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obliegenden Repräsentationspflichten ausgegeben. Von persönlichen Gegnern ist in frühem Jahren wiederholt das Gerücht verbreitet worden, er habe sein Vermögen — man sollte auch zwischen den Zeilen lesen, infolge leichtsinniger Spekulationen — beim Konkurs eines bekannten Berliner Banquiers verloren. Demgegenüber wurde schon damals festgestellt, daß Graf Caprivi nie eigenes Vermögen gehabt, nie „Ar und Halm* besessen, auch nie eine Erbschaft gemacht, sondern ausschließlich vom jungen Leutnant an bis zum General von seinem Gehalt gelebt hat. Auch von dem Gehalt als Reichskanzler hat er nicht die geringsten Ersparnisse machen können. Das jetzige Reichskanzler-Gehalt, 54000 ist um die Hälfte geringer, als z. B. das der Mehrzahl der Botschafter in den Hauptstädten des Auslandes (100000 bis 150 000 ^). Aus den Reichstagsverhandlungen der letzten Jahre ist bekannt, daß der Reichstag wiederholt eine Erhöhung dieser Botschafter-Gehälter beschließen mußte, weil nachgewiesen wurde, daß die Botschafter mit ihren Gehaltsbeträgen nicht die Kosten der ihnen obliegenden Repräsentation zu decken vermochten. Der deutsche Reichskanzler hat durchweg höhere Repräsentationspflichten auszuüben, da er neben der Diplomatie und der Hofgesellschaft auch vorzugsweise zahlreiche Abgeordnete und Verwaltungsbeamte bei sich sehen muß, um die Gelegenheit zu ungezwungenem Meinungsaustausch zu geben. Graf Caprivi hat sich diesen Pflichten in der weitgehendsten Weise unterzogen; er hat nahezu täglich Gäste an seiner Tafel gehabt und ihnen in ebenso vornehmer wie gediegener Weise Gastfreundschaft erwiesen. Jeder, der auch nur einigermaßen die Kosten einer solchen Haushaltung in der Reichshauptstadt zu übersehen vermag, wird es begreiflich finden, daß bei solcher in den Dienst des Reiches gestellten Lebensweise Ersparnisse überhaupt nicht zu machen waren. Wenn es also jetzt heißt, der Graf werde demnächst seinen Ruhestand auf einem Gute bei Crossen zubringen, so kann damit nur das Gut einer seiner Nichten gemeint sein, die bei einem Neubau des Gutshauses, der in diesem Jahre vollendet sein wird, von vornherein darauf Rücksicht genommen hat, einige Zimmer einzurichten, die dem einsamen Oheim für die Tage nach seinem Austritt ein sicheres Heim gewähren sollen. Graf Caprivi hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sich auf seinen, mit so schweren persönlichen Opfern erkauften Ruhestand sehr freuen werde, und so haben seine nächsten Verwandten rechtzeitig dafür gesorgt, um ihre Anhänglichkeit und Verehrung dadurch zu bezeugen, daß sie ihm rechtzeitig ein festes Heim sicherstellten. Einstweilen aber wird Graf Caprivi den Winter über im Süden, zunächst in Montreux, zubringen.
Berlin, 5. Nov. Heute wohnte der Kaiser, der gesamte Hof und die Generalität dem Trauergottesdienste in der russischen Botschaftskapelle bei.
Auf Befehl des Kaisers war eine Kompagnie des Kaiser Alexander-Garde-Grenadier-Regiments nebst Fahnen vor dem Botschaftspalais so aufgestellt, wie 1889 anläßlich der Anwesenheit des Zaren Alexander. Nach dem Gottesdienst trat der Kaiser nebst dem Botschafter Schuwaloff und seiner ganzen Begleitung auf die Straße und ließ die Kompagnie vorbeidefilieren. Das zahlreich anwesende Publikum brach in Hurrah- rufe aus.
Berlin, 5. Nov. Nach einer Meldung der „Vossischen Zeitung" beabsichtigt der Staatsminister v. Bo etlicher zu demissionieren. Derselbe wurde heute Vormittag vom Reichskanzler empfangen.
Berlin, 5. Nov. Die neue Tabakfabrikat st euer-Vorlage ist wie die „Nat.-lib. Korr." aus zuverlässiger Quelle hört, den Einzelstaaten zugegangen und wird nächstens an den Bundesrat gelangen. Dieselbe enthält gegenüber dem vorjährigen Entwurf wesentliche Aenderungen. Zunächst ist der Mehrertrag gegen die bisherige Tabakbesteuerung auf nur 30 - 35 Millionen M. berechnet (anstatt 45 Millionen) und dementsprechend sind die Steuersätze ermäßigt. Diese betragen in dem neuen Entwurf für Zigarren, Zigaretten 25 Proz. (statt 33'/-), für Kau- und Schnupftabak 33'/- (statt 50), für Rauchtabak 50 (statt 66 2 /-). Auch die Nachsteuer ist von 9 auf 6 M. herabgesetzt. Die Jnlandsteuer fällt, wie auch im früheren Entwurf, weg, der Zoll für ausländischen Rohtabak wird in der Höhe des vorigen Entwurfs, 40 M. für 100 Klgr., beibehalten. Bei den Kontrol- vorschriften treten wesentliche Erleichterungen bei Pflanzern und Händlern ein.
