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vor gut. Kaiser Wilhelm hat es auch in diesem Jahre nicht an Kundgebungen fehlen lassen, die den Wunsch, mit dem Czarenreiche auf bestem Fuße zu bleiben, klar und zweifellos nach St. Petersburg gelangen ließen. Daß auch an der Newa eine ausschießlich friedliche Politik befolgt wird, hat man zu bezweifeln umso weniger Grund, als unser Reichskanzler sich in Petersburg persönlich davon überzeugt hat, daß die dortigen leitenden Kreise von einer Feindseligkeit gegen Deutschland frei sind. Auch der Besuch des russischen Ministers des Auswärtigen, Fürsten Lobanow, in Berlin ist als ein Ausdruck dieser freundschaftlichen Gesinnung anzusehen. Man kann sogar behaupten, daß sich die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland gebessert haben und daß das Vertrauen der beiden Reiche zu einander befestigt ist, seit Deutschland dank der Politik des Fürsten Hohenlohe an der Seite Rußlands und Frankreichs in der ostasiatischen Frage ein Machtwort gesprochen hat.
Rußlands Interessen waren durch das aufstrebende Japan, das den chinesischen Koloß so unsanft gerüttelt hatte, arg gefährdet, aber auch in unfern handelspolitischen Beziehungen lag Grund genug vor, dem Sieger eine Mäßigung aufzuerlegen und das chinesische Festland nicht in seine Gewalt zu geben. Daß sich die neue Ordnung für Ostasien in friedlicher Weise vollzogen hat, daß das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen Frankreich und Rußland — wie von vielen Seiten befürchtet wurde — nicht die für uns sehr unerwünschte Blutstaufe im Kampfe gegen Japan erhalten hat, das ist dem Wirken der deutschen 4 Diplomatie mit zu verdanken. Daß daneben auch dem Wettbewerbe deutschen Gewerbefleißes ein weites Feld auf dem chinesischen Festlande offen geblieben ist, kann dem Fürsten Hohenlohe nicht hoch genug angeschlagen werden. Dieselbe umsichtige Politik unsers Reichskanzlers hat auch wesentlich mit dazu beigetragen, Verwickelungen in der orientalischen Frage bisher fernzuhalten.
Weniger erfreulich als der Blick nach Osten ist der auf unfern westlichen Nachbar. Mag von Deutschland, voran von unserm kaiserlichen Herrn, alles fort und fort geschehen, um den Franzosen zu zeigen, daß wir selbst ein friedfertiges Verhältnis zu ihrer Nation wollen, so schlummert doch der Chauvinismus einen gar leisen Schlaf, aus dem ihn das Wort Spionage besonders leicht aufzuschrecken pflegt. Jüngst ist dieser Skandalpatriotismus wieder lebhaft aufgeflammt, als vor dem Schwurgerichte in Bourges gegen einen Marquis von altem Adel ein Mordprozeß verhandelt wurde. Dieser endete mit Freisprechung, nicht etwa weil die Schuld des Angeklagten nicht erwiesen werden konnte, sondern weil der Hauptzeuge verdächtig war, ein preußischer Spion zu sein. Dieser Fall zeigt, wie unauslöschbar der Deutschenhaß der Franzosen ist und daß, wenn uns das internationale Gesamtbild auch mit Vertrauen auf bleibenden Frieden
in dem Jahre 1896 hoffen läßt, doch ein Teil dieses Bildes nicht ohne Trübung erscheint. Um den Deutschenhaß zu dämpfen, müssen wir wachsam und stark sein, heute, wie an jedem Tage seit Sedan. Das aber sind wir durch unser Heer, wie durch unsere Politik. Letzterer gelingt es hoffentlich auch, die kleine Spannung, die zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten eingetreten ist, bald zu beseitigen.
Tagesneuigkeiten.
* Calw, 29. Dez. Am Stephansfeiertage hielt der Liederkranz im badischen Hofe unter zahlreicher Beteiligung seine Christbaumfeier verbunden mit Gabenverlosung ab. Unter der sachkundigen Leitung von Hrn. Mittelschullehrer Müller kamen gelungene Männerchöre, Solis, Duette und Quartette zur Aufführung. Besonders hervorzuheben sind die Chöre „Die Himmel rühmen" v. Beethoven, „Wüchsen mir Flügel" v. Weinzierl, „Die Deutschen in Lyon" v. Mendelssohn, die schönen Doppelquartette „Abschied vom Walde" v. Geyer und „Grüße an die Heimat" v. Kromer, das liebliche Duett „Zieh hinaus" v. Dregert (gesungen von den Herren Buck und Störr), das ansprechende Tenorsolo „Grüßt mir das blonde Kind am Rhein" (vorgetragen von Hrn. G- Störr), das stimmungsvolle Violinsolo des Hrn. Musikdirektors Speidel und namentlich das humoristische Quartett „Die Gigerln". Alle Mitwirkenden ernteten für ihre gediegenen Vorträge reichen Beifall.
x ^ 8. Beinberg, 28. Dez. Ueber den in
diesem Blatt vor kurzem mitgeteilten Geldfund in einem Waldteil des Forstbezirks Liebenzell erfährt man, daß der glückliche Finder, Forstpraktikant Olp, letzter Tage hievon 119 ^ 60 ^ erhielt, das übrige Geld floß in die Staatskasse.
