie sich heimlich freute. Waren sie auch arm, so hatten sie bislang es doch stets noch ermöglickt, bei Ksrzenglanz und Tannenduft gegenseitig kleine Ge­schenke auSzutauschen. Um zu zeigen, wie sehr man sich liebt und wie teuer unK ein Mensch ist, bedarf eS ja bei genügsamen Seelen keiner prunkhasten Dinge; nicht der materielle Wert des Geschenkes est bei diesen der Gradmesser der Zuneigung, sondern die reine, treue Gesinnung, die liebevolle Opferfreudigkeit, die Freude am Geben, diese sind's, welche sich an solchem Abend im Hellen Lichte zeigen sollen.

(Fortsetzung folgt.)