Berlin, 6. Nov. Der Nordd. Allgem. Ztg. zufolge sind die neuerlichen über die Tabaksteuervorlage verbreiteten Mitteilungen, welche davon auS- gehen, daß die Vorlage bereits fertig redigiert sei, unzutreffend. Die Schlußredaktion ist noch nicht vollzogen.
Berlin, 6. Nov. Eine hiesige Korrespondenz erfährt, daß alsbald nach Eröffnung des Reichstags die Vorlage zur Bekämpfung der Umsturzbestrebungen eingebracht werde und zwar zunächst als einziger Gegenstand.
Berlin, 7. Nov. Da der verstorbene Zar Alexander L 1a suits der kaiserlichen Marine stand, werden sich zufolge der „Voss. Ztg." zu den Beisetzungsfeierlichkeiten auf Befehl des Kaisers nach Petersburg begeben: kommandierender Admiral Frh. von der Goltz, Kapitän Fischel, Kapitänlieutenant Witz leben, Lieutenant Frh. von der G«ltz und der Deckoffizier der Dacht Hohenzollern.
Stallupönen, 5. Novbr. Eine überraschende Entdeckung ist in einem Dorfe unseres Kreises gemacht worden. Der Altsizer W. hatte im Alter von über 60 Jahren den Entschluß gefaßt, nochmals in den Ehestand zu treten. Bei Bestellung
des standesamtlichen Aufgebots stellte sich aus seinem Papieren jedoch heraus, daß W. seinen Namen nicht zu Recht führen dürfe, da er außerehelich geboren ist. Infolge dieser Entdeckung mußte der betreffende Standesbeamte die gesetzliche Aufbietung und Trauung verweigern, und der heiratslustige Alte wird sich gedulden müssen, bis sein rechter Name durch gerichtliches Erkenntnis festgestellt sein wird. Falls ihm der während mehr als einem halben Jahrhundert geführte Name abgesprochen werden sollte, dürfte auch seine erste Ehe, aus der mehrere schon lange verheiratete Kinder hervorgegangen sind, ungiltig sein..
Brüssel, 5. Nov. Bei den gestrigen Stichwahlen für die Provinzialwahlen erhielten die Liberalem 74 Mandate. Die Clerikalen besitzen demnach vom 655 Mandaten 417, die Liberalen 181, die Sozialisten 57. Die klerikale Presse konstatiert nach dem gestrigen Wahlen die Wichtigkeit des Sieges der Klerikalen in Brüssel und meint, dies sei ein neues Zeichen, daß die liberale Politik verurteilt würde.
Wien, 5. Nov. Im Abgeordnetenhause widmete Präsident v. Chlumecky dem verstorbenem Zaren einen Nachruf, dessen tragisches Hinscheiden schon die allgemein menschliche Teilnahme erwecke^ Unser Kaiser beklagt den Tod des treuen und bewährten Freundes und die Völker Oesterreichs teilen das Leid, das ihren Kaiser trifft. Unvergessen wird es auch in Oesterreich bleiben, daß der Zar ein sicherer Hort des Weltfriedens war, für dessen Erhaltung er stets eingetreten ist. Europa weiß ihm dafür Dank^ und mit Recht konnte sein erhabener Nachfolger dies dem Volke verkündigen. Auch wir ehren das Andenken des Dahingeschiedenen als die Verkörperung, des Friedens. (Lebhafter Beifall.) — Der polnische Abg. Dr. Lewakowski meldet sich zum Worte. Präs.: „Ich kann das Wort nicht erteilen." Abg. Lewakowski: „Ich protestiere gegen diese Kundgebung namens deS polnischen Volkes." Große Unruhe. Die Jungczechen rufen dazwischen. Vaschaty; ruft: „Aerger wie Barbaren!" Abg. Brezowski: „Nicht einmal den Toten lassen sie ruhen!" Bian- kini: „Sie wollen ein Slave sein?" Weitere Rufe und Skandal.