(H Deckenpfronn, 27. Dezember. Am Stephanusfeiertag hielt der hiesige Liederkranz seine Weihnachtsfeier verbunden mit einer Gabenverlosung im Hirsch hier ab. Die Abwicklung des reichhaltigen Programms, das neben prächtigen Chören auch einige komische Aufführungen enthielt, zeigte, daß der Verein sich auf der Höhe seines Könnens zu erhalten weiß. Wir wünschen demselben daher jetzt schon Glück zu seinem, Vorhaben, der Feier des 50jährigen Jubiläums im nächsten Jahr!
Stuttgart, 26. Dez. In der Christnacht wurde bei Pfandleiher Fetzer, Bachstraße 11, ein Einbruch versucht. Der Dieb hatte sich abends in das Haus geschlichen und versuchte nachts 12 Uhr, als er merkte, daß niemand mehr auf war, die vom Hausöhrn zum Laden führende Thüre mit einem Stemmeisen zu erbrechen. Durch das an einer Thür befindliche Läutewerk wurde der Ladenbesitzer aber aufmerksam und kam mit Licht herunter ohne den Dieb, welcher hinter ein großes Faß sich versteckt hatte, zu bemerken. Erst als dieser nachts 2 Uhr noch
mals die Ladenthüre zu erbrechen suchte, gelang es,,, den Einbrecher, einen etwa 27jährigen Burschen von Freudenstadt, hinter dem Faß zu ermitteln.
Stuttgart, 26. Dez. Bei der am Montag vom Prinzen Weimar bei Moeglingen abgehaltenen Feldjagd wurden 397 Hasen zur Strecke gebracht.
Bietigheim, 27. Dez. Der 13 Jahre alte Sohn des Wagners Kn oll hier machte sich heute mittag aus Langeweile an der Futterschneidmaschine eines Nachbarn zu schaffen, wobei er den Messern zu nahe kam und ihm der rechte Unterfuß vollständig abgeschnitten wurde.
Ulm, 27. Dez. Der Buchhalter bei Wieland und Cie. Osch ist am Christfest Abend beim Augsburger Thor in Neu-Ulm von dem von Kempten kommenden Zug überfahren und sofort getötet worden. Der Verunglückte wollte das Geleise in dem Augenblick überschreiten, als der Zug herankam und ihn erfaßte. Gräßlich verstümmelt wurde er von der Maschine auf die Seite geworfen; der Hilfswärter, welcher den Nachtdienst hatte, ist beim Lesen seiner Instruktion eingeschlafen und hatte die Barriere offen gelassen. — Bei Bäcker Glöckler fand am Weihnachtsabend eine Gasexplosion statt. Ein Bäckergehilfe wurde zu Boden geworfen und erlitt verschiedene Verletzungen. _
Frankfurt a. M., 30. Nov. Die Frkf. Ztg. meldet aus Konstantinopel, nach den neuesten Nachrichten aus Zeitun nahm Mustapha Rensi Pascha die Citadelle nach hartem Kampf. Zeitun selbst ist noch nicht ganz in türkischen Händen.
Berlin, 27. Dezember. Reichskanzler Fürst Hohenlohe begiebt sich heute von Schloß Podiebrad nach Wien, um, wie die „Nordd. Allg. Ztg." meldet, seinen Bruder, den Oberhofmeister des Kaisers voir Oesterreich zu besuchen und gleichzeitig dem österreichisch- ungarischen Minister des Auswärtigen, Grafen Golu- chowsky seinen Gegenbesuch zu machen.
Berlin, 27. Dez. Der frühere Kommandeur des Gardecorps, von Meerscheidt-Hüllessenr ist gestern nachmittag 3 Uhr im Alter von 70 Jahren am Gehirnschlage gestorben.
Berlin, 27. Dez. Prinz Alexander ist an einem heftigen Catarrh erkrankt, infolgedessen sich ein großer Schwächezustand eingestellt hat. Bei dem hohen Alter des Prinzen von 76 Jahren erscheint es, wie der „Lokalanzeiger" schreibt, nicht ausgeschlossen, daß die Erkrankung einen ernsten Charakter annimmt.
Berlin, 27. Dez. Die Prinzessin Friedrich Leopold ist heute vormittag 11 Uhr beim Schlittschuhlaufen auf dem bei Potsdam belegenen Griebnitz- see an der am See befindlichen Dampferanlegestelle eingebrochen. Auch ihre Gesellschaftsdame, Fräulein v. Colmar sowie den Maschinisten Hankwitz, der
seiner Prinzipäle erfreut, bis dahin hatte er niemals Not gelitten, im Gegenteil, für sein Alter schon ziemlich viel Geld verdient. Das hatte ihn mitunter stolz und übermütig gemacht, denn er schrieb jene Bevorzugungen lediglich seinen Leistungen zu und bedachte nicht, daß zu allem, was der Mensch ergreift, auch ein wenig Glück gehört. Jetzt hatte ihm das Schicksal auch einmal die ernste Seite deS Lebens gezeigt, und wahrlich nicht zu seinem Schaden. Diese kurze Zeit, in welcher ihn das Leben in die Schule nahm, sollte für ihn von höchster Bedeutung sein.
„Bitte, behalten Sie noch einige Minuten Platz, Herr Maring," bemerkte der Banquier, als er sah, daß Hans sich in freudiger Erregung zum Gehen erhob. „Wie mir Herr Rose schreibt, sind Sie schon längere Zeit stellenlos. Sie waren früher zweiter Buchhalter in einem hiesigen Bankgeschäft, nicht wahr?"
HanS bejahte, und erzählte kurz, wie es gekommen, daß er seine Stelle verloren habe und was er seitdem erlebt.
Der Banquier hörte aufmerksam zu und nickte wiederholt m t dem Kopfe. „Ja, Sie haben Recht, e» giedt in Berlin viele junge Männer, die wegen Stellenlosigkeit physisch und moralisch zu Grunde gehen und nie wieder die Kraft und Ausdauer gewinnen, sich emporzuroffen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen, und da ich noch immer «ine Schuld an Ihrem seligen Vater abzutragen habe, so frage ich Sie» ob Sie eine Stelle auf meinem Comtoir annehmen wollen. ES trifft sich gerade, daß einer meiner Buchhalter mit Beginn des nächsten Jahres sich selbstständig macht und seine Stelle bei mir verläßt. Können Sie diese Stelle zu meiner Zufriedenheit aussüllen, dann erhallen Sie zunächst 3000 Mark Salair für das Jahr und einen bestimmten Gewinnanteil des Geschäfts. Ich habe diese letztere Einrichtung aus sccialpolitischen Gründen seit einigen Jahren eingeführt, um in einer Zeit der gährenden Unzufriedenheit fast aller gegen Lohn Beschäftigten nicht zu denjenigen Arbeitgebern gerechnet zu werden, welche glauben, mck der Zahlung einer bestimmten Summe Geldes ihrer Pflicht gegm ihre Untergebenen genug gethan zu haben. Ich denke etwas höher über die Pflichten als Brotherr, und da ich nur für mich allein zu sorgen habe — meine Frau ist schon seit Jahren todt und meine einzige Tochter reich verheiratet —, so kann ich mich ganz meinem Personal widmen. Zu
meiner Freude finde ich, daß ich auf dem Wege, den ich zur Hebung der BerusS- freudigkeit und des Wohles meiner Bediensteten beschritten, den schönsten Lohn ernte."
Ob Hans die angebotene Stelle annahm! Er war kein weichlicher Mensch, als aber ihm so plötzlich von einem Manne, von dem man sonst nur Interesse für Zahlen und Course und hohe Gewinnberechnungen voraussetzen konnte, in solch freundlicher, offenherziger Weise die Beschäftigung in dessen Comptoir angeboten wurde, da rann doch, ohne daß er es merkte, eine Freudenthräne über seine magere Wange, und mit beiden Händen erfaßte er die Hand seines edlen Wohlthäters und führte sie an seine Lippen.
„Ich nehme die Stelle mit tausend Dank an, Herr Commerzienrat, gerrr unterziehe ich mich der schwersten Arbeit und gelobe hier feierlichst, allls aufzubieten, um mir Ihr Vertrauen und Ihre volle Zuversicht zu erwerben." Und mehr für sich setzte er hinzu: „O meine teure Mutter, wie wirst du dich freuen, wenn ich dir seit Langem endlich wieder eine Freudenbotschaft melden werde."
Der Commerzienrat war ein feiner Menschenkenner: Ec sah Hans auf den Grund der Seele. Er sagte sich, daß dieser junge Mensch Hallen werde, was er versprach. Wer mit solcher Innigkeit im Glück zuerst an seine Mutter denkt, der ist zu jeder guten That fährg. Er drückte HanS die Rechte. „Ich hoffe, daß Sie das Bündnis dieser Stunde nie bereuen werden."
„Und wann darf ich die Stelle bei Jhnm antrcten?"
„Wenn Sie wieder bei Kräften sind, mein lieber Herr Maring. Zunächst reisen Sie erst zu Ihrer Frau Mutter, der ich übrigens meine besten Grüße zu überbringen bitte. Gewiß wird sie, wenn Sie ihr meinen Namen sagen, sich meiner noch entsinnen; sie begleitete damals Ihren Vater auf der Fahrt, auf welcher meine Tochter von einer Sturzsee ins Meer geschleudert zu werden drohte. Warten Sie, ich werde Ihnen für ein Vierteljahr das Salair im Voraus zahlen. — Keine übertriebene Bescheidenheit, mein junger Freund, Sie werden das Geld gebrauchen können," bemerkte der alte Herr, als HanS beschämt und verlegen einwarf: „Daß er ja noch gar nichts dafür geleistet habe."
(Fortsetzung folgt.)