Paris, 5. Nov. In der Deputiertenkammer teilte Präsident Burdeau ein Schreiben des Ministerpräsidenten Dupuy mit, welches besagt: Frankreich drückte die tiefe Bewegung der einmütigen Trauer durch spontane Kundgebungen aus, welche es dem verstorbenen Zaren erwiesen habe. Von allen Seiten kommen Zeugnisse veranlaßt durch die Erinnerung, an die dem -s Zaren gewidmete Sympathie. Nach Verlesung des Briefes fügte Burdeau hinzu: Aus der Seele beider Nationen entstamme diese gegenseitige Sympathie deren Kundgebungen mehrmals die Welt überraschten und welche geteilte Trauer ebenso wie geteilte Freude unaufhörlich stärken. Das Andenken
„Sie kam," sprach Angelika weiter, „vorher in mein Zimmer, um mir vorzuschlagen, daß ich mir heute den Thee allein servieren lassen möchte, da sie von unerträglichem Kopfschmerz und starker Fieberhitze geplagt sei. Ich fand sie aber so leidend, daß ich ihr zuredete, sich zu Bett zu legen, und ich konnte mich dann nicht entschließen, sie zu verlassen, da ihr Befinden mit jeder Minute schlimmer wurde."
Jordan mußte gute Miene zum bösen Spiel machen. Er drückte seine Teilnahme für die Kranke aus und sagte, daß er sogleich eins der Dienstmädchen zum Beistand des Fräuleins in der Pflege Dorothea'S heraufsenden und dann zum Arzt schicken würde.
Angelcka kehrte an das Bett Dorothea'« zurück. Nichts bewies Angelika'- liebenswürdigen und menschenfreundlichen Charakter wohl mehr, als daß sie sich mit solcher Bereitwilligkeit der Pflege derjenigen widmete, die ihr bis jetzt so hart und feindselig entgegengetreten war.
Als Angelika wieder in das Schlaskadinet Dorothea'S trat, drang ein leises Röcheln an ihr Ohr. Vorsichtig ging sie auf den Fußspitzen zu dem Bette hin. In den wenigen Minuten, während Angelika mit Jordan gesprochen hatte, war das Fieber der Kranken noch stärker, waren ihre Augen noch starrer geworden.
Angelika erschrak; das Totenbett ihrer Mutter trat in Gedanken vor ihre Seel« und sie fürchtete in diesem Augenblick, daß Dorothea auch sterben könne. Dieser Gedanke besiegte ihr Erschrecken; sie trat dicht an das Bett und ergriff Dorothea'S fieberheiße Hand.
„Ich bin eS." sagte sie sonst, „Angelika!"
Dorothea wandte den Kopf.
„Wünschen Sie etwas?"
„Messer!" stöhnte die Krank«, „in meinem Hals brennt es wie Feuer."
Angelika reichte ihr dar Verlangte und rückte ihr dann daS Kopfkissen zurecht, worauf sich Dorothea sckwach unv teilnahmloS zurückgleiten ließ.
Bald darauf kam daS von Jordan heraufgeschickte Mädchen, das sich nun mit Angelika in die Pflege der Kranken teilte.
Em Arzt kam nicht, denn Jordan hatte nach einem solchen gar nicht geschickt. Er ließ ungern Fremde in das Haus, selbst den Arzt betrachtete er mit Mißtrauen. Er hatte sich gesagt, daß auch am nächsten Tage noch Zeit genug wäre, ärztliche Hilfe holen zu lassen, wenn bis dahin Dorothea nicht bereits wieder gesund sein sollte. An eine ernstliche Krankheit derselben glaubte er nicht.
Um zehn Uhr erscholl im Nebenzimmer die Klingel, welche durch einen Draht mit den Gemächern, die Frau Dreßler bewohnte, in Verbindung stank Der Ton dieser Klingel riß die Kranke aus ihrer schlummerartigen Betäubung auf; langjährige Gewohnheit machte ihre Rechte geltend.
„Die gnädige Frau läutet mir," rief sie mit heiserer Stimme, „es ist Zeit für ihre Nachttoilette."
Dabei versuchte sie sich zu erheben, aber sie sank sogleich wieder schwach in die Kissen zurück.
„Regen Sie sich nicht auf, meine Liebe," suchte Angelika die Fieberkranke zu beruhigen, „Betty wird für heute Ihre Stelle bei der gnädigen Frau einnehmen."
Betty war der Name des jungen Dienstmädchens, das durch Jordan heraufgeschickt worden war. Dorothea widerspiach dieser Anordnung nicht; sie hatte sie in ihrem Fieberzustande vielleicht gar nicht vernommen. Das Dienstmädchen that wie ihm geheißen worden war und begab sich, wenn auch mit geheimer Scheu, zu Frau Dreßler.
Als Letztere nicht Dorothea, sondern die sonst fremde Dienerin eintreten sah, fragte sie schnell und ziemlich ungehalten, warum ihre alte Kammerfrau nicht käme.
„Mamsell Dorothea ist heftig erkrankt," lautete die schüchterne Antwort.
..Erkrankt?" Was fehlt ihr?"
Betty zuckte die Achseln, sie wußte über Dorothea'S Krankheit keine Auskunft zu geben.
Frcu Dreßler war so viele Jahre hindurch ausschließlich nur von Dorothea bedient worden, daß sie für dieselbe mindestens die Zuneigung der Gewohnheit empfand; Frau Dreßler erhob sich und beschloß, selbst nachzusehen, wie es um ihre alte Dienerin stände. (Forts, folgt